Heute in den Feuilletons

Der Straßenstaub der Wirklichkeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.09.2011. Die Welt erklärt die Zunahme schlechter Schauspieler auf den Theaterbühnen. Die FAZ beendet die Ära der Connaisseure. In der FR versichert Dirigent Henrik Nanasi, dass er es auch krachen lassen kann. Die taz sieht das Ende des Eichborn Verlags näherrücken. Die NZZ erzählt vom Leben und Sterben eines roten Blutkörperchens. Und Open Culture kommt dem surrealistischen Genie auf die Spur.

NZZ, 30.09.2011

Der Biochemiker Gottfried Schatz erzählt von Blut und dem dramatischen Kreislauf von Leben und Sterben, der sich in unserem Lebenssaft vollzieht: "Unser Blut ist jedoch eher ein Symbol des Todes. Die 25.000 Milliarden roten Blutkörperchen, die in ihm treiben, sind abgestorbene Zellen, die ihr Erbmaterial und fast alle Zellorgane verloren haben. Dennoch tragen sie etwa 120 Tage lang unermüdlich Sauerstoff aus der Lunge in die Gewebe, bis Fresszellen in der Milz oder der Leber sie verschlingen."

Weitere Artikel: In einem Interview mit Ueli Bernays spricht Bob Geldorf nicht nur über sein neues Album, sondern erklärt auch, warum wir mehr Leadership brauchen: "Freiheit ist die Fähigkeit, Führer zu wählen und mit ihnen einverstanden zu sein oder eben nicht." Alfred Zimmerlin hat auf der "Musica 2011" in Straßburg multimedialen Konzerten gelauscht. In einem Nachruf würdigt Andreas Breitenstein, die im Alter von 89 Jahren verstorbene polnische Schriftstellerin Ida Fink. Eine Ausstellung zur "Glasmalerei der Moderne" hat sich Karin Leydecker im Badischen Landesmuseum Karlsruhe angesehen.

Und hier noch der - heillos verspätete - Hinweis auf die inzwischen recht populäre Studie der Universität St. Gallen über das destruktive Verhalten von Börsenhändler, die dabei nicht mal so viel Gewinn machen wie ein ganz normaler Psychopath!

Aus den Blogs, 30.09.2011

Open Culture bringt ein wunderbares Interview mit Salvador Dali, in dem Mike Wallace ziemlich vergeblich versucht, das surrealistische Enigma zu entschlüsseln (Bemerkenswert auch die Zigaretten-Informationen am Anfang!):




Und hier noch ein Link zu Steven Pinkers berühmter Vorlesung über die abnehmende Gewalt in Geschichte der Menschheit.

Welt, 30.09.2011

Haben Sie sich letzten auch gefragt, wer der unglaublich schlechte Schauspieler auf der Bühne war? Kann gut sein, dass das der Chef selbst war, meint Matthias Heine, der in den zunehmenden Auftritten von Regisseuren einen Untertrend des Obertrends zum Laientheater erkennt: "Benötigt werden die Amateure, um Sand ins Getriebe zu streuen. Wenn gerade mal kein Freak aus dem wahren Leben zur Hand ist, muss der Spielleiter selber auf die Bühne klettern und dort oben ein bisschen Straßenstaub der Wirklichkeit aus seinen Kleidern schütteln."

Weiteres: Berthold Seewald feiert das Berliner Riesenpanorama der antiken Metropole Pergamon. Richard Kämmerlings fragt in einer Randglosse zum Burn-out bang, ob jetzt eigentlich nicht genug geschuftet hat, wer nicht kollabiert. Elmar Krekeler ist nach einem Blick in die aktuellen Neuerscheinungen die Lust vergangen, Vater zu werden, zumindest Söhne sind ihm verleidet: "Selten wurde man als Leser mit einer derart hasserfüllten männlichen Nachkommenschaft konfrontiert." Und Philosoph Robert Spaemann erklärt im Interview mit Paul Badde die Botschaft des Papstes. Henryk Broder besucht einen Sammler von Schundromanen aus den Fünfzigern.
Stichwörter: Spaemann, Robert, Burnout

TAZ, 30.09.2011

Dirk Knipphals kommentiert die gescheiterten Fusionspläne zwischen den Verlagen Eichborn und Aufbau, was das Aus für ersteren in greifbarere Nähe rückt. "Es wäre ziemlich wohlfeil, dem Angebot von Matthias Koch nun die Schuld am Ende von Eichborn zu geben. Die Probleme des Verlags kann man schon seit Jahren beobachten: Missmanagement, sprunghafte Programmpolitik." Gemeldet wir die Verleihung des Preises der Berliner Nationalgalerie für junge Kunst, die der 31-jährige Franzose Cyprien Gaillard für seine mit dem iPhone gemachten Bilder erhielt.

Besprochen werden Robert Redfords Spielfilm "Die Lincoln Verschwörung", Matt Porterfields Independent-Film "Putty Hill", das Album "Metals" der kanadischen Musikerin Feist dazu neue Alben von Country-Musiker Glen Campbell, der britischen Band Slow Club und von Singer-Songwriter Fionn Regan.

Auf der Wahrheitseite mokiert Rudolf Walther die wöchentlichen Gastrokolumnen des "Küchenmoses" Jürgen Dollase in der FAZ ab. "Mit Liebstöckel, vulgo Maggikraut, kommt nicht etwa Penetrantes auf den Teller, sondern der 'Geschmacksdramaturg' (früher Koch) 'installiert Bodenständigkeit' mit 'assoziativer Ladung' und 'ohne Identititätsverlust'."

Und Tom.

FR/Berliner, 30.09.2011

Stefan Schickhaus unterhält sich mit dem Dirigenten Henrik Nanasi, der ab der nächsten Saison GMD der Berliner Komischen Oper wird, in Frankfurt gerade eine Aufführung von Emmanuel Chabriers Opera Buffa "L'Etoile" einstudiert. Berühungsängste mit der leichteren Muse kennt Nanasi, versichert er, nicht: "Wenn der Sinn eines Stückes ist, zu krachen, dann werden wir es krachen lassen.

Weitere Artikel: Eine Lesung von Charlotte Roche im Frankfurter Mousonturm hat Judith von Sternburg besucht. Katja Schwemmers spricht mit dem britischen Pianisten und Showmaster Jools Holland. Sylvia Staude mokiert sich über die EX-MI5-Direktorin und nunmehrige Schriftstellerin sowie Booker-Preis-Jurorin Stella Rimington, die Bücher auszeichnen will, die man liest und nicht nur bewundert.

Besprochen werden Jean-Luc Godards auf Stippvisite in deutschen Kinos befindliches jüngstes Werk "Film Socialisme" und zwei Max-Beckmann-Ausstellungen, eine im Leipziger Museum der Bildenden Künste, eine im Kunstmuseum Basel.

SZ, 30.09.2011

Renate Meinhof berichtet vom Kunstfälscherprozess in Köln. Oliver Hochkeppel empfiehlt die von Matthieu Bordenave Live-Neueinspielung von Miles Davis' "Birth of the Cool", die man sich am 07. Oktober auch als Radiomitschnitt anhören kann (mehr hier). Christoph Wiedemann berichtet von den Rahmenbedingungen des Baustarts eines NS-Dokumentationszentrums in München. Anlässlich der Abschiedsinszenierung von "Fanny und Alexander" des frühzeitig scheidenden Intendanten Sebastian Hartmann am Centraltheater Leipzig macht sich Til Briegleb Gedanken über Hartmanns mangelnden Publikumszuspruch. Reinhard Brembeck überlegt anlässlich des heutigen Eröffnungskonzerts der "musica viva" (Übertragung heute im Radio), warum die Neue Musik in Münchens Konzertlandschaft so unterrepräsentiert ist, und plädiert für ein neugieriges Hören. Fritz Göttler gratuliert der Howard-Hawks-Darstellerin Angie Dickinson zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die neue CD der Indieband "Feist" (Hörprobe), Herbert Fritschs Interpretation von "Emilia Galotti" am Theater Oberhausen, das neue Panorama im Pergamonmuseum Berlin, eine Ausstellung zum zehnjährigen Bestehen des Augsburger Puppenkistenmuseums, Dires Verhoevens Theaterinstallation "Dunkelkammer" an den Kammerspielen München, neue Videoarbeiten im Haus der Kunst in München und Bücher, daruner eine neue Biografie von Adam Smith (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 30.09.2011

Niklas Maak berichtet vom Prozess gegen den Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi und denkt dabei auch über die Konsequenzen nach: So ist Werner Spies "nur der prominenteste Gutachter, der getäuscht wurde. Es traf auch viele andere, die zu sehr an die Untrüglichkeit ihres Blicks glaubten. Mit dem Fall Beltracchi ist auch das letzte Reservat des Geniekults in der Kunstwelt zerstört - der Glaube daran, dass Experten mit bloßem Auge stilkritisch das Echte vom Falschen unterscheiden könnten. In Zukunft werden die Auktionshäuser mehr auf Chemiker denn auf Connaisseure hören." Drei FAZ-Seiten und ein paar Gerichtsräume weiter berichtet Rose-Marie Gropp indessen vom angekoppelten Prozess, der klären soll, ob das Auktionshaus Lempertz wissentlich mit Fälschungen handelte.

Weitere Artikel: Auf ins Pergamonmuseum, schallt es einem aus Dieter Bartetzkos enthusiastischer Besprechung der heute dort eröffneten monumentalen Sonderpanoramaschau entgegen. Nils Minkmar liest die aktuellen Bundestagsdebatten zur Euro- und Schuldenkrisen als Kapitel eines Fortsetzungs-Groschenromans. Bert Rebhandl schreibt eine sehr schöne Rezension von Jean-Luc Godards "Film Socialisme" (mehr), der diese Woche in einigen wenigen deutschen Kinos startet. In ihrer Maschinenraum-Kolumne stellt Constanze Kurz das Überwachungssystem "Eagle Glint" vor, das es dem Gaddafi-Regime gestattete, ganze Terabyte von Online-Datenströmen in Echtzeit zu durchsuchen und auszuwerten (pikanterweise wurde es von Frankreich aus nach Libyen verkauft). Martin Otto hat sich an der Münchner Bundeswehruniversität eine Debatte über eine studentische, von einem Autor der Jungen Freiheit mitbetreute Zeitung angehört.

Besprochen werden Bücher, darunter ein Band über die Villa Massimo in Rom (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).