Heute in den Feuilletons

Romane wie Reihenhäuser

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.09.2011. In der NZZ wirft der Friedenspreisträger Boualem Sansal Europa vor, seine demokratischen Ideale verraten zu haben. Im Freitag spottet Oskar Röhler über die Prüderie deutscher Erzähler und George Monbiot geißelt die Geschäftspraktiken der Wissenschaftsjournale. In der Zeit erklärt Umberto Eco den Unterschied zwischen Revolution und Verschwörung. Die taz entdeckt Madame Bovary in einer mexikanischen Mietskaserne. Die SZ erkennt: Der aktuelle Radical Chic will nicht provozieren, nur profitieren. Und die Welt errinert an das große Verbrechen von Babi Jar vor siebzig Jahren.

Freitag, 29.09.2011

Jana Hensel unterhält sich mit dem Regisseur Oskar Röhler über seine Eltern, deren Produkt er doch immer bleibe, über das eigene Leben und sein Romandebüt "Herkunft": "Das ist das Tolle an einem Roman, es ist ein üppiges, wucherndes Gewebe. Da, wo ich in Drehbüchern aufhören muss, kann ich im Buch nun erzählen. Deutsche Erzähler sind ja oft sehr prüde. Die schreiben Romane wie Reihenhäuser, klein und mit überschaubaren Kapiteln. Es herrscht extremer Purismus. Unter den deutschen Autoren gibt es niemanden, der mir wirklich was bedeutet. Eigentlich wirklich niemanden."

Guardian-Autor George Monbiot prangert das monopolistische Geschäftsgebaren der Wissenschaftsjournale an, gegen die sich Rupert Murdoch geradezu sozialistisch ausnehme. Einzelne Artikel verkaufen sie für 25 bis 30 Euro, Jahresabos für 4.000 bis 10.000 Euro: "Während aber Murdochs Unternehmen einen großen Teil der Beiträge selbst generieren und Journalisten und Redakteure dafür bezahlen, bekommen die Wissenschaftsverlage ihre Artikel, Peer Reviews (siehe Kasten) und oft auch noch die redaktionelle Arbeit kostenlos zur Verfügung gestellt. Das Material, das sie veröffentlichen, wird also nicht einmal von ihnen in Auftrag gegeben oder finanziert, sondern durch öffentliche Gelder und Stipendien ermöglicht - von uns allen. Um die Ergebnisse aber einsehen zu dürfen, müssen wir erneut bezahlen, und zwar Wucherpreise. Die Profite in diesem Geschäft sind astronomisch: So lag beispielsweise die Gewinnspanne von Elsevier im abgelaufenen Wirtschaftsjahr bei 36 Prozent."

NZZ, 29.09.2011

Harsche Kritik übt der algerische Schriftsteller und Träger des diesjährigen Friedenspreises Boualem Sansal im Interview mit Irene Binal am Islamismus und der europäischen Haltung gegenüber den arabischen Diktatoren: "Europa hat seine demokratischen Ideale verraten. Es ist der Hort der Demokratie, der Menschenrechte, aber es hat Diktatoren unterstützt, um seiner Sicherheit willen. Wer hat Europa zwanzig Jahre lang gegen den Terrorismus und die illegale Einwanderung abgeschirmt? Das waren Ghadhafi, Bouteflika, Ben Ali, Mubarak, der König von Marokko. In Marokko hat man Schwarze in Lastwagen in die Sahara gefahren und ausgesetzt, Frauen, Kinder, Babys. Sie sind alle innerhalb von vierundzwanzig Stunden gestorben. Das ist auch die Verantwortung Frankreichs, Deutschlands und anderer Länder, die diese Regierung unterstützten."

Weitere Artikel: Joachim Güntner gratuliert dem Verleger Wolfgang Beck zum Siebzigsten. Die wilde "Woyzeck"-Interpretation der britischen Musikcombo "The Tiger Lillies" hat sich Martin Lhotzky in Wien angesehen.

Besprochen werden Fernand Melgars kontroverser Dokumentarfilm "Vol special" über Migration und Abschiebung und Aki Kaurismäkis Filmmärchen "Le Havre" sowie Felix Hartlaubs Buch "Kriegsaufzeichnungen aus Paris" und Thomas Glavinic Pilgerbericht "Unterwegs im Namen des Herrn" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Welt, 29.09.2011

Sven Kellerhoff erinnert an das Massaker von Babi Jar, bei dem vor siebzig Jahren 33.771 Kiewer Juden erschossen wurden. Es war der Auftakt zum Holocaust und blieb das größte Einzelverbrechen: "Mehr Menschen am selben Ort und in nur zwei Tagen sind selbst in den reinen Mordfabriken der SS auf polnischem Boden wie Belzec, Treblinka und natürlich Auschwitz nie umgebracht worden." (Hier ein Auszug aus dem Dokumentenband zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden.)

Weiteres: Ulrich Weinzierl wünscht sich einen Roman über den Kölner Kunstfälscher Wolfgang Beltracci. Henryk Broder geht noch einmal zu ihrem Achtzigsten vor Anita Ekberg auf die Knie. Ulf Poschardt empfiehlt nachdrücklich Jean-Luc Godards "Film Sozialisme" als spätes Meisterwerk. Besprochen werden außerdem eine Karikaturen-Ausstellung im New Yorker Metropolitan (ob auch die Mohammed-Karikaturen gezeigt werden, sagt Hannes Stein nicht), Michael Glawoggers Dokumentarfilm über die Prostitution "Whore's Glory" und Achim von Borries' Kriegsdrama "Vier Tage im Mai".

TAZ, 29.09.2011

Thomas Abeltshauser berichtet vom Filmfestival San Sebastian, herausragend fand er - neben der Politgroteske "Todos tus muertos" von Carlos Moreno - "Las razones del corazon" des mexikanischen Altmeisters Arthur Ripstein, der Flauberts "Madame Bovary" ins heutige Mexiko verpflanzt. "Das in Schwarz-Weiß fotografierte Drama spielt komplett im Mietshaus, in der zugemüllten Wohnung der Frau, im Flur und auf dem Dach, wo der kubanische Musiker sein kleines Zimmer hat. Das habe vor allem mit dem geringen Budget zu tun, erzählt Ripstein bei der Premiere. Seine Meisterschaft liegt nicht zuletzt darin, aus einem solchen Mangel ein surreal klaustrophobisches Melodram und vor allem großes Kino mit einer komplexen, widersprüchlichen Heroine zu machen."

Jan Freitag unterhält sich mit Farin Urlaub, Gründungsmitglied der Punkband Die Ärzte und Hobbyfotograf, von dem am Samstag ein neuer Bildband über Australien und Osttimor erscheint. Arno Frank berichtet über den Kölner Prozess gegen den Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi, dem das vom deutsch-niederländischen Maler Heinrich Campendonk verwendete Titanweiß zum Verhängnis wurde.

Besprochen das Spielfilmdebüt "Der große Crash" von J. C. Chandor über das Finanzsystem, der Dokumentarfilm "Whores Glory" des österreichischen Filmemachers Michael Glawogger, der in Bangkok, Faridpur und Reynosa den ausbeuterischen Existenzbedingungen von Prostituierten nachgeht, die DVD von Rainer Werner Fassbinders Film "Despair - Eine Reise ins Licht" von 1977/1978 mit Dirk Bogarde und Andrea Ferreol, außerdem das dritte Album "Conatus" von Nika Roza Danilova alias Zola Jesus.

Und Tom.

FR/Berliner, 29.09.2011

Sylvia Staude besichtigt die Ausstellung "Crepusculum" der isländischen Künstlerin Gabriela Fridriksdottirs in der Frankfurter Schirn. In Times mager erklärt Judith von Sternburg die Empfindlichkeiten der Texaner. Besprochen werden unter anderem J. C. Chandors Finanzthriller "Der große Crash", Christian Ditters Fantasyfilm "Wickie auf großer Fahrt", Steinunn Sigurdardottirs Roman "Der gute Liebhaber" und Eugen Ruges Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).
Stichwörter: Ruge, Eugen, Texas

SZ, 29.09.2011

Tobias Kniebe war dabei, als Roman Polanski nach zwei Jahren Verspätung den Ehrenpreis vom Zürcher Filmfest entgegen nahm und dabei gleich noch den Interviewfilm "Roman Polanski - A Film Memoir" zeigte (zu diesem mehr hier). "lawe" berichtet vom Vorhaben des Berliner Architekturbüros realities:united, einen Teil der Spree als öffentliches Schwimmbecken nutzbar zu machen (mehr dazu hier). Fritz Göttler blickt freudig auf das heute in München startende Filmfestival "Underdox". Nicht provozieren, profitieren wolle der neue "Radical Chic", stellt Laura Weissmüller fest, nachdem sie den neuen Levi's-Werbespot (hier) gesehen hat, der mitunter auch die Ästhetik des Straßenkampfs für sich appropriiert. Viele von Bob Dylans Malereien seien von Fotografien abgemalt, berichtet Jörg Häntzschel. Geburtstagsgrüße gehen an Anita Ekberg (80), den Verleger Wolfgang Beck und den Schriftsteller Gaston Salvatore (je 70).

Besprochen werden der neue Godard-Film "Film Socialisme" (mehr), Robert Redfords neuer Film "Die Lincoln Verschwörung" (mehr) und "Das kleine Zimmer" (mehr), die Willem-de-Kooning-Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art, Nurkan Erpulats Kafka-Interpretation "Das Schloss" in der Turbinenhalle Bochum und Bücher, darunter ein frischer Interviewband von Loriot (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 29.09.2011

Gelingen Revolutionen nur im Offenen? Im Interview spricht Umberto Eco über seinen neuen Roman "Der Friedhof in Prag", in dem es um die antisemitischen "Protokolle der Weisen von Zion" und andere Verschwörungstheorien geht. Diese begannen im 19. Jahrhundert in allen Teilen Europas zu sprießen, besonders während des Risorgimentos: "Es war die Epoche der nationalen Befreiungen. In jedem Land gab es Geheimorganistaionen. Alle politischen Aktivitäten zur nationalen Unabhängigkeit fanden im Verborgenen statt. Während die Französische Revolution noch ein Open-Air-Ereignis war, wurde die Revolution im 19. Jahrhundert zu einer Verschwörung. Garibaldi hat niemanden informiert über seinen Marsch nach Sizilien."

Weiteres: Keinen Trost, keine Hoffnung, keinen Gott konnte Thomas E. Schmidt in Lars von Triers Weltuntergangsfilm "Melancholia" entdecken, der nächste Woche in die Kinos kommt: "Feist und schön steht der Planet am Himmel, reine blöde Natur." Nina Pauer berichtet von der Entwicklerkonferenz, auf der Mark Zuckerberg seine Timeline vorstellte. Moritz von Uslar trifft in Wien den Schauspieler Ben Becker, der von seinem Ziehvater das Trinken und den Sinn für den theatralischen Auftritt gelernt hat. Gelangweilt hat Heinrich Wefing Julian Assanges "nicht autorisierte" Autobiografie gelesen, die der Verlag ohne Assanges Einverständnis zu Ende schreiben ließ (mehr dazu hier): "Als Quelle, gar als 'politisches Manfest', ist dieses Buch ein Totalausfall." Lisa Herzog lehrt uns, Adam Smith richtig zu lesen. Evelyn Runge begleitet das palästinensische Freedom Theatre aus Dschenin, dessen Gründer vor wenigen Monaten ermordet wurde, auf seiner Tournee durch Deutschland.

Besprochen werden Armin Petras' Berliner Dramatisierung von Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" (die Maximilian Probst nur halb geglückt findet: "Ein halber Littell taugt aber gar nichts.") sowie die Romane des Kenianers Ngugi wa Thiong'o und Bücher über Gewalt in der Pädagogik (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 29.09.2011

Eine monumentale Ausstellung mit rund 200 Arbeiten von Willem de Kooning im Museum of Modern Art in New York hat Jordan Mejias ganz und gar in ihren Bann geschlagen: "Sage nun niemand mehr, unsere radikal ernüchterte Gegenwart habe Abschied genommen vom Helden. Das Museum of Modern Art hat ihn wieder aufgespürt, blockbustermäßig, wie es sich gehört, wenn wir vom Sehen und Singen und Sagen überwältigt werden sollen. [...] Wer Willem de Kooning als Helden erleben will, der seine Taten aus einer emotional aufgeladenen Logik entwickelt und sich dabei von keinen künstlerischen Strömungen und Zeitzwängen aus der Bahn werfen lässt, muss nach New York kommen."

Weiteres: Was bleibt vom Nationalstaat, fragt sich Stefan Schulz, wenn sich das Handlungsvermögen zusehends in die Europäische Union verschiebt. In der Reihe über Gentrifizierung blickt Andreas Platthaus nach Leipzig. Andreas Rossmann kommentiert die jüngsten Wortmeldungen im Streit um die Beuys-Stätte Schloss Moyland. Im Gespräch verrät Robert Redford, dessen neuer Film "Die Lincoln Verschwörung" diese Woche anläuft, Verena Lueken, dass ihm auch im Alter nicht mehr alle Türen Hollywoods ohne weiteres offenstehen. Bert Rebhandl stellt das australische cinephile Online-Magazin "Senses of Cinema" vor, das derzeit zur Existenzsicherung um Spenden bittet. Marta Kijowska hat den Nachruf auf die polnische Schriftstellerin Ida Fink verfasst.

Besprochen werden eine neue CD mit Aufnahmen aus dem Archiv der Metropolitan Opera, Robert Redfords neuer Film "Die Lincoln Verschwörung" (mehr), das Stück "Der 30. September" am Stuttgarter Schauspiel, das sich darin mit der Niederschlagung der Proteste gegen "Stuttgart 21" befasst, und Bücher, darunter Ippolito Nievos Roman "Ein Engel an Güte" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).