Heute in den Feuilletons

Das Aufsetzen der Nadel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2011. In der FR lehrt Navid Kermani: Nackte Realpolitik ist realpolitisch selbstmörderisch. Mit Blick auf Pakistan kann Christopher Hitchens dies in Slate auf jeden Fall bestätigen. Die NZZ spürt den modernen Wurzeln des amerikanischen Fundamentalismus nach. In der Welt bemisst Catherine Hakim das erotische Kapital von Christine Lagarde. Und die FAZ bewundert die Porträts der amerikanischen Künstlerin Taryn Simon

FR/Berliner, 27.09.2011

Daniel Haufler und Harry Nutt unterhalten sich mit Navid Kermani über seinen Tausendseiten-Roman "Dein Name", vor allem aber über Islam, Politik und das exemplarische Scheitern der US-Politik im Iran: "Die iranisch-amerikanische Geschichte ist ein Lehrbeispiel, wie verhängnisvoll und schädlich - für die eigenen Interessen - eine Politik ist, die die eigenen Wertvorstellungen zugunsten scheinbarer ökonomischer und strategischer Vorteile verrät. Dieses Beispiel wiederholt sich an vielen Orten, nehmen Sie nur Afghanistan und die westliche Unterstützung der Taliban. Oder Europas langjähriger Pakt mit den Diktaturen Nordafrikas. Nackte Realpolitik ist realpolitisch selbstmörderisch."

Weitere Artikel: Den Rückzug aufs Altenteil des Asterix-Zeichners Albert Uderzo vermeldet Jens Balzer - und fügt, auch wenn Uderzo es nicht ganz explizit gemacht hat, hinzu, dass dieser sich Frederic Mebarki (als Zeichner) und Jean-Yves Ferri (als Szenaristen) als Nachfolger ausgeguckt habe. Judith von Sternburg schreibt eine "Times Mager" über vergangene, aber nicht vergessene Geräusche wie das Aufsetzen der Nadel in der Plattenrille oder das "Zurückschnarren" der Telefon-Wählscheibe.

Besprochen werden die deutsche Erstaufführung von Daniel Karasiks Stück "Die Unschuldigen in Mainz", Alvis Hermanis' "Das weite Land"- und Stefan Bachmanns "Perikles"-Inszenierung am Burgtheater, Sebastian Hartmanns Theaterversion von Ingmar Bergmans "Fanny und Alexander" in Leipzig, ein Auftritt des Chamber Orchestra of Europe in Frankfurt und die Ausstellung "Auf der Suche nach einer verlorenen Sammlung" im Berliner Centrum Judaicum.

Aus den Blogs, 27.09.2011

"Der Feind ist Pakistan", möchte Christopher Hitchens einmal mehr klarstellen, da sich herausgestellt hat, dass der pakistanische Geheimdienst die kriminelle Haqqani-Familie beauftragt hat, die amerikanische Botschaft in Kabul in die Luft zu jagen. Warum weiter an dem Land festhalten? "It shows American prestige and resources being used, not to diminish the power of 'rogue' elements in the Pakistani system, but to enhance and empower them. It makes us look like fools and suckers, which is what we have become, unable to defend even our own troops, let alone civilian staff and facilities, from deadly assaults not just from the back but-flagrantly, unashamedly-from the front."

TAZ, 27.09.2011

Als wichtiges Werk würdigt Klaus Hillenbrand Arno Lustigers Buch "Rettungwiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit": "Lustigers Verdienst ist es, zum ersten Mal die verschiedenen Formen des Rettungswiderstands zu thematisieren, über Deutschland hinaus die unterschiedlichen Beispiele für die Hilfe für Juden in den besetzten, den neutralen und den alliierten Staaten vorzustellen. Rettungswiderstand, das wird deutlich, ist mehr als das Verstecken einzelner Menschen oder ganzer Familien durch mutige Nichtjuden. Mehr als das systematische Fälschen von Papieren, die Organisierung von Lebensmitteln oder die Hilfe von Mithäftlingen in Konzentrationslagern."

Weitere Artikel: Isolde Charim berichtet, wie der Rapper Sido sich als Fernsehjuror mit der in Österreich allmächtigen Kronenzeitung anlegte: auf Youtube ist die Konfrontation zu bewundern. 

Besprochen werden Nurkan Erpulats "Schloss"-Inszenierung bei der Ruhrtriennale, die Ausstellung "Auf der Suche nach einer verlorenen Sammlung" im Berliner Centrum Judaicum und Woong Ming Jins Film "Tiger Factory".

Und Tom.

Welt, 27.09.2011

Die Londoner Soziologin Catherine Hakim spricht im Interview mit Andrea Seibel über die Bedeutung guten Aussehens und positiver Ausstrahlung für den gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg - das erotische Kapital: "Ich habe nie gesagt, dass Frauen Sex-Appeal am Arbeitsplatz einsetzen oder dass sie sich 'hochschlafen' sollen. Erotisches Kapital hat zwei Seiten - die physische und die soziale Attraktion. Mein Paradebeispiel wirkungsvoller Anziehungskraft und Schönheit ist Christine Lagarde, die nunmehrige IWF-Chefin. Eine kompetente und intelligente Frau. Sie hat in ihr Aussehen investiert, ihren Stil, ihre Eleganz, ihre guten Manieren. Ich kann verstehen, dass die amerikanische Vanity Fair sie als eine der bestangezogenen Frauen der Welt bezeichnet. Das hat nichts mit Sexualität zu tun, sondern mit sozialer Eleganz, Selbstdarstellung, das ist soziale Attraktivität."

Manuel Brug und Marco Frei inspizieren die neuen Konzerthäuser von Helsinki (mit Sauna) und Montreal. Besprochen werden Armin Petras' Dramatisierung von Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" in Berlin und Andrea Hanna Hünnigers Geschichte einer Jugend nach der Mauer "Das Paradies".

NZZ, 27.09.2011

Francis Müller rekonstruiert die historische Entwicklung des religiösen Fundamentalismus in den USA, von seinen Anfängen bis zur Tea-Party-Bewegung. Vor allem beweise er ein sehr zweischneidiges Verhältnis zur Moderne: "Einerseits lehnen die Fundamentalisten die Moderne ab, zugleich lesen sie die Bibel mit einer rationalen und modernen Worttreue, die an den Wahrheitsbegriff des englischen Wissenschaftstheoretikers Francis Bacon anknüpft. Die Bewegung ist von ebenjener Modernität durchdrungen, die im Zentrum ihrer intellektuellen Kritik steht. Fundamentalismus ist nicht mit Traditionalismus zu verwechseln, es handelt sich nicht um eine 'Rückkehr ins Mittelalter', wie der Religionssoziologe Martin Riesebrodt sagt, sondern um eine 'zeitgenössische Form des Widerstandes gegen Aspekte der Moderne'."

Weitere Artikel: Alfred Schlienger hat sich im Theater Basel Simon Solberg Inszenierung von Henrik Ibsens "Ein Volksfeind" angesehen. Das Festival für Neue Musik in Rümlingen hat Michelle Ziegler besucht. Klug und reich und schön findet Joachim Günter das Merkur-Heft über den Nonkormismus und vermisst darin eigentlich nur eine ostdeutsche Stimme. Von der Weltjahreskonferenz des Internationalen Presseinstituts (IPI) und deren nicht gerade rosigen Bilanz zur Lage der Pressefreiheit, berichtet Markus Spillmann auf der Medienseite.

Besprochen werden Martin R. Deans Roman "Ein Koffer voller Wünsche", Alexander Dugins Programmschrift "Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie", der Briefwechsel zwischen Alfred Kubin und seinem Verleger Reinhard Piper und Kate McCanns Buch über ihre verschwundene Tochter "Madeleine" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 27.09.2011

"A Living Man Declared Dead", derzeit in der Neuen Nationalgalerie Berlin zu sehen, feiert Niklas maak als "eine der wichtigsten Ausstellungen des Jahres". In einer Reihe von Porträtserien befasst sich Taryn Simon (Website) darin mit außergewöhnlichen Schicksalsfällen. Für Maak ist das alles dicht am Puls der Zeit: "Facebook hat auch die Geschichte des Porträts, die auch eine Geschichte zunehmender Kontrolle über das eigene Bild ist, verändert. Auch um diese Frage der Kontrolle des eigenen Bildes, die Frage, wer sich wo wie zeigen darf, geht es in Simons Arbeit. Kaum ein anderer Künstler der Gegenwart verändert die Bildtradition des menschlichen Porträts zurzeit so grundlegend wie sie; kein anderes Bild des Menschen beharrt so darauf, dass die conditio humana, der im Porträt aufscheinende Charakter einer Person, gemacht und nicht vererbt wird."

Viel wird von politischen Freiheiten nicht übrig bleiben, mutmaßt Jürgen Kaube in einem pessimistischen Artikel über staatliche Souveränität und die wachsende Rolle des ökonomischen Kommissariats in der EU: "Nur: Wer sagt den Mutter- und Musterländern der Demokratie, von Athen bis Paris, dass sie bloß noch Kommunen einer Wohlfahrtsgemeinschaft sind?"

Weitere Artikel: Von Depression keine Spur - mit einem prächtig aufgelegten Lars von Trier hat sich Verena Lueken in Kopenhagen auf einen Plausch über Romantik und Pornografie, über Hitlerdeutschland und weibliche Sexualität getroffen. Frank Pergande fasst einen auf den Uwe-Johnson-Tagen gehaltenen Vortrag von Matthias Braun zur Rolle der Stasi in der DDR-Literatur zusammen. Katja Gelinsky unterhält sich mit dem Rechtsphilosophen Christoph Möllers zum 60. Geburtstag des Bundesverfassungsgerichts über dessen heutige gesellschaftliche Relevanz.

Besprochen werden Nurkan Erpulats Interpretation von Kafkas "Das Schloss" in der Bochumer Turbinenhalle, das zweite Schostakowitsch-Festival in Gohrisch, eine Interpretation von Jonathan Littels Roman "Die Wohlgesinnten" am Maxim Gorki Theater Berlin und Bücher, darunter "Tinkers", das "grandios gescheiterte" Romandebüt von Paul Harding (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 27.09.2011

Tim Neshitov berichtet von einem geharnischten Vortrag des kamerunischen Politikwissenschaftlers Kum'a Ndumbe III. in Frankfurt wider den sorglosen Umgang Deutschlands mit seiner Kolonialgeschichte. Joseph Hanimann stellt verschiedene, mehr oder weniger erfolgreiche neue Konzepte der Denkmalpflege in Frankreich vor. Constantin Lieb berichtet von den Europäischen Literaturtagen in Spitz, Michael Stallknecht vom Nietzsche-Kolloquium in Sils-Maria. Wein trinkend hat sich Gottfried Knapp nach Heilbronn auf die Spuren des schwäbischen Romantikers Justinus Kerner begeben. Geburtstagsgrüße zum 80. gehen an Freddy Quinn.

Besprochen werden Armin Petras' Inszenierung von Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten" am Maxim Gorki Theater Berlin, der deutsche Science-Fiction-Film "Transfer" (mehr), die Ausstellung über die Düsseldorfer Malerschule von 1819-1918 im Museum Kunstpalast Düsseldorf, das chorische Theaterprojekt "30. September" am Schauspiel Stuttgart, das sich mit der Niederschlagung der Proteste gegen Stuttgart 21 befasst, und Bücher, darunter Marlene Streeruwitz' Roman "Die Schmerzmacherin" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).