Heute in den Feuilletons

Wir werden bankrottgehen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.09.2011. Die Welt erklärt, was der Papst meint, wenn er von der "Natur des Menschen" spricht. Nichts Gutes! In der taz hofft der griechische Schriftsteller Giannis Makridakis, dass Gutes aus der Krise seines Landes erwächst. Ohne die EU. In der NZZ erklärt der Zürcher Neurochirurg Arnaldo Benini, wie Krankheit zu Präzision zwingen kann. Die SZ fürchtet, dass Santiago de Compostela jenseits der jährlichen Pilgerscharen und trotz eines kaum fertig zu stellenden neuen Kulturzentrums nicht auf einen Bilbao-Effekt zählen kann.

NZZ, 24.09.2011

In Literatur und Kunst untersucht der Zürcher Neurochirurg Arnaldo Benini die Rolle von Karl Jaspers' schwerem Bronchial- und Herzleiden für sein Philosophieren: "Die Krankheit erzwang eine rigorose Kraftersparnis und einen wie von einem Metronom regulierten Rhythmus: Fünfundvierzig Minuten Arbeit (oft liegend) und fünfzehn Minuten Pause. Die Krankheit bestimmte auch Jaspers' Art zu sprechen: keine Abschweifungen, höchste Konzentration, Stringenz, Gegenwärtigkeit."

Weitere Artikel in der Samstagsbeilage: Der Psychiater Daniel Hell erinnert an C.G. Jung, der vor fünfzig Jahren gestorben ist. Martin Meyer liest eine Studie des Münchner Philosophen Heinrich Meier über Jean-Jacques Rousseau. Und Regina Keil-Sagawe erzählt von einem hoffnungsfrohen Aufschwung im marokkanischen Kulturleben, der vor allem von einer massiven Alphabetisierungskampagne getragen wird.

Im Feuilleton begibt sich Norbert Hummelt auf Spurensuche im schlesischen Lubowitz, wo Joseph von Eichendorff geboren wurde. Peter Glaser erinnert in der Kolumne "When the Music is Over" an den heroischen Moment von Punk und an Kraftwerk. Besprochen wird eine Retrospektive mit Dieter Roths Selbstporträts im Aargauer Kunsthaus.

Welt, 24.09.2011

Richard Kämmerlings nennt den Preis für all die schönen Formeln in der Bundestagsrede des Papstes: "Wenn der Papst sagt, der Mensch solle seine Natur achten und sich annehmen 'als der, der er ist', impliziert genau das die Ablehnung der Homosexualität als eben 'widernatürlich', die Verwerfung von Abtreibung und Verhütung (weil Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau eben seiner 'Natur' nach auf Fortpflanzung hin angelegt ist),auch die 'naturgegebene' Verschiedenheit der Geschlechter et cetera pp."

Weitere Artikel im Feuilleton: Hans-Joachim Müller trifft den großen Museumsmann Götz Adriani zum Essen. Sarah Elsing beleuchtet die Rolle der Frauen in der Landschaftsarchitektur.

Besprochen werden die Ausstellung "Tür an Tür, Polen - Deutschland, 1000 Jahre Kunst und Geschichte" im Brliner Martin-Gropius-Bau und eine Dramatisierung von Viscontis "Verdammten" im Hamburger Schauspielhaus.

In der Literarischen Welt fragt Michael Kleeberg: "Was wäre gewesen, wenn Klaus Mann noch die Bonner Republik und die Wiedervereinigung erlebt hätte?" Hubert Haddad wirft in seiner Koumne einen Blick auf den gegenwärtigen Stand der tunesischen Revolution. Wieland Freund geht dem Gerücht nach, dass es demnächst einen Hanser Berlin-Verlag mit der Berlin-Verlagsleitern Elisabeth Ruge geben soll. Buch der Woche ist Antonio Munoz Molinas "Die Nacht der Erinnerungen" über Spanien 1936 (ziemlich kritisch besprochen von Heinrich von Berenberg). Paul Jandl unterhält sich mit dem schwedischen Autor Steve Sem-Sandberg, der einen Roman über das Getto von Lodz geschrieben hat. Besprochen werden außerdem Jeremy Rifkins neues Buch "Die dritte industrielle Revolution" und David Simons Dokumentarroman "Homicide".

TAZ, 24.09.2011

Es muss in Griechenland alles noch schlimmer werden, bevor es wieder besser wird, meint der EU-kritische Schriftsteller Giannis Makridakis: "Diese Krise wird vielen eine Lehre sein, und sie wird Griechenland verändern. Wir werden bankrottgehen - wir müssen bankrottgehen -, um dann mit einem anderen Kurs neu anzufangen. Ich bin optimistischer als vor zehn Jahren. Für Griechenland gibt es Hoffnung, nach dem offiziellen Bankrott werden sich die Dinge zum Guten wenden."

Weitere Artikel: Philipp Gessler macht sich als akkreditierter Papst-Journalist seine Gedanken übers Leben der vom Volk Abgeschirmten und ihrer Entourage. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne geht es um Polarforschung und ihren Antrieb. Anja Maier erinnert an den jüngst verstorbenen Fotografen Arno Fischer

Besprochen werden Jean-Luc Godards jüngstes Alterswerk "Film Socialisme", das neue Erdmöbel-Album "Retrospektive", CDs mit balkanisch inspirierter mexikanischem Folk, und Bücher, darunter Jan Brandts großer Roman "Gegen die Welt" und Jesse Berings antikreationistische Aufklärungsschrift "Die Erfindung Gottes. Wie die Evolution den Glauben schuf".

Und Tom.

FR/Berliner, 24.09.2011

Christian Thomas liest jüngste Literatur zur Finanzkrise und gelangt zum Ergebnis, dass Kapitalismuskritik über die aktuelle Konjunktur hinaus ihre Notwendigkeit hat. Karl Grobe nimmt in einer "Times Mager" den 100. Geburtstag eines vietnamesischen Generals zum Anlass, auf das heute staatskapitalistische Land und den fast schon vergessenen Krieg zu blicken. Daniel Kothenschulte gratuliert dem Studio Babelsberg zum 100. Geburtstag.

Besrpochen werden die Inszenierung von Ray Rooneys Screwball-Comedie "Lügen haben junge Beine" an der Komödie Frankfurt, Karin Neuhäusers "Was ihr wollt"-Inszenierung am Theater an der Ruhr und Craig Thompsons Graphic Novel "Habibi".

FAZ, 24.09.2011

Eine europäische Forschergruppe hat beim Versuch in einem "Untergrundlabor" festgestellt, dass Neutrinos womöglich schneller sind als Licht - Sensation! -, was Einsteins Relativitätstheorie auf den Kopf stellt, berichtet Manfred Lindinger (mehr hier und hier). Archäologen, die Norddeutschland umgraben, bevor dort die Ostsee-Pipeline verlegt wird, haben schon viele schöne Sachen gefunden, darunter - Sensation! - eine Venus aus der Eiszeit, berichtet Thomas Brock. Julia Schramm (Blog) erklärt, warum sie Mitglied der Piratenpartei wurde: "Bereits in jungen Jahren fühlte ich eine unbestimmbare Abneigung gegen den synthetischen Konsens der westlichen Welt. Ich wollte rebellieren..." In der Glosse sieht Christian Geyer Facebook zur "Anstalt für enthemmte Charaktere" werden, nachdem Mark Zuckerberg angekündigt hat, Facebook als digitales Lebensarchiv anzbieten. Jürgen Dollase ärgert sich über unseren Umgang mit Gemüse. Hannes Hintermeier reist dem Papst ins thüringische Eichsfeld nach, wo immer noch "79,5 Prozent der Bevölkerung katholisch" sind. Der Stiftungsrat der Max-Frisch-Stiftung hat beschlossen, trotz Ablauf der von Frisch verfügten 20jährigen Sperrfrist, weiterhin Teile des Nachlasses unter Verschluss zu halten, lesen wir in einer Meldung.

Besprochen werden zwei Inszenierungen am Hamburger Schauspielhaus: von Philipp Löhles "Das Ding" und Johan Simons' "Der Fall der Götter" sowie Bücher, darunter Inka Pareis Roman "Die Kältezentrale" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In Bilder und Zeiten schreibt Dietmar Dath über Edmond Hamiltons während des Zweiten Weltkriegs entstandene Abenteuerserie "Captain Future". Marc Degens streift durch Novi Sad. Hubert Spiegel besucht Leuck im Oberwallis, das den Trägern des Spycher-Literaturpreises fünf Jahre lang Wohnrecht gewährt. Die Sängerin Maren Kroymann erklärt im Interview, wie man "The Sun Ain't Gonna Shine Anymore", singt, auch wenn man keinen Bass hat.

In der Frankfurter Anthologie stellt Hans-Joachim Simm ein Gedicht von Goethe vor:

"Parabase

Freudig war, vor vielen Jahren,
Eifrig so der Geist bestrebt,
Zu erforschen, zu erfahren,
Wie Natur im Schaffen lebt. (...)

SZ, 24.09.2011

In blind begeisterter Nachfolge des sogenannten Bilbao-Effekts versucht Santiago de Compostela mit dem monumentalen Architekturprojekt eines riesigen, von Peter Eisenmann entworfenen Kulturgeländes Touristen anzuziehen. Ob das alles je fertig wird, steht angesichts der Finanzkrise in den Sternen. Es kommt dazu, so Laura Weissmüller, dass auch der Bilbao-Effekt selbst überschätzt wird: "Viele neue Arbeitsplätze? Fehlanzeige. Von den 4000 neu entstandenen Jobs in Hotels und Gastronomie ist nur jeder Vierte eine Vollzeitstelle, 40 Prozent davon sind miserabel bezahlt. Außerdem entlarvt sich der weltbekannte Effekt immer mehr als kulturell ummantelte Verdrängungsmaschine: In Bilbao sind in den Quartieren rund um das Museum die Immobilienpreise explodiert. Die Geringverdiener werden an den Stadtrand gedrängt. Staatlich finanzierte Gentrifizierung könnte man das nennen."

Weitere Artikel: Als Desaster von FDP-Ausmaßen bezeichnet Till Briegleb den weiteren Abstieg des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg unter seinem Interimsleiter Florian Vogel - jüngster Beleg: die katastrophal missratene Visconti-Vertheaterung "Der Fall der Götter" durch Stephan Kimmig. Astrid Mania bewegt sich durch die Kunst-Räume der Moskau Biennale (Website). In seiner Kairo-Kolumne sieht Khaled al-Khamissi Parallelen zwischen der ägyptischen Revolution und der Schwangerschaft der Frau des Taxifahrers, um den es diesmal geht: alles braucht seine Zeit. Grundsätzlich skeptisch betrachtet Burkhard Müller den nun per Umfrage ermittelten "Glücksatlas" - an die Quantifizierbarkeit von Glück nämlich glaubt er eher nicht.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende würdigt Heribert Prantl mit wenigen kritischen Spitzen das jetzt seinen Sechzigsten feiernde Bundesverfassungsgericht. Auf der Historienseite erinnert Joachim Käppner daran, dass Griechenland schon im 19. Jahrhundert unter seinem deutschen König Otto als Bankrotteur galt. Gabriela Herpell und Thomas Bärnthaler sprechen mit dem Schauspieler und Autor Josef Bierbichler, der jüngst aus Überzeugung auf der Bühne holzhackend auftrat: "Ich muss nicht sagen: Ich hacke das Holz fürs Fortpflanzungssystem."

Besprochen werden das zweite Münchner Konzert der Münchner Philharmoniker unter ihrem designierten neuen Leiter Lorin Maazel, diesmal mit Strawinsky und Strauss, Richard Siegals neue Choreografie "Civic Mimic", die im Dresdener Festspielhaus Hellerau zur Aufführung kam, die Uraufführung von Mathilda Onurs Drama-Erstling "Blinde Punkte, Sterne" in der Box des Deutschen Theaters Berlin, eine "Edvard Munch"-Ausstellung im Pariser Centre Pompidou, das neue Wilco-Album "The Whole Love", Joe Cornishs Alien-Thriller "Attack the Block" und, die Literaturseite allein füllend, Oskar Roehlers sehr autobiografischer Roman "Herkunft".