Heute in den Feuilletons

Ein Sturm und eine Flaute zugleich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2011. Nieder mit dem 3D-Kino, das keine Farben und keine Perspektive und nur einen Standpunkt kennt, ruft Fritz Göttler in der SZ. Zwei Dinge braucht Europa, meint der Tagesspiegel: weniger Kapitalismus und mehr Musil. Europa kommt ins Museum, meint dagegen Walter Laqueur in der Welt. In der taz schimpft Heinz Bude auf den ethnisch homogenen Prenzlauer Berg. In der FAZ droht  Petros Markaris seiner Tochter mit Enterbung. Die NZZ fragt, was Paris fotografieren heißt.

Tagesspiegel, 12.11.2011

Zwei Dinge braucht Europa, meint Tomasz Kurianowicz in einem kleinen Essay zur aktuellen Krise, die Abschaffung des Kapitalismus und Literatur: "Wie wir wurden, was wir sind: Eine stärkere Besinnung auf die Geschichte Europas tut not. Die Literatur kann einen dabei als riesiges Erinnerungsgefäß vor Dummheiten bewahren. Robert Musils Aufsatz 'Das hilflose Europa - oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste' aus dem Jahr 1922 ist voll von historischen Parallelen. Musil nennt Europa ein 'babylonisches Narrenhaus'; seine Analysen treffen auch auf den jetzigen Zustand des Kontinents zu..."
Stichwörter: Europa, Musil, Robert

Welt, 12.11.2011

In der Literarischen Welt sagt Walter Laqueur dem Europa, wie er es kannte, leise Servus: "An seine Stelle wird etwas zwischen Regionalmacht und Museum treten." Und woran liegt's? "Zu behaupten, dass Europa faul geworden sei, wie es kürzlich der Historiker Niall Ferguson getan hat, ist unfair. Und doch: Europa hat den Blick nach innen gewendet, ist lethargisch geworden. Dem Kontinent fehlt es an Neugier und Unternehmungslust. Es ist nichts verkehrt daran, das Leben genießen zu wollen, aber es ist beunruhigend, wenn mit diesem Wunsch ein mangelndes Interesse an der Zukunft einhergeht."

Besprochen werden u.a. Steven Pinkers Zivilisationsgeschichte "Gewalt", Hans-Dieter Gelferts Dickens-Biografie "Der Unnachahmliche", Neuübersetzungen von "Oliver Twist" und "Große Erwartungen", Wolfgang Herrndorfs Roman "Sand", Jürgen Habermas' Essay "Zur Verfassung Europas" und ein Fotoband von Annie Leibovitz über "Pilgrimage".

Im Feuilleton unterhält sich Jan Küveler mit dem amerikanischen Singer-Songwriter Bill Callahan, der gerade auf Deutschlandtournee ist. Sascha Lehnartz liest mit Sympathie BHLs Buch über den Libyenkrieg "La Guerre sans l'aimer". Laura Ewert berichtet von der Bambi-Verleihung: "Uschi Glas wird mit Herrn Genscher fotografiert, Maria Furtwängler sagt, dass sie sich selbst geschminkt habe." Hanns-Georg Rodek geht mit dem Filmkomponisten Hans Zimmer essen.

Besprochen werden das Bühnenmodul "100 Prozent Köln" unter der Regie von Rimini Protokoll und eine Aufführung von "La Source", einer vom Pariser Opernballett wiederentdeckten 145 Jahre alten Choreografie.

TAZ, 12.11.2011

Jan Feddersen und Peter Unfried sprechen mit Heinz Bude über Bildung (erst ab Dienstag online). Er hat auch eine kleine Geschichte über den Prenzlauer Berg zu erzählen: "In Berlin-Prenzlauer Berg sagte man mir: 'Bildungspanik? Das reden Sie den Leuten nur ein, Herr Bude.Wir sind hier ganz entspannt.' Ich sage: 'Wie ist das denn mit den Ausländern?' - 'Haben wir gar nicht.' (...) Prenzlauer Berg ist Apartheid, die noch nicht mal weiß, dass sie Apartheid ist. Das ist auf Dauer auch für die Kinder nicht gut: Die müssen lernen, mit Kindern zusammenzuleben, die anders als sie sind."

Außerdem: Robert Misik befasst sich in einem Essay anlässlich der Griechenlandkrise mit Wesen und Problemlage der Solidarität, die er von Begriffen der Nächstenliebe und Mildtätigkeit abgehoben sehen will. Carla Baum stellt die gegen Homophobie im Reggae gerichtete Kampagne "Make some noise" vor. Ines Kappert unterhält sich mit dem ägyptischen Filmemacher Marwan Hamed über die Situation in Ägypten kurz vor dem Wahlen und warum dort derzeit kaum ein Film zu drehen ist.

Es werden eine Menge Bücher besprochen, darunter Ian Kershaws Studie "Das Ende" (mehr hier) über die Gründe der deutschen Nibelungentreue zu Adolf Hitler (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

FR/Berliner, 12.11.2011

Manfred Schwarz ist entzückt von der großen Leonardo-Ausstellung in London. Die beiden "Felsgrottenmadonna"-Fassungen geben ihm sozusagen live Aufschluss über Leonardos künstlerischen Weg: "Wie etwa die minuziöse Beobachtung der sichtbaren Welt und ihre zwar haarfeine, aber auch überaus frische und klare Beschreibung, die er in Florenz (und durch die alten Niederländer) gelernt hat, bei der späteren Fassung einem mehr aufs Erhabene und Metaphysische zielenden, am klassischen Maß orientierten Modus weicht."
Stichwörter: Florenz

Weitere Medien, 12.11.2011

Stephen Colbert setzt Michael Stipe von REM auf ein Buchregal und holt sich Brian Eno zum a capella Singen dazu - großartig:

The Colbert Report

Stichwörter: Eno, Brian, Colbert, Stephen

NZZ, 12.11.2011

Der Kunsthistoriker Gregor Wedekind nimmt die Ausstellung "Eyes on Paris" in den Hamburger Deichtorhallen zum Anlass für einen Essay über die Paris-Fotografie: "Paris fotografieren heißt, jene moralische Physiognomie von Paris im Medium der Fotografie zu erfassen suchen. Erst dann entsteht eine Fotografie, die nicht lediglich in Paris entstandene Fotografie ist, sondern Paris-Fotografie im eigentlichen Sinne. Dieser Fotografie sind die Gebäude und Objekte im urbanen Raum immer nur Verdinglichungen von Nichtmateriellem wie Atmosphäre oder Lebensgefühl, Substrate jener unendlich vielfältigen Anschauungsformen, die den Existenzraum der großen Stadt Paris bis in die letzten Winkel durchdringen."

Weiteres: Angela Schader stellt drei Bücher über die Kunst des Erzählens für den unakademischen Leser vor: von James Wood, Harold Bloom und David Lodge (Bloom und Lodge sind allerdings vergriffen.) Besprochen werden mehr Bücher, darunter ein Band mit Interviews aus der Paris Review (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Was will der Wutbürger, fragt Martin Meyer im Feuilleton. Georg Klein erinnert sich, wie gräßlich Rockmusik klang, wenn man sie selbst spielte. Marc Zitzmann berichtet über Proteste katholischer Hardliner gegen ein Gastspiel von Romeo Castelluccis Theaterstück "Sul concetto di volto nel Figlio di Dio" in Paris. Besprochen wird eine Ausstellung zur Kinderliteratur in der Paulinerkirche in Göttingen.

FAZ, 12.11.2011

Dirk Schümer trifft in Wien den griechischen Krimiautor Petros Markaris, der an seiner Heimat verzweifelt: "Der letzte anständige Politiker Griechenlands sei der Vorsitzende einer rechtsnationalistischen Kleinpartei. Vorgestern hat seine Tochter ihm angekündigt, künftig diesen Mann wählen zu wollen. 'Du hast völlig recht', antwortete der Vater, 'aber wenn du das machst, bist du enterbt.'"

Der griechische Informatiker Yannis Theodorou erzählt, wie er jeden Tag die Finanzkrise erlebt: "Jeder hält nur sein Geld fest und wartet. Es ist, als befänden wir uns in einem Sturm und in einer Flaute zugleich."

Weitere Artikel: Gina Thomas war dabei, als der Historiker Peter Hoffmann in London seine Studie "Carl Goerdeler and the Jewish Question 1933-42" vorstellte. Jordan Mejias besuchte Premieren an der New Yorker Met. Jürgen Dollase rühmt die "unerhörten Akkorde" des Kochs Stefan Neugebauer im "Schwarzen Hahn" in Deidesheim.

In Bilder und Zeiten fragt Swantje Karich: Wohin steuert die zeitgenössische Kunst? Und antwortet: Direkt in die Vergangenheit. Hubert Spiegel besucht den Initiator des Heidelberger Appells, Roland Reuß, und wiederholt dessen Kritik an Open Access. Andreas Platthaus besucht den FAZ-Karikaturisten Ivan Steiger. Auf die Frage, ob ihre Schönheit ihr geholfen habe, antwortet die norwegische Sängerin Rebekka Bakken im Interview: "O. K., Skandinavierin, groß, blond - das hat mir geholfen, in New York eine Stelle als Kellnerin zu kriegen. Gefeuert wurde ich trotzdem."

Besprochen werden Calixto Bieitos Inszenierung von Calderons Fronleichnamspiel "Das große Welttheater" in Freiburg, eine Inszenierung des "Großen Gatsby" im Schauspiel Frankfurt, CDs von Hugh Laurie, Tom Waits (hier) und dem Countertenor Bejun Mehta sowie Bücher, darunter Jana Scheerers Jugendroman "Mein innerer Elvis" und Wolfgang Herrndorfs Wüstenroman "Sand" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Ruth Klüger ein "unpoetisches Gedicht" von Hermann Hesse vor:

"Ich weiß von solchen...

In manchen Seelen wohnt so tief die Kindheit,
Daß sie den Zauber niemals ganz durchbrechen;
Sie leben hin in traumgefüllter Blindheit
Und lernen nie des Tages Sprache sprechen.
..."

SZ, 12.11.2011

Bloß kein 3D-Kino mehr, ächzt Fritz Göttler in der SZ am Wochenende. Nicht nur berauben die abdunkelnden Brillen das Kino seiner leuchtenden Farben, auch dessen Räumlichkeit wird zum bloßen Actioneffekt: "Die Freiheit des Blicks, die das Kino so lange mit seiner Montage geschaffen hatte, ist verschwunden, seine Ungebundenheit und Ortlosigkeit, im starren Raster der Dreidimensionalität ist davon nur noch ein einziger fester Punkt geblieben."

Weiteres: Joachim Käppner unterhält sich mit Arno Lustiger über Menschen, die während der Nazi-Zeit Juden retteten, und seine eigene Zeit im Konzentrationslager. Birgit Schönau blickt zurück auf die Gerontokratie und den Schönheitskult des Berlusconismus. Der Schauspieler Lars Eidinger gibt Auskunft, wie man sich als Kulturschaffender in Berlin wohnlich einrichtet.

Im Feuilleton: Stephan Speicher liest die neue, wenig schmeichelhafte Biografie des 2007 verstorbenen Kunsthändlers Heinz Berggruen. Michael Köhler erinnert zu dessen hundertsten Geburtstag an den 2002 verstorbenen Radikalkonstruktivist und Kybernetiker Heinz von Foerster (dazu passend: ein knapp einstündiges Feature über von Foerster beim WDR). Reinhard Brembeck stellt das Programm der Salzburger Festspiele 2012 und deren neuen Intendant, Alexander Pereira, vor. Christopher Schmidt berichtet von einer Gesprächsrunde zu Beginn des Münchner Literaturfests, in der über die üblichen Themen - Relevanzverlust der deutschen Literatur, Internet, Kulturhegemonie der USA - geklagt wurde.

Zwei Seiten sind anlässlich des Siegeszug der GPS-Technologie den Themen Navigation und Orientierung gewidmet. Ein gewisser Kulturpessimismus - wir verlernen uns zu orientieren! - ist allen Artikel eigen: Helmut Martin-Jung traut den Anweisungen den aktuellen "Navis" nicht recht und blickt auf die mit aktuellen ortsbezogenen Informationen versehenen Geräte der kommenden Generation. In einer schönen Kulturgeschichte der Navigationstechnik preist Burkhard Müller museale mechanische Orientierungsinstrumente schon des ästhetischen Genusses wegen, den sie ermöglichen. Freudig, unter freiem Himmel und ohne sich zu verlaufen spielt Franz Himpsl Orientierungsmöglichkeiten ganz ohne technische Instrumente durch, die ihm Tristan Gooley in seinem Buch "Der natürliche Kompass" beigebracht hat.

Besprochen werden der Film "Cheyenne - This Must Be the Place" und Thomas Hermanns Musicaladaption von Hape Kerkelings Filmkomödie "Kein Pardon".