Heute in den Feuilletons

Man steht, tendiert zur Bedeutung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2011. In der NZZ erzählt Einar Karason, warum die Isländer seit achthundert Jahren Bücher schreiben. In der FAZ erzählt Hallgrimur Helgason, warum jeder isländische Dichter am Ende im gottverfluchten Brunnen Mimirs landet. Die Sagas sind besser als jeder Tarantino, versichert Kristof Magnusson in der SZ. In der Welt erzählt Henryk Broder isländische Sagas von einst und jetzt. Und glaubt Rüdiger Safranski tatsächlich, dass man mit einem Schergen Achmadinedschads in einen Dialog der Kulturen treten kann?

Welt, 08.10.2011

Für die Literarische Welt liest Henryk Broder isländische Sagas, die bis heute für das Land eine Rolle spielen: "Die große Krise von 2008 hat das Land erschüttert, aber nicht ruiniert, die Wirtschaft erholt sich langsam. Die Erklärung für all diese Phänomene findet man in den Sagas. 'Wir waren immer auf uns allein gestellt', sagt Arthur Bollason, 'wir hatten keine Nachbarn, die wir um Hilfe bitten konnten. Das war unser Glück. Aber auch ein großes Glück für die Nachbarn.'"

Weitere Artikel in der Literarischen Welt: Walter Laqueur bespricht einige aktuelle Bücher zum arabischen Frühling, kann ihren Optimismus allerdings nicht teilen. Im Aufmacher unterhält sich ein ungenannter Autor mit Heinrich August Winkler, der einen monumentalen Band über die Geschichte des Westens im 20. Jahrhundert vorlegt und erklärt, warum man besser von "westlichen" also von "europäischen" Werten spricht. Besprochen werden unter anderem William H. Gass' Roman "Der Tunnel" (mehr hier), Edmund de Waals Geschichte (hier eine Leseprobe aus "Vorgeblättert") der Familie Ephrussi "Der Hase mit den Bernsteinaugen" (mehr hier) und Neil MacGregors "Geschichte der Welt in 100 Objekten", die von Wolfgang Sofsky als "famoses Werk" gepriesen wird.

Im Feuilleton feiert Thomas Schmid den Blitz, den der Architekt Daniel Libeskind in das Militärhistorische Museum in Dresden fahren ließ. Boris Kalnoky liest die Äußerungen des türkischen Premierministers Erdogan gegen deutsche Stiftungen als Begleitmusik zu einer neuen Repressionswelle gegen Kurden. Und London-Korrespondent Thomas Kielinger geht mit dem britischen Verleger Nicholas Jacobs essen.

NZZ, 08.10.2011

Warum schreiben die Isländer schon seit dem 12. Jahrhundert - als der Rest Nordeuropas gerade mal Grabsteine beritzen konnte - Bücher? Der Autor Einar Karason hat darauf zwei Antworten: Erstens hatten sie sonst nichts zu tun. Und zweitens wollten sie das von ihren Nachbarn verbreitete Vorurteil widerlegen, "die ersten isländischen Siedler seien nichts als Diebe, Verbrecher, Herumtreiber, Verräter und ähnliches Pack gewesen, die sich im Rest von Nordeuropa nicht mehr blicken lassen konnten".

Peter Urban-Halle ist kein großer Fan der isländischen Literatur. Dieser ewige Hang zu schrägen Vögeln kann auf Dauer auch ganz schön steril sein, findet er. Am besten gefällt ihm daher Gyrdir Eliassons Roman "Am Sandfluss", gerade weil er für die isländische Literatur so untypisch sei: "Es fängt ein bisschen wie Peter Handkes 'Langsame Heimkehr' an, nur nicht ganz so ziseliert und philosophisch. Der Ich-Erzähler ist ein Maler, den die Kunst einsam gemacht hat. Er hat sich in ein Wohnwagenlager zurückgezogen, er versucht zu malen, geht aber lieber spazieren und leidet daran, allen fremd geworden zu sein, auch seinen eigenen Kindern. Er ist kein schräger Vogel, hier gibt es keinen Erinnerungszwang, keine Lust, immerzu Witze zu reißen: 'Am Sandfluss' ist der Bruch mit dem Klischee, der Beweis, dass isländische Literatur zu etwas anderem fähig ist, als nur Spielwiese selbsternannter, ewig lustiger Stand-up-Comedians zu sein."

Außerdem: Aldo Keel schreibt über Islands größten Erzähler: Halldor Laxness. Vesteinn Olason stellt die Isländersagas vor, die gerade bei S. Fischer in neuer Übersetzung erschienen sind.

Im Feuilleton ist Barbara Villiger Heilig nicht besonders glücklich über Martin Kusejs erste Inszenierung - von Arthur Schnitzlers "Das weite Land" - als Intendant des Münchner Residenztheaters: "Kusej zeigt lauter Vereinzelte, die sich in größtmöglicher Distanz begegnen und, nähern sie sich einander, den Rücken zukehren. Dadurch geht aber verloren, was die Personen bei Schnitzler so ekelhaft ineinander verkeilt unter der grassierenden 'Herzensschlamperei'."

weitere Artikel: Aldo Keel erzählt von den begeisterten Reaktionen der Schweden auf den neuen Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer: "Wir applaudierten, dass die Fensterscheiben klirrten", zitiert Keel den Präsidenten des schwedischen Schriftstellerverbandes. In der Reihe "When the music's over" erinnert sich Angela Schader an ihre Punktage in Zürich. Ronald D. Gerste schreibt zum 375. Geburtstag der Harvard University. Besprochen werden Bücher, darunter Dieter Hildebrandts Geschichte des Berliner Schlosses (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Außerdem liegt auch der NZZ heute die Literaturbeilage bei. Im Aufmacher schreibt Roman Bucheli über Navid Kermanis Roman "Dein Name".

FR/Berliner, 08.10.2011

Ein wenig ratlos bleibt Peter Michalzik von Martin Kusejs mit vielen Erwartungen und Hoffnungen verknüpften Intendanzstart mit einer Interpretation von Schnitzlers "Das weite Land" am Münchner Residenztheater zurück: "Traditionelles Theatertheater, das man schon fast vergessen hatte. Man steht, tendiert zur Bedeutung, man geht..."

Weiteres: Beglückt ging Georg Imdahl durch die Gerhard-Richter-Ausstellung in der Londoner Tate Modern und begegnete dabei einem wenig artikulierten Künstler.

Besprochen wird unter anderem eine Textsammlung der vergangenes Jahr gestorbenen Feuilletonistin Katharina Rutschky (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 08.10.2011

Mit wem tritt Rüdiger Safranski in der Stiftung Neuhardenberg in den Dialog der Kulturen über Hafiz und Goethe, fragt Thomas von der Osten-Sacken? Richtig, mit dem ehemaligen stellvertretenden Außenminister des Irans und heutigen Botschafter in Berlin: "Sheikh Attar ist verantwortlich für brutale Menschenrechtsverletzungen an der iranischen Bevölkerung. Er selbst war als Gouverneur im iranischen Kurdistan und Azarbaijan für Massaker an den Kurden verantwortlich. Er hat - als Stellvertreter des iranischen Außenministers verantwortlich für Sicherheit und Europapolitik - die terroristischen Aktivitäten des Regimes in Berlin und in Deutschland zu verantworten. Sheikh Attar gilt zudem als enger Gefolgsmann Achmadinedschads..." Mehr dazu auch in der Jungle World.

"Das Ansehen eines großen Mannes kann eine Gesamtabrechnung vertragen", schreibt Ryan Tate für Gawker und beleuchtet die problematischen Seiten von Steve Jobs: "There were things Jobs did while at Apple that were deeply disturbing. Rude, dismissive, hostile, spiteful: Apple employees-the ones not bound by confidentiality agreements-have had a different story to tell over the years about Jobs and the bullying, manipulation and fear that followed him around Apple." Dafür hier noch eine Hommage von Nicholson Baker aus dem New Yorker.

TAZ, 08.10.2011

In der taz ist heute nicht viel los. Aber David Wagner hat sich in die Back-Factory am Rosenthaler Platz gesetzt, wo Billigtouristen, die Haupteinnahmequelle Berlins, Billigcroissants verspeisen, und denkt über seine Stadt und eben die Back-Factory nach: "Das letzte Stück des Croissants verschwindet in meinem Mund, und ich wundere mich plötzlich über den Namen Back-Factory. Was soll das eigentlich heißen? Bin ich Backwarenfabrikarbeiter, weil ich Gebäck in mich hineinarbeite? Muss dieser Name anglophone Muttersprachler nicht verwirren? Eine Engländerin fragte neulich, ob man sich in einer Back-Factory um schmerzende Rücken kümmere."

Besprochen werden eine Ausstellung mit Afghanistan-Fotografien Simon Norfolks und John Burkes in der Galerie Moeller Fine Art in Berlin und Bücher, darunter Marlene Streeruwitz' "Schmerzmacherin".

Weitere Medien, 08.10.2011

Vice bringt ein großartiges und toll bebildertes Interview mit John Gilmore, der nicht nur hartgesottene Kriminalromane schreibt, sondern auch Insiderreportagen aus Hollywood. Und er kannte sie wirklich alle: Von Charles Manson bis Marilyn Monroe, von James Dean bis Steve McQueen von Brigitte Bardot bis Jean Seberg.

SZ, 08.10.2011

In der SZ am Wochenende führt Alex Rühle ein gutgelauntes Interview mit Kristof Magnusson (mehr) über das literarische Island, wo es offenbar schon zu archaischen Zeiten prächtig zuging: "In den Sagas stehen Oneliner, die einen eher an Quentin Tarantinos lakonischen Umgang mit Gewalt erinnern als an mittelalterliche Literatur. Als Grettirs Bruder mit einem Spieß erstochen wird, guckt er an sich runter und sagt im Sterben: 'Diese breiten Spieße werden auch immer beliebter.'"

Weiteres: Das sind ja wir, stutzt Andrian Kreye in einer Reportage auf Seite 3 über die "Occupy Wall Street"-Protestbewegung, die seit Wochen das New Yorker Finanzviertel in Atem hält und sich offenbar direkt aus dem Mittelstand rekrutiert (Die Website von Adbusters, die die Bewegung initiiert hat, bringt regelmäßig weitere Informationen und Videos aus New York). Im Feuilleton weiß Gustav Seibt Umberto Ecos neuen Roman "Der Friedhof in Prag" als penible Recherchearbeit durchaus zu würdigen (und rät zur Lektüre mit Nachschlagewerk und Internet), besonders spannend oder witzig fiel das Leseerlebnis dann aber doch nicht aus. Vor versammelter deutscher und österreichischer Kulturprominenz fiel Martin Kusejs Intendanzstart am Münchner Residenztheater mit einer Aufführung von Schnitzlers "Das weite Land" eher brav aus, schreibt Christine Dössel. Wolfgang Schreiber würdigt Louis Lorties Gesamteinspielung von Franz Liszts "Annees del pelerinage" auf CD. Markus Zehentbauer knüpft einige Hoffnungen an die in Umlauf gebrachten Pläne für ein "Deutsches Design Museum" (mehr).

Besprochen werden zwei Münchner Ausstellungen mit Werken von Ellsworth Kelly in der Pinakothek der Moderne und im Haus der Kunst, der Film "Von der Kunst sich durchzumogeln" (mehr), das neue Album von Ryan Adams (hier komplett im Stream) und Stefan Buchers Interpretation von Becketts "Endspiel" am Schauspielhaus Zürich.


FAZ, 08.10.2011

In jungen Jahren versuchen isländische Schriftsteller alles, um den Sagas zu entkommen, erzählt Autor Hallgrimur Helgason in Bilder und Zeiten. "Die jungen Dichter wissen allerdings noch nicht, dass sie am Hintern ein Gummiband haben, das mitten im Sprung seine Maximaldehnung erreicht und sie flugs wieder auf den heimischen Sagahof zurückbefördert, mitten hinein in den tiefen Sagabrunnen. In den gottverfluchten Brunnen Mimirs."

Weiteres: Abgedruckt ist ein Auszug aus Gerhard Matzigs Buch über den Wutbürger "Einfach nur dagegen". Kerstin Holm berichtet von einem Kulturzentrum, das im ukrainischen Donezk entstehen soll. Auf der Schallplatten- und Phonoseite schreibt Alban Nicolai Herbst über den schwedischen Komponisten Allan Pettersson.

Recht beeindruckend: der Beginn seiner siebten Sinfonie.



Jan Wiele stellt Björks Projekt "Biophilia" vor (hier im Stream). Und Ulrich Raulff erzählt im Interview, welche Aufgaben ein Literaturarchiv heute hat.

Im Feuilleton überlegt Paul Kirchhof, welche Konsequenzen aus der Schuldenkrise zu ziehen sind. Helmut Mayer und Sandra Kegel liefern in zwei Artikeln einen Ausblick auf die Literatur- und Sachbuchneuerscheinungen des Herbstes. Jürgen Dollase plädiert für mehr Aromen. Und Dirk Liesemer berichtet, was deutsche Abgeordnete sehen, wenn sie nach Afghanistan fliegen. Wie zu erwarten: wenig.

Besprochen werden die Schnitzler-Inszenierung von "Szenengrobschmid" (G. Stadelmaier) Martin Kusej am Münchner Residenz Theater und die Beckmann-Ausstellung im Frankfurter Städel.

Außerdem liegt der FAZ heute die Literaturbeilage bei. Im Aufmacher bespricht Felicitas von Lovenberg Jan Peter Bremers Roman "Der amerikanische Investor" (hier eine Leseprobe, die Beilage werten wir in den nächsten Tagen aus).

In der Frankfurter Anthologie stellt Wulf Segebrecht ein Gedicht von Nora Bossong vor:

"Leichtes Gefieder

Vielleicht zu spät, als eine Krähe
unsern Morgen kappt. Ein Schlag.
Und ob sie fällt und ob sie weiterfliegt -
Ich frag zu laut, ob du noch Kaffee magst.
..."