Heute in den Feuilletons

Eine Jeanne d?Arc ohne Auftrag

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2011. In der Welt macht sich Hamed Abdel-Samad Sorgen um den arabischen Frühling. Spätestens in siebzig Jahre ist es dann aber soweit, meint ein optimistischer BHL in der Zeit. Die taz würdigt den Beitrag, den Türkinnen in Deutschland zur Ästhetisierung der Republik leisteten. Der Freitag kritisiert das Urteil des OLG Frankfurt in Sachen FAZ und SZ gegen Perlentaucher. In der Jüdischen Allgemeinen spricht Howard Jacobson über Antisemitismus in Großbritannien. Und die FAZ findet, dass das Netz nicht zu Politik, sondern nur zur Dissemination von Laune und Gerücht taugt.

Welt, 03.11.2011

Hamed Abdel-Samad glaubt nicht daran, dass Islam und Demokratie so mir nichts dir nichts vereinbar seien, und macht sich Sorgen um die Zukunft das arabischen Frühlings: "Demokratie .. wurde nie aus dem Mutterleib einer Religion geboren, sondern musste sich fast immer auch gegen die religiösen Autoritäten durchsetzen. Der Vatikan hat sich nicht demokratisiert und hat die Demokratiebewegung nicht angeführt, sondern er wurde durch die Aufklärung entmachtet. In den meisten islamisch geprägten Gesellschaften gibt es diese Skepsis gegenüber der Religion noch nicht. Viele Araber sagen, die Religion sei ein Teil der Lösung in diesen Gesellschaften. Ich sage, die Religion ist ein Teil des Problems."

Weitere Artikel: Im Feuilleton unterhalten sich Uwe Müller und Marc Neller mit den neuen MDR-Intendantin Karola Wille, die verspricht, mit den zahlreichen Skandalen im Sender aufzuräumen und das schale Programmschema mehr oder weniger verteidigt. Tilman Krause begrüßt den (in anderen Blättern schon gar nicht mehr wahrgenommenen) Prix Goncourt für den Autor Alexis Jenni und seinen Roman "L'art francais de la guerre" (Auszug). Auf der Filmseite spricht Anke Sterneborg mit dem Schauspieler Hugh Jackman über dessen neuen Film "Real Steel". Frank Kaspar resümiert eine Berliner Konferenz über Tiere in der Kunst.

Besprochen werden der Film "Fenster zum Sommer" (mehr hier) mit Nina Hoss und Händels "Alcina" in Dresden.

TAZ, 03.11.2011

"Eine genuin herzogsche Mischung aus anthropologischer Spekulation, bildtheoretischem Traktat und schräger Wissenschaftlerdoku", so schwärmt Simon Rothöhler von Werner Herzogs 3-D-Dokumentarfilm "Die Höhle der vergessenen Träume" über die Chauvet-Höhle in Südfrankreich. Der Film "gehört in die andere Hälfte des Spätwerks und schließt in gewisser Weise direkt an Herzogs jüngste 'Begegnungen am Ende der Welt' an, die ihn in der Antarktis mit angeblich depressiven Pinguinen und idiosynkratischen Forschern zusammenbrachte. Auch im Höhlenfilm sind die Protagonisten hochspezialisierte, sichtlich auf ihren Gegenstand fokussierte Wissenschaftler, die Herzog durch unkonventionelle Fragetechniken für sich einnimmt, aber auch immer wieder aus dem Gleichgewicht bringt."

Weitere Artikel: Daniel Bax erklärt uns, inwiefern Deutschtürken Deutschland und die Türkei zum Besseren verändert und die Modernisierung beider Gesellschaften vorangetrieben haben: "Sie haben auch mit dazu beigetragen, dass gezupfte Augenbrauen und rasierte Beine heute in Deutschland eine Selbstverständlichkeit sind - zweifellos ein wichtiger Beitrag zur ästhetischen Modernisierung der Republik." Der Berliner Verleger Jörg Sundermeier würdigt in einem Nachruf den Germanisten Heinz Ludwig Arnold.

Besprochen werden Shawn Levys "durchgeknallter" Action-Film "Real Steel" und Bücher, darunter Eva Illouz' soziologischer Erklärungsversuch "Warum Liebe weh tut" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 03.11.2011

Im Interview mit Michael Wuliger spricht der Autor Howard Jacobson in der Jüdischen Allgemeinen über seinen Roman "Die Finkler-Frage", jüdischen Selbsthass und den in Großbritannien inzwischen allgegenwärtigen Antizionismus: "In London lief vor einiger Zeit ein Theaterstück von Caryl Churchill, 'Seven Jewish Children', ein Stück Dreck eigentlich. Churchill hat natürlich nichts gegen Juden, einige ihrer besten Freunde sind Juden und so weiter. Aber am Ende des Stücks stehen Judendarsteller auf der Bühne und sagen, dass sie lachen und sich freuen, wenn palästinensische Kinder sterben. Da höre ich keine rationale Kritik am Staat Israel oder am Zionismus heraus. Was ich höre, sind die alten Ritualmordlegenden."

Pierre Haski von rue89 sieht den Brandanschlag auf Charlie Hebdo (mehr hier) im Guardian als einen Ausdruck verletzter Gefühle von Muslimen: "For many French Muslims, religion has become a cultural identity, a refuge in a troubled society where they don't feel accepted, as shown by a recent study of the banlieues, the disenfranchised suburbs of big cities."

Freitag, 03.11.2011

Wolfgang Michal kommentiert das Urteil des OLG Frankfurt im jahrelangen Verfahren der FAZ und der Süddeutschen gegen den Perlentaucher (mehr hier): "Leider hat das Frankfurter Gericht - wie zu erwarten - eine grundsätzliche Abgrenzung zwischen selbstständigen und unselbstständigen Werken vermieden. Es hat lediglich erklärt, dass jeder Einzelfall neu geprüft werden muss. Damit hängt über dem Geschäftsmodell des Perlentaucher künftig das Damokles­schwert der Verlage, da je nach Einzelfall-Auslegung so oder so entschieden werden kann. Das Geschäftsmodell selbst wird aber nicht infrage gestellt - so lange der Perlentaucher darauf achtet, in seinen 'Abstracts' genügend 'eigene Worte' zu finden."

Außeerdem: Kathrin Zinkant fragt sich im Kulturkommentar, was das neue Google-Institut für Netz und Gesellschaft an der Berliner Humboldt-uni eigentlich wollen soll.

FR/Berliner, 03.11.2011

Im Interview mit Dirk Pilz erklärt Theaterregisseur Jan Bosse, warum er mit Kleists Frauenfiguren nichts anfangen kann. Käthchen zum Beispiel findet er nicht die Spur "innerlich" oder "hingebungsvoll": "Vielleicht kann man sich einen Fenstersprung auf den ersten Liebesblitzschlag noch vorstellen. Aber was dieses Mädchen alles hinter sich lässt, was sie für diese Liebe alles opfert! Ist das überhaupt Liebe? ... der totale Ego-Shooter, verliebt ins eigene Gefühl. Aber stimmt, denn es ist ja auch alles so schrecklich privat bei dieser Frau, sehr unangenehm irgendwie. Das Käthchen ist eine Jeanne d?Arc ohne Auftrag, eine Selbstmordattentäterin ohne Ideologie."

Besprochen werden unter anderem Hugh Jackmans Blockbuster "Real Steel", der zwei Kampfroboter gegeneinander antreten lässt, Lone Scherfigs Film "Zwei an einem Tag" und David Böschs Inszenierung von "Romeo und Julia" an der Burg.

FAZ, 03.11.2011

Filmredakteur Dietmar Dath extemporiert über Netz, Vernetzung ud Politik und kommt dabei zu kulturkonservativen Einsichten: "Über leere Teilhabegesten wird Gefolgschaft hergestellt, nicht Willensbildung, Entscheidungsvorlage oder ähnlich Demokratisches. Der Vorgang ist ein Import aus der Ökonomie; dort heißt die Sache 'virales Marketing': Dissemination von Laune und Gerücht als Werbemittel. Die Politik wird so nach dem Vorbild der Wirtschaft, also der Produktion, Zirkulation und Distribution, angefasst."

Geläutert und begeistert kommt Brita Sachs aus der Pinakothek der Moderne, wo derzeit Olaf Nicolais Soundinstallation "Escalier du Chant" zu hören ist: "Wieder mal entmufft Olaf Nicolai mit einer medienübergreifenden Arbeit die Institution Museum. Während er uns mit dem Gehör auf den Raum stößt, auf die Architektur, die Kunst inszeniert und zugleich isoliert, lässt er eindringlich vernehmen, was die Welt draußen bewegt."

Weiteres: John Banville ist sichtlich erfreut, dass aus den jüngsten Wahlen in Irland mit Michael D. Higgins ein Dichter als Präsident hervorgegangen ist. Heinrich Detering, neuer Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, antwortet auf Jürgen Kaubes Kritik vom 1. November am neuen Vertretungsanspruch des Hauses. Patrick Bahners hat den Nachruf auf den Juristen Gerd Roellecke verfasst. Auf der Medienseite stöhnt Jürg Altwegg nach einem Brandanschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, dass man sich nun schon wieder mit Mohammedkarikaturen auseinandersetzen muss: "Man hatte schon im Voraus keine Lust, sich damit zu befassen." (Die Website von Charlie hebdo hat heute morgen übrigens nicht funktioniert, aber hier gibt's Bilder.)

Besprochen werden neue Klassik-CDs, Werner Herzogs neuer Dokumentarfilm "Die Höhle der vergessenen Träume", Andrea Moses' Inszenierung von Hector Berlioz' "Fausts Verdammnis" am Stuttgarter Staatstheater und Bücher, darunter Jürgen Lodemanns Roman "Salamander" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 03.11.2011

Ist der arabische Frühlung schon am Ende? "Das ist eine absurde Theorie", meint Bernard-Henri Levy im Interview auf den vorderen Seiten. "Frankreich hat, bis es die Ideale von 1789 verwirklichte, zunächst die Zeit des Terrors durchmachen müssen, sodann eine Restauration, zwei Imperien und viele Massaker. Und Sie wollen, dass sich das im Fall der Araber in drei Wochen erledigen ließe?"

Im Feuilleton demonstriert der Schauspieler Larry Hagman, der gerade neue Folgen von "Dallas" dreht, im Interview die hohe Kunst der amerikanischen Selbstkritik: "Die USA werden von Lobbyisten regiert." Der Kapitalismus wird immer amoralischer, meint auch Colin Crouch in der Reihe "Kapitalismus kaputt?". Abgedruckt ist die Grabrede von Mona Simpson auf ihren Bruder Steve Jobs (im Original in der NYT nachzulesen). Hanno Rauterberg schreibt einen "Nachruf zu Lebzeiten" auf den Künstler Maurizio Cattelan, der sich mit 51 Jahren und nach einer großen Retrospektive im Guggenheim aus dem Kunstbetrieb zurückziehen will. Quincy Jones plaudert im Interview über seine musikalischen Einflüsse. Wolf Biermann erklärt in Interview auf der "Glauben und Zweifeln"-Seite, woran er glaubt: "An die Liebe zu einem einzelnen Menschenexemplar." Thea Dorn sucht die deutsche Seele.

Besprochen werden Andrea Moses' Inszenierung des Berlioz-Werks "Damnation de Faust" an der Stuttgarter Oper, Frank Castorfs Inszenierung von Horvaths "Kasimir und Karoline", einige Filme und Bücher, darunter Andrzej Stasiuks Roman (Leseprobe) "Hinter der Blechwand" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 03.11.2011

Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller erläutert Hintergründe zu den "postliberalen" Tendenzen unter Tory- und Labour-Politikern in Großbritannien, die dem Neoliberalimus eine Stärkung der Zivilgesellschaft entgegenstellen. Thomas Steinfeld macht sich Gedanken über Anselm Kiefers im Spiegel geäußerte Pläne, das stillgelegte Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich zu erwerben. In Schweden laufen derzeit Debatten, wie mit den Akten von Stasi-Agenten im eigenen Land umgehen soll, berichtet Gunnar Herrmann. Nicht viel mehr als "spießiges Präpotenz-Theater" hat Christine Dössel in David Böschs "Romeo und Julia"-Inszenierung am Wiener Burgtheater gesehen. Joseph Hanimann stellt den diesjährigen Goncourt-Preisträger Alexis Jenni vor. Fritz Göttler gratuliert Monica Vitti zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden "Lulu", das gemeinsame Album von Lou Reed und Metallica, eine Ausstellung mit Arbeiten von Edward Kienholz in der Frankfurter Schirn, die Filme "Fenster zum Sommer", "Paranormal Activity 3" und "Zwei an einem Tag", sowie Bücher, darunter Andrea Hanna Hünnigers Roman "Paradies" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).