Heute in den Feuilletons

Seit er Babst worn is

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.09.2011. Die Welt erkennt in den Piraten die Partei der Nochnichtbesserverdienenden. Die taz fürchtet sich vor dem neuen islamistischen Machtkartell in der Türkei. Vor dem Papstbesuch geißelt die FR Benedikt für seinen unseligen Vorgänger Pius XII. In der NZZ erinnert Timothy Snyder an die multikulturellen Heere, die bei Wien auf beiden Seiten gekämpft haben. Und in der FAZ beklagt Martin Mosebach die Opfer der Gruppe 47.

Welt, 21.09.2011

Eine Sache nimmt Alan Posener der Piraten-Partei wirklich übel, und das ist ihre "bürgerliche Harmlosigkeit", die sich in einem sehr studentischen Programm äußert: "Dagegen spielen Ideen, die für weniger Privilegierte wichtig sind, wie drei freie Kita-Jahre für Geringverdienende oder Umschichtung der Schulausgaben zugunsten der Grundschulen in den Problembezirken, bei den Piraten gar keine Rolle. Man bekommt den Eindruck, die Piraten sind die Partei der Nochnichtbesserverdienenden, die später als Juristen in die FDP, falls es sie dann noch gibt, als Lehrer zu den Grünen oder als Webdesigner zur Röttgen-CDU gehen werden."

Weiteres: Sascha Lehnartz interviewt den französischen Autor Laurent Binet zu dessen nun auf Deutsch erscheinenden Roman "HHhH" (Himmlers Hirn heißt Heydrich), in dem es um das Attentat auf den SS-Chef durch tschechische Widerstandskämpfer geht. Hannes Stein gibt in der Randspalte zu Protokoll, wie prächtig er sich mit der amerikanischen Fernsehserie "Two and a Half Men" amüsiert.

Besprochen werden eine Ausstellung der Künstlerin Taryn Simon in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, Schostakowitschs "Nase" in der Inszenierung von Peter Stein und Ingo Metzmacher in Zürich, die Dramatisierung von Alfred Kubins Roman "Die andere Seite" am Schauspiel Frankfurt, das Album "Mediterraneo" des montenegrinischen Gitarristen Milos sowie das Album "Wir sind am Leben" der Band Rosenstolz (auf dem der Burnout Pop wird)

TAZ, 21.09.2011

Thomas Klatt ist in die Türkei gereist, um vor Ort Journalisten nach dem Stand der Pressefreiheit im Land zu befragen. Gut sieht es nicht aus: "Für kritische Journalisten werde es immer schwieriger, gegen das neue islamistische Machtkartell anzuschreiben, das in den letzten neun Regierungsjahren entstanden ist, behauptet etwa Miyase Ilknur, leitende Redakteurin bei der Cumhuriyet." Sie "beklagt außerdem eine schleichende Islamisierung der vorher streng laizistischen Türkei... Wenn man nicht betet und fastet und die Ehefrau kein Kopftuch trägt, dann ist es kaum noch möglich, dass man Karriere im öffentlichen Bereich macht."

Weitere Artikel: Zum Papstbesuch stellt Georg Seesslen einen Dialog im tiefen Bayern vor Augen mit Sätzen wie diesen: "I moan ollawei, seit er Babst worn is, kennt er seine Leit nimma, da Ratzinga." Zum selben Anlass erinnert Christian Semler an das Ende des 16. Jahrhunderts verfasste Pamphlet von den "drei Betrügern", nämlich Moses, Jesus und Mohammed. Gabriella Gönczy versucht in der Reihe zum Kleist-Jahr zu erklären, warum Heinrich von Kleist in Ungarn so beliebt ist.

Besprochen werden die Ausstellung "September 11" in der Moma-Filiale PS1 in New York, und die wenig verklausulierten Notizen des einstigen UN-Afghanistan-Sondergesandten Tom Koenigs "Machen wir Frieden oder haben wir Krieg?".

Und Tom.

NZZ, 21.09.2011

Der norwegische Attentäter Anders Breivik stilisierte in seinem kruden Manifest die Niederlage der Türken vor Wien zum historischen Symbol für die Verteidigung Europas gegen den Islam. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder zeigt, dass auf dem Schlachtfeld zwei damals schon multikulturelle Heere aufeinander trafen, die nur schwer voneinander zu unterscheiden waren: "Polnische Adlige kämpften mit Krummsäbeln. Sie rasierten ihre Köpfe und ließen sich lange Schnurrbärte stehen. Bevor sich die Reiter die Hänge des Kahlenbergs hinunterstürzten, befestigte jeder polnische Soldat einen Strohhalm an seinem Helm - ein mit den Österreichern verabredetes Zeichen, das diesen erlauben sollte, zwischen den polnischen Verbündeten und dem gemeinsamen türkischen Feind zu unterscheiden." (In der NZZ steht der Text nicht online, hier aber das englische Original).

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel berichtet vom Deutschen Kongress für Philosophie in München. Eva Dietrich hat in der Wiener Hermesvilla die entrückte Welt des Malers und Sandalenpropheten Wilhelm Diefenbach betrachtet. Kuriosen Hausrat hat sich Karin Leydecker in der Designausstellung "kkaarrlls!" im Badischen Landesmuseum Karlsruhe angesehen.

Besprochen werden Peter Roseis Roman "Geld!", Ronald D. Gerstes historisches Sachbuch "Roosevelt und Hitler", sowie Georg Stanitzeks Buch über den Essay in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Bisher nur auf Englisch erschienenen ist jetzt die Abschrift des Originalmanuskripts von Spinozas "Ethik", die in den Archiven des Vatikans entdeckt wurde (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FR/Berliner, 21.09.2011

Zum Papstbesuch erinnert der Kirchenkritiker Karlheinz Deschner daran, dass Benedikt XVI. seinen Vorgänger Pius XII. selig zu sprechen gedenkt, den von Deschner wie folgt charakterisierten "Faschistenkomplizen": "Natürlich hatte er keine Sympathien für Hitlers Antiklerikalismus, natürlich hatte er diesen stets verdammt, aber er schätzte seine Vernichtung der Liberalen, Sozialisten, Kommunisten, nichts konnte ihm willkommener sein. Und so strebte er seit langem ein 'Freundschaftsverhältnis' zu Deutschland an, betonte er immer wieder, dass er es liebe, dass er sich 'der Größe, des Aufschwungs und des Wohlstandes Deutschlands' erfreue, dass er 'ein blühendes, großes und starkes Deutschland' wolle."

Weitere Artikel: Anlässlicher jüngerer Interview-Skandale (Grass, Baumann) fände es Harry Nutt in einer Times Mager gut, wenn man den Ton von Gesprächen irgendwie mittranskribieren könnte.

Besprochen werden der Spielzeitstart der Oper Köln mit Sergej Prokofjews "Krieg und Frieden", ein Konzert des Minguet-Quartetts mit Peter Ruzickas Streichkonzerten in Frankfurt, Christopher Rüpings Theaterversion von Alfred Kubins Roman "Die andere Seite", John Maddens Thriller "Eine offene Rechnung", Alice Schwarzers Erinnerungen "Lebenslauf" und Angelika Klüssendorfs Roman "Das Mädchen".

Aus den Blogs, 21.09.2011

Mit einem riesigen blauen Pfeil weist Google auf seiner Homepage darauf hin, dass sein Google+ ab jetzt der Allgemeinheit offen steht. Für Jason Kincaid auf Techcrunch ein klares Zeichen, dass der Konzern alles tun wird, um seinem sozialen Netzwerk zum Erfolg zu verhelfen: "Granted, this isn?t the first time Google has run ads on its homepage to promote its own products: for example, it?s previously run ads for its Nexus phones, and it recently ran text ads promoting Google Offers to users in some areas. But as far as I can remember, all of these ads have been subtle - some text and maybe a small graphic centered beneath the search bar."
Stichwörter: Google, Soziale Netzwerke

Weitere Medien, 21.09.2011

Für den Bayerischen Rundfunk haben Elfriede Jelinek und Herbert Kapfer ihre E-Mail-Korrespondenz zur Hörspieladaption von Jelineks Internetroman "Neid" getrennt voneinander eingesprochen: Die Aufnahme kann man sich im Hörspielpool des Senders oder direkt hier (mp3, ca. 50mb) anhören. Die rund zehnstündige Hörspielproduktion wird ab Oktober ausgestrahlt (mehr).

SZ, 21.09.2011

Der Theologieprofessor Friedrich Wilhelm Graf referiert die geistlichen und weltlichen Körper des Papsts, die diesem offensichtlich eine ziemliche Wendigkeit zwischen kirchlichem und staatlichem Recht gestatten. Christopher Schmidt berichtet, dass Kolbus, der alleinige Sponsor des Mindener Candide-Preises, die Vergabe des Preises an Peter Handke, trotz vertraglich versicherter Unabhängigkeit der Jury, unterbunden hat. Viel Gefallen findet Jörg Hänzschel an der Autobiografie von Michael Moore, in der man wie in einem Fotoalbum blättern könne, um so einen "bescheideneren Moore" kennenzulernen. Irmela Spelsberg stellt den "Arbeitskreis deutscher und polnischer Kunsthistoriker" vor. Catrin Lorch berichtet von der Kunstbiennale in Istanbul. Geburtstagsglückwünsche gehen an Larry Hagman (80) und den Jazz-Schlagzeuger Chico Hamilton (90).

Besprochen werden neue CDs, Tilmann Köhlers Interpretation vom "Kaufmann von Venedig" am Staatsschauspiel Dresden, die Spielzeiteröffnung am Royal Opera House in London mit Puccinis "Trittico", der Film "Eine offene Rechnung" (mehr) und Bücher, darunter ein Überblick über "Gottesbeweise von Anselm bis Gödel" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 21.09.2011

Abgedruckt ist eine in Stockholm gehaltene Rede von Martin Mosebach, der darin Tendenzen der deutschen Literatur jenseits der hegemonialen Gruppe 47 skizziert: "Das eigentlich Beklagenswerte am überwältigenden, mit zwei Nobelpreisen bedachten Erfolg der Gruppe 47 bleibt bis heute, dass sie wie ein Paravent die Leistungen verdeckte, die nicht aus ihrer Mitte stammten."

Gerhard Rohde weiß, weshalb sich die Hamburgische Staatsoper für "Don Giovanni" (mehr) die Filmregisseurin Doris Dörrie ins Haus geholt hat: Nichts als Spekulation! "Andere Intendanten aber wollten auch einen Dörrie-Aufreger, weil ihre Bühne damit automatisch in den Blick der überregionalen Feuilletons rücken würde, koste es künstlerisch, was es wolle."

Weitere Artikel: Im Kommentar zum relativ milden U-Bahn-Treter-Urteil wünscht sich Regina Mönch auch für junge Leute aus weniger bürgerlichen Verhältnissen und ohne Ausblick auf Abitur eine "zweite Chance". Joseph Croitoru berichtet von Protesten israelischer Kulturschaffender gegen ein gerade in der Siedlung Kirjat Arba nahe Hebron eröffnetes Kulturhaus. Rainer "Don Alphonso" Meyer berichtet vom bayerischen Dorf Gmund am Tegernsee, wo man zwar Prunk, aber keine Sahne einkaufen kann.

Besprochen werden das Einstandskonzert des designierten neuen Chefdirigenten Lorin Mazel an der Münchner Philharmonie, zwei Kleist-Adaptionen im Schauspielhaus Hannover (mehr hier und dort), die Grusel-Oper "Turn of the Screw" nach der gleichnamigen Erzählung von Henry James am Theater an der Wien (hier ein Video), der Film "Hell" (mehr) und Bücher, darunter Dieter Hildebrandts Polemik gegen den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).