Heute in den Feuilletons

Was in Wirklichkeit nicht ist

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.01.2012. Viel Geschichtspolitik heute: Die taz wundert sich über die Esten, die Angehörige der Waffen-SS per Gesetz zu Freiheitskämpfern erklären wollen. In der Welt fragt Bernard-Henri Levy, warum Europa angesichts der faschistoiden Tendenzen in Ungarn stumm bleibt. Die NZZ besuchte eine Historikertagung zur Geschichtsschreibung in den Ländern des einstigen Jugoslawien. Die FAZ erklärt, warum Weiße Schwarze spielen dürfen. Und in Telerama klagt George Steiner: "Wir haben keinen Balzac, keinen Zola mehr."Außerdem: die amerikanischen Techblogger proetestieren gegen den neuesten Coup von Google: die Integration der Suche mit Google Plus.

TAZ, 11.01.2012

Die Tagesthemenseiten beschäftigen sich mit Estlands Aufarbeitung seiner tragischen verwickelten Geschichte. Reinhard Wolff berichtet, dass dort einstige Angehörige der Waffen-SS per Gesetz zu Freiheitskämpfer erklärt werden sollen. "Estlands Verteidigungsminister Mart Laar zeigt sich entschlossen, die kontroverse Vorlage durchzudrücken: Es sollten alle geehrt werden, die für die Befreiung Estlands gekämpft hätten - und es gebe keinen Grund, dabei die Gruppe der SS-Leute auszuschließen. Auch diese hätten für die Befreiung von der Roten Armee gekämpft."

In einem zweiten Text erklärt Wolff, warum rund 25.000 Esten in der SS kämpften, der überwiegende Teil davon freiwillig: "Der Antrieb, sich SS oder Wehrmacht anzuschließen, resultierte aus Hass gegen die Russen, die bei der Annektion Estlands teilweise rücksichtslos und gewaltsam vorgegangen waren und Tausende Esten nach Sibirien deportiert hatten." William Totok konstatiert, dass sich in ganz Osteuropa revisionistische Geschichtsbilder ausbreiten.

Rezensionen im Kulturteil: Besprochen werden Phyllida Lloyds Maggie-Thatcher-Porträt "The Iron Lady" (der laut Julia Große vor allem Linke vor eine schwere Prüfung ihrer politischen Standfestigkeit stellt), David Finchers Film-Remake von Stieg Larssons "Verblendung" und Robert Bobers Rückblick "Wer einmal die Augen öffnet".

Und Tom.

Aus den Blogs, 11.01.2012

(Via paidcontent.org) In der amerikanischen Blogosphäre regt sich heftiger Widerstand gegen Googles immer stärker bervormundenden und personalisierenden Zugrif aufs netz. Nun integriert der Konzern seine Suche mit Suchergebnissen aus Google Plus. Der Techblogger Paris Lemon fragt: "How on Earth is Google going to avoid antitrust inquiries with their new Search+ features announced today? If Facebook, Twitter, etc, have any decent presence in DC, the ball began rolling a few hours ago. This is the type of case that Senators die for. Google wrapped it in a bow and placed it in one of their laps."
Stichwörter: Google, Paris, Google Plus

Welt, 11.01.2012

Die Welt scheint jetzt regelmäßig Bernard-Henri Levys aus Le point bekannte Kolumne zu übernehmen. Heute fragt er, warum Europa sich nicht gegen die faschistoiden Tendenzen in Ungarn wehrt und malt eine paneuropäische Europahassbewegung an die Wand: "In diesem Moment, wo jeder mit jedem kommuniziert und wo ein dünner, aber enger Draht jemanden wie Marine Le Pen mit irgendeinem Extremistenführer in Thüringen, Flandern, Norditalien oder eben mit Viktor Orban verbinden kann, da ist es nicht unvorstellbar, dass sich in Europa eine wachsende Zahl von Leuten findet, die in diesem ungarischen Laboratorium die Umsetzung ihres immer weniger geheimen Projektes erkennen: Europa loszuwerden."

Im Feuilleton wendet sich Dankwart Guratzsch gegen das durch das Stichwort "Urban Gardening" neu belebte Konzept der "Grünen Stadt": "Folgt man dem Pionier des ökologischen Bauens in Deutschland, dem Münchner Architekten Thomas Herzog, ist die Antwort leicht. Nicht das Stadtgrün, sondern die städtische Dichte entscheidet darüber, wie viel Energie in einem Siedlungsgebilde gespart oder verpulvert wird."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr berichtet von der ersten Pressekonferenz des neuen Leiters der Berliner Festspiele, Thomas Oberender. Ekkehard Kern stellt die neue Zeitung Jewish Voice from Germany vor, die von Rafael Seligman gemacht wird. Matthias Heine berichtet über eine Facebook-Debatte auf der Seite des Schlosspark-Theaters in Berlin: Dieter Hallervorden hat dort in einer Komödie die Rolle eines Schwarzen mit einem Weißen besetzt, Afrodeutsche und antirassistische Gruppen betrachten das als Rassismus. Alan Posener geißelt in seiner Kolumne J'accuse neueste Züchtungs-Analogien und genetische Diskurse, mit denen Thilo Sarrazin in einer jüngst gesendeten Fernsehdokumentation seine Thesen untermauern wollte.

Besprochen wird eine große Artemisia-Gentileschi-Ausstellung in Mailand.

NZZ, 11.01.2012

Andreas Ernst berichtet von einer sehr interessanten Historikertagung zur Geschichtsschreibung in den Ländern des einstigen Jugoslawiens. Trotz vieler neuer und ergiebiger Sichtweisen machte sie deutlich, wie notwendig eine über den nationalen Tellerrand gehende Forschung wäre: "Dabei liegt es auf der Hand, dass die Geschichte Jugoslawiens nur 'multiperspektivisch', das heißt durch die Erschließung von Quellen aus verschiedenen Ex-Republiken, erarbeitet werden kann. Wie in vielen anderen Bereichen fehlt es in diesen Ländern nicht an brillanten Köpfen, aber an der Organisation dieser Kapazitäten zu einem 'System'. Stattdessen verpuffen oft die Anstrengungen von vereinzelten Forschern in einem gesellschaftlichen Kontext, der stark an nationaler, hagiografischer Geschichtsschreibung interessiert ist."

Weiteres: Die Publizistin Wei Zhang beschäftigt sich mit den literarischen Karrieren chinesischer Autoren wie Ha Jin oder Li Yiyun, die für ein westliches Publikum über chinesische Themen schreiben, aber weder über westliche Themen noch für ein chinesisches Publikum. Besprochen werden Werner Herzogs 3D-Dokumentation "Die Höhle der vergessenen Träume", Richard Cobbs Studie über Selbstmorde um 1800 "Tod in Paris", Ilija Trojanows Roman "EisTau" und Krisztina Toths Erzähldebüt "Strichcode" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 11.01.2012

(via ald) Weder Literatur noch Philosophie stehen derzeit in Blüte, meint George Steiner im Interview mit Telerama (von Presseurop ins Deutsche übersetzt): "Die Literatur hat sich für die kleinen, persönlichen Beziehungen entschieden. Sie hat es nicht mehr in sich, die großen metaphysischen Themen anzusprechen. Wir haben keinen Balzac, keinen Zola mehr. Diesen Genies der 'Comedie humaine', der menschlichen Komödie, entging nichts. Auch Proust brachte eine unerschöpfliche Welt hervor, und Ulysses von Joyce steht Homer noch ganz nahe... Joyce ist das Scharnier zwischen den beiden großen Welten, zwischen Klassik und Chaos. Früher konnte sich auch die Philosophie als universell bezeichnen. Die ganze Welt war für die Denkweise eines Spinoza offen. Heute bleibt uns ein riesiger Teil des Universums verschlossen. Unsere Welt verkleinert sich. Die Naturwissenschaften sind für uns unerreichbar geworden. Wer versteht schon die neuesten Abenteuer der Genetik, der Astrophysik, der Biologie? Wer kann sie dem Laien erklären?"

FR/Berliner, 11.01.2012

Die Medien haben sich in der Sache Wulff nichts vorzuwerfen, findet Ulrike Simon. Wer die Rolle der Bild-Zeitung beklagt oder von einer Hetzjagd spricht, an der sich von FAZ bis Spiegel alle beteiligt haben, muss sich mal eins klarmachen, so Simon: "Keiner hat Christian Wulff gezwungen, bei Springer wegen der zu erwartenden Berichterstattung zu intervenieren."

Im Feuilleton unterhält sich Birgit Walter mit dem Musical-Unternehmer Maik Klokow über Chancen und Risiken privater Theater. Thomas Oberender hat sich auf seiner Pressekonferenz als neuer Intendant der Berliner Festspiele ziemlich gut geschlagen, meint Harald Jähner. Robert Kaltenbrunner wirft einen Blick auf einige moderne Bauwerke in der Oberpfalz.

Besprochen werden David Finchers Verfilmung des Stieg-Larsson-Krimis "Verblendung" und Sherko Fatahs Roman "Das weiße Land" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 11.01.2012

In Amerika ist das Blackfacing - also das schwarz Schminken eines weißen Schauspielers - heute als rassistisch verpönt, schreibt Hadija Haruna anlässlich des Streits um Dieter Hallervordens bemalten Schauspieler in der "Rappaport"-Inszenierung am Berliner Schlossparktheater. "Doch die rassistische Maskerade ist kein rein amerikanisches Stilmittel. In der britischen und französischen Kultur gilt sie als Ausdruck des Rassismus in der Kolonialzeit. 'Auch in Deutschland ist Blackfacing einer eigenen Tradition gefolgt, die rassistische Hintergründe hatte', sagt Kulturwissenschaftlerin Piesche. Karikierende oder stereotypisierende Darstellungen von Afrikanern gehören beispielsweise zur frühneuzeitlichen Karnevalstradition."

Auf den Vorwurf, seine Ideen zu den Berliner Festspielen seien eigentlich nichts Neues, antwortet der frischgebackene Intendant Thomas Oberender keck: "Ja, das Neue - wer liest Ihre Artikel von gestern? Wir schaffen uns ab, um uns neu zu erfinden."

FAZ, 11.01.2012

Gerhard Stadelmaier mokiert sich über eine auf Facebook geführte Debatte über Dietrich Hallervorden, der sich in seinem Schlosspark-Theater erfrecht hat, die Rolle eines Schwarzen durch einen Weißen zu besetzen - und teilt den entfesselten Moralisten ein paar Wahrheiten übers Theater mit: "Das Theater zeigt wirklich, was in Wirklichkeit nicht ist. Also: Hamlet stirbt wirklich (möglichst glaubwürdig) auf der Bühne - aber in Wirklichkeit verbeugt er sich nach der Vorstellung, trinkt in der Kantine ein Bier, fährt mit der Straßenbahn hach Hause, um am nächsten Abend wieder wirklich zu sterben."

Weitere Artikel: Die Weltrevolution wird nun doch vertagt - zumindest bricht das Berliner Occupy-Camp seine Zelte ab, berichtet Leander Steinkopf. Lena Bopp berichtet von Umstellungen auf der Spiegel-Bestsellerliste, die Konsequenzen für den Handel haben wird: Broschierte Bücher, etwa aus der dtv-Premium-Reihe, werden nunmehr den Taschenbüchern zugeordnet. Eine ganze Seite beschäftigt sich mit dem Modebegriff der "Entschleunigung": Swantje Karich bespricht die Ausstellung "Die Kunst der Entschleunigung - Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei" in Wolfsburg. Und Christian Geyer meldet in einem kleinen Essay starke Zweifel am "Entschleunigungsmythos" an, den für ihn vor allem der Soziologe Hartmut Rosa verbreitet. Jürgen Kesting schreibt den Nachruf auf den Klaviervirtuosen Alexis Weissenberg.

Besprochen werden David Finchers Neuverfilmung von Stieg Larssons Verschwörungsthriller "Verblendung", Carl Sternheims "Heldenleben"-Trilogie in am Staatsschauspiel Hannover und Bücher, darunter eine Ausgabe mit Beckett-Drehbüchern (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 11.01.2012

Zwei kürzere Artikel befassen sich mit Thomas Oberender, dem neuen Intendanten der Berliner Festspiele: Lothar Müller schaut sich in dessen Biografie in der DDR um, Stephan Speicher hat sich unterdessen auf Oberenders erster Pressekonferenz über dessen Umstrukturierungspläne informiert und resümiert: Oberender beginne "mit einigen Ideen, doch ohne das Versprechen großer Umwälzungen. ... Nach seiner Leitlinie gefragt, antwortete er, 'ich bin misstrauisch gegen ein Gesamtmotto'."

Weitere Artikel: Andreas Zielcke blickt auf zehn Jahre Guantanamo. Christoph Stutz informiert über Bedenken in Italien, dass die privat finanzierte Restauration des Kolosseums womöglich nicht fachmännisch durchgeführt werde. Frohlockend führt Alexander Menden durch die sorgfältig renovierte Scottish National Portrait Gallery in Edinburgh. Skeptisch besichtigt Laura Weißmüller das Königliche Opernhaus in Oman, das erste Opernhaus überhaupt auf der arabischen Halbinsel. Thomas Kirchner besucht den Schweizer Comiczeichner Zep, dessen Flegel Titeuf die ganze französischsprachige Welt erlegen ist. Wolfgang Schreiber schreibt den Nachruf auf den Pianisten Alexis Weissenberg.

Besprochen werden neue Pop-CDs, David Finchers Neuverfilmung von Stieg Larssons "Verblendung", David Böschs "Kleiner Mann - was nun?" am Schauspielhaus Bochum sowie die deutsche Werkausgabe des russischen Dichters Daniil Charms (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).