Heute in den Feuilletons

Demontage des Illusions-Korsetts

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2011. In der FAZ sagt der Klimaforscher Hans von Storch einen Klimawandel in der Klimaforschung an. In der FR erinnert Regisseur Thomas Heise daran, dass wir schon vor zwanzig Jahren über die neue rechtsextreme Szene in Deutschland informiert waren.  Die SZ möchte kein Halal-Netz im Iran. Foreign Policy bringt eine aktuelle Ai-Weiwei-Bilderstrecke. DSK-Gate? Die NYRB fragt, ob DSK Opfer einer Verschwörung wurde. Viele Medien greifen das Thema auf. Die New Republic ist kritisch mit dem in Deutschland sehr gefeierten Maurizio Cattelan

Weitere Medien, 29.11.2011

Edward Jay Epstein hat für die New York Review of Books weiter in der Affäre Dominique Strauss-Kahn recherchiert. Er hält eine Verschwörung nicht für unwahrscheinlich und beißt sich an zwei Punkten fest: Warum tanzen zwei Sicherheitsleute des Sofitels auf dem Hotelflur vor Freude, als die Zimmerfrau Nafissatou Diallo ihre Aussage macht? Und wo ist DSKs BlackBerry? "Laut verschiedener, DSK nahestehender Quellen hatte er an diesem Morgen eine SMS von einer Freundin aus Paris erhalten, die zeitweilig im Pariser Büro der UMP arbeitete, Sarkozys Mitte-Rechts-Partei. Sie warnte DSK, der in den Umfragen gerade an Sarkozy vorbeizog, dass mindestens eine private E-Mail, die von seinem BlackBerry an seine Frau Anne Sinclair geschickt worden war, in den UMP-Büros in Paris gelesen worden war. Es ist nicht klar, wie die UMP-Büros an diese Mail gekommen sein könnten, aber wenn sie von seinem IWF-BlackBerry kam, hatte er Grund anzunehmen, dass er in New York unter elektronischer Bewachung stand." (In einer Fußnote erklärt Epstein, dass er und die Redaktion die Namen der Quellen kennen.)

Jed Perl, Kunstkritiker des New Republic, ist sichtlich abgestoßen von der - auch in Deutschland - viel gefeierten Mauricio-Catellan-Show im Guggenheim und dem, was sie repräsentiert: "Cattelan is at the Guggenheim because the big money in the art business is behind him. The other day, one of his minor works, a miniature model of two elevator doors, sold for just over a million dollars at Christie?s. (It comes in an edition of ten, one of which is hanging on Fifth Avenue and 89th Street.) And that was one of the more modest prices at Christie?s contemporary sale on November 8, where a Robert Gober Prison Window went for $3.3 million and a 1961 Roy Lichtenstein for $43.2 million. The collector Eli Broad was quoted, at the end of the auction, explaining that 'People would rather have art than gold or paper.' To which it seems to me the only response is that people who have millions of dollars to spend on a Cattelan, a Gober, or a Lichtenstein are not what used to be known as 'the people.'"

(via ald) Wie Amazon niemals sagen würde: Dieser Artikel könnte eine sehr kleine Gruppe von Menschen interessieren, denen die Namen der Musikkritiker Paul Nelson (Rolling Stone) und Ellen Willis (New Yorker) aus den sechziger und siebziger Jahren etwas bedeuten. Zwei Bücher mit ihren Kritiken sind herausgekommen, die Robert Christgau in der Barnes and Noble Review bespricht.

Welt, 29.11.2011

Die Deutschen erleben gerade, was es heißt, eine mächtige Nation zu sein: Man ist allseitig belauert und verhasst, und die Briten sagen wie eine Aufziehpuppe das "Vierte Reich" an (Richard J. Evans rückte das letzte Woche im New Statesman wieder gerade). "Das geschieht den Deutschen recht", findet Clemens Wergin und zieht eine Parallele zum auch in Deutschland gepflegten Antiamerikanismus: "Bisher galt: Die Amerikaner sollen den größten Teil der Rüstungsausgaben der Nato-Länder bestreiten, aber mitreden wollen natürlich alle, wie diese Militärmacht eingesetzt wird. Die Rechnung ging weitestgehend an den US-Steuerzahler. Nun gilt in Europa: Die Deutschen sollen zahlen, aber bitte keine Ansagen machen. Das wäre dann doch irgendwie zu dominant."

Im Feuilleton feiert Tim Ackermann eine große Ausstellung über Los Angeles in der Kunst im Getty-Museum (die nächstes Jahr im Gropiusbau präsentiert wird). Matthias Heine kommentiert Occupy-Wall-Street-feindliche Kommentare des Kult-Comiczeichners Frank Miller. Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod des britischen Filmregisseurs Ken Russell.

Schön grell - die Begräbnisszene aus Russells Mahler-Film:



Besprochen werden Tankred Dorsts "Merlin" in Zürich und eine "Carmen" an der Komischen Oper Berlin.

NZZ, 29.11.2011

Auf der Medienseite berichtet Joseph Croitoru, wie die israelische Regierung linke Radiosender schließen lässt und ungenehme Journalisten des öffentlichen Fernsehens feuern lässt. "Israels Journalisten haben angesichts dieser Entwicklung Alarm geschlagen. Am Sonntag vor einer Woche reisten einige hundert von ihnen zu einer in Tel Aviv abgehaltenen 'Notversammlung für Medienfreiheit' an, auf der nicht nur heftige Kritik an der Medienpolitik der Regierung geäußert wurde. Die Medienvertreter gaben sich auch selbstkritisch: Bisweilen habe man sich von Politikern instrumentalisieren und sogar gegeneinander ausspielen lassen." Einen Tag nach dem Journalistentreffen beschloss das Parlament eine Verschärfung des Verleumdungsgesetzes.

Als eine der radikalsten Selbsterforschungen der letzten Jahre würdigt Andrea Köhler Joan Didions Buch über den Tod ihrer Tochter "Blue Nights": "So entpuppt sich, was zunächst als Litanei der Trauer erscheint, zuletzt als schonungslose Demontage des Illusions-Korsetts, das man gemeinhin den Alltag und in der Summe die eigene Biografie nennt. Mehr noch als um den Verlust der Tochter geht es um die Demütigung des Älterwerdens, um das Gefühl der Vergeblichkeit und das Näherrücken des Endes."

Weiteres: Patricia Grzonka stellt Wiens neues 21er Haus vor, das in Karl Schwanzers ehemaliger Weltausstellungspavillon nun die Kunst des 21. Jahrhunderts beherbergt. Aldo Keel berichtet, dass Reykjavik seinen Mittelalterdom rekonstruieren will. Georges Waser schreibt zum Tod des britischen Regisseur Ken Russell.

Besprochen werden Christoph Marthalers Inszenierung "Lo stimolatore cardiaco" im Theater Basel und Heinz-Gerhard Frieses Kulturgeschichte "Die Ästhetik der Nacht" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages).

FR/Berliner, 29.11.2011

Der Filmregisseur Thomas Heise, der 1992 und 2000 in zwei Filmen rechtsradikale Jugendliche in Halle porträtierte, erinnert daran, dass wir dank dieser Filme eigentlich schon ziemlich lange über den Rechtsextremismus in Deutschland informiert sind: "'Die Protagonisten ahnen, dass sie in der Wertschätzung einer Gesellschaft, deren Regeln sie nicht mehr durchschauen, längst als Bodensatz auf gleichem Fuß mit den Fremden stehen und versuchen, dieser Erkenntnis mit dem verzweifelten Insistieren auf dem eigenen Deutschtum zu trotzen. Diese Welt scheint Lichtjahre von dem Deutschland entfernt, an dessen Bankschaltern sich Millionen um Wertpapiere balgen - in der Hoffnung so ihrer Identität als doppelt freie Lohnarbeiter zu entfliehen.' Das kann man in der Berliner Zeitung am 24. Juni 2000 zu 'Neustadt. (Stau - der Stand der Dinge)', meinem zweiten in Halle an der Saale gedrehten Film über die erwachsen gewordenen jungen Leute lesen."

Hier ein Ausschnitt aus dem Film:



Auf der Medienseite stellt Jan Söfjer ein neues Reportage-Magazin vor, dass der Schweizer Journalist Daniel Puntas Bernet gegründet hat. "Nun ist die erste Ausgabe erschienen: sieben Reportagen auf 100 Seiten plus einige kleinere Texte. Das Heft erscheint alle zwei Monate im robusten A5-Leineneinband für 15 Euro und liegt in Bahnhofsbuchhandlungen aus. Auf reportagen.com können die Ausgaben im Online-Abo günstiger als eBook und Hörbuch bezogen werden, derzeit sind die Reportagen zum Zuhören sogar gratis." Hier das Inhaltsverzeichnis.

Weitere Medien, 29.11.2011

Foreign Policy bringt eine aktuelle Ai-Weiwei-Bilderstrecke.

(Via turi2) Das Wall Street Journal nennt erstmals den Termin für den Börsengang von Facebook: zweites Quartal 2012: ""The company is exploring raising $10 billion in its IPO-what would be one of the largest offerings ever-in a deal that might assign Facebook a $100 billion valuation, a number greater than twice that of such stalwarts as Hewlett-Packard Co. and 3M Co."

TAZ, 29.11.2011

Auch auf der Kunstmesse Contemporary Istanbul hat Ingo Arend die türkischen Großmachtambitionen zu spüren bekommen: "Es war mehr als Zufall, dass CI-Generalkoordinator Hasan Bülent Karaman zur Eröffnung der 'New Art Destination' Istanbul als 'Hauptstadt dreier Imperien' pries." Sabine Leucht berichtet mäßig beeindruckt von Helene Hegemanns Auftritt mit ihren Freunden beim Spielart-Festival. Im Gespräch mit Stefan Reinecke schildert der Soziologe Andreas Willisch, wie sich die ökonomischen Kränkung des Osten in einer Stadt wie Wittenberge festgefressen hat.

Besprochen werden Alvis Hermanis Inszenierung von Puschkins "Eugen Onegin" an der Schaubühne in Berlin und Rainer Becks Studie zum Kinderhexenprozess "Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 29.11.2011

Bemerkenswert selbstkritisch der Vortrag des Klimaforschers Hans von Storch zum achtzigsten Geburtstag seines Kollegen Klaus Hasselmann - die Klimaforschung habe sich in der Falle ihrer gesellschaftlichen Relevanz verheddert: "Die Einbettung von Wissenschaft in einen gesellschaftlichen Kontext wird zum Gefängnis, wenn die Nützlichkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse für eine bestimmte Politik in den Vordergrund tritt, die Angst vor vermeintlichem Missbrauch durch politische Feinde die Feder führt. Dann werden einige Gedanken inopportun und a priori unplausibel, aber andere opportun und a priori plausibel."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko kommentiert das Votum für Stuttgart 21 als Niederlage des Denkmal- und Naturschutzes und fürchtet Ödnis auf frei werdenden Gleisflächen. Gerhard Stadelmaier mokiert sich über Alte-Musik-Anhänger, die gegen ein von der EU geplantes Verbot von Darmsaiten protestieren und hätte gegen ein Verbot der ganzen Bewegung wohl nichts einzuwenden (mehr zu dem Thema im Blog des Geigenbauers Dmitry Badiarov und in einem Artikel der Daily Mail). Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des britischen Filmregisseurs Ken Russell, der einst für seine Musikerfilme berühmt war. Auf der Medienseite stellt Nina Rehfeld den Autor Jeff Kinney vor, dessen erfolgreicher Comic "Gregs Tagebuch" verfilmt und als Fernsehserie herausgebracht wird. Peter Geimer folgte einem Vortrag des Künstlers Thomas Hirschhorn, der gern extrem grausame Bilder zeigt, die von Medien zensiert werden.

Besprochen werden die Maurizio-Cattelan-Retro im New Yorker Guggenheim-Museum, Pirandellos "Man weiß nicht wie" in der Regie Roberto Ciullis in Mülheim und Bücher, darunter ein Bildband über den vor zehn Jahren verstorbenen Beatle George Harrison.

SZ, 29.11.2011

Elisabeth Kiderlen hat sich auf der oppositionellen Berliner Konferenz "Inside Iran" einige Beiträge zur Netzpolitik des Landes angehört und dabei auch einige Kuriositäten aufgeschnappt: "Derzeit wird überlegt, ob man ein 'halal'-Netz aufbauen soll (das Wort 'halal' ist dabei mit 'koscher' gleichzusetzen), also ein systemkonformes, überwachtes Internet, dessen Ausdehnung auf das Gebiet der Islamischen Republik beschränkt und vom World Wide Web abgetrennt ist." In der Jungle World hat Carl Melcher eine sehr detaillierte Reportage über die Konferenz geschrieben.

Weitere Artikel: Mit ihren kontroversen Vorschlägen zur Reform des Urheberrechts stellen sich die Grünen "erneut an den Beginn einer Entwicklung, die heftige Auseinandersetzungen nach sich ziehen wird", glaubt Dirk von Gehlen und freut sich: "Die Debatte kann beginnen". Kia Vahland berichtet, wie Konzerne und Investoren öffentlichen und damit kulturhistorisch relevanten Raum in Venedig und Rom aufkaufen. Beim Bach-Konzert von Leon Berben hat Michael Stallknecht "die ungeheure Sinnlichkeit im Denken des alternden Johann Sebastian" erfahren. Sehr knapp fällt Fritz Göttlers Nachruf auf den 84jährig verstorbenen Regisseur Ken Russell aus (mehr Stimmen dazu hier).

Besprochen werden ein Konzert des Komponisten Alexandros Karozas in Wien, Alvis Hermanis Inszenierung von Puschkins "Eugen Onegin" an der Schaubühne in Berlin, das neue Album der Hip-Hop-Band Freestyle Fellowship, das Jonathan Fischer restlos begeistert zum "Meisterwerk" erklärt, und Bücher, darunter eine die neue Studie des Soziologen Hans Joas zum Ursprung der Menschenrechte (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).