Heute in den Feuilletons

Tuttlingen, ach was: Bopfingen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2011. In der Welt prangert György Dalos Ungarns Hasskultur an. Oskar Roehler spottet in derselben Zeitung über die Provinzialität der Gruppe 47. Die FAZ bereitet uns auf die Zukunft vor, in der Fortschritt nicht mehr individueller Erkenntnis entspringt. Außerdem fragt sie: Wenn die Tagesschau-App unzulässig ist, warum sollte die ARD dann damit Geld verdienen müssen? Die NZZ sichtet bunte Hühner auf der Kunstbiennale von Lyon. Und die taz geht vor Crazy Bitch in a Cave in die Knie.

Welt, 17.09.2011

Boris Kalnoky unterhält sich mit György Dalos über die vergiftete politische Stimmung in Ungarn: "Seit den neunziger Jahren entstand eine Hasskultur statt einer politischen Kultur. Das ist nicht nur Parteienkampf, es gibt ungeheure soziale Spannungen, die aufgelöst werden müssen. Aber keiner begibt sich von seiner Fläche, und die Positionen, auf denen sich die Parteien befinden, machen das Gespräch unmöglich. "

Außerdem im Feuilleton: Stefan Kirschner bilanziert die Arbeit von Kultursenator Wowereit, der morgen wiedergewählt wird. Matthias Heine zitiert ein Soli-Papier der Schaubühne, das an die Ermordung des israelisch-palästinensischen Theatermachers Julian Mer-Chamis erinnert und dabei viel über die israelische Besatzung spricht und gar nicht über die Islamisten, die die Tat wahrscheinlich begingen. Andreas Rosenfelder ging mit dem Bauern Rolf Henke essen, der die Berliner Promikantine Grill Royal mit Steaks beliefert. Dankwart Guratzsch freut sich über die Restaurierung des gotischen Rathauses von Wesel am Niederrhein..

Für die Literarische Welt bespricht Tilman Krause Oskar Roehlers autobiografisches Buch "Herkunft" - eine Abrechnung mit der Gruppe 47, denn Roehler war nicht nur Sohn Gisela Elsners, sondern auch des Grass-Lektors Klaus Roehler. Dass er besonders freundlich über die Gruppe 47 denkt, kann man nicht behaupten - und Tilman Krause kann ihm nur zustimmen: "Wolfgang Koeppen mit seinen angestrengten Versuchen, es John Dos Passos gleichzutun, Martin Walser, der mit seinen 'Ehen in Philippsburg' einen Roman über Stuttgart, immerhin Hauptstadt Baden-Württembergs, schreibt, als ginge es um Tuttlingen, ach was: Bopfingen - das ist ja in der Tat, anders als es von interessierter Seite unablässig repetiert wird, international kaum vorzeigbar."

Weitere Artikel: In ihrer Kolumne "Bücher von Frauen" liest Ruth Klüger Angelika Klüssendorfs Roman "Das Mädchen". Doppelseitig werden Auszüge aus dem Briefwechsel Joseph Roths und Stefan Zweigs abgedruckt, dessen neue Edition Peter Stephan Jungk bespricht. Tobias Schwartz unterhält sich mit dem Popliteraten Thomas Meinecke. Reinhard Mohr liest das Buch "Richter ohne Gesetz" des Fernsehjournalisten Joachim Wagner, der über die islamische Paralleljustiz in deutschen Städten recherchierte. Und schließlich stürzt Theodore Dalrymple das Denkmal des "totalitären" Architekten Le Corbusier.

Zu den besprochen Büchern gehört außerdem Eugen Ruges Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" (mehr hier).

NZZ, 17.09.2011

Samuel Herzog besucht die Kunstbiennale von Lyon (Website), die unter der bei William Butler Yeats geborgten Überschrift "A Terrible Beauty Is Born" steht. So richtig verständlich findet er das hochtheoretische Kuratorenkonzept nicht, von der strengen Besucherführung fühlt er sich gegängelt. Aber es gab ja noch die Hühner: "In einem futuristisch geformten Gehege lässt Laura Lima rund 40 'Gala Chicken' auftreten, deren natürliches Kleid sie mit Hilfe einer Haarverlängerungstechnik um bunte Federn ergänzt hat. Ähnlich wie bei Menschen im Karnevalskostüm soll der Schmuck laut der Brasilianerin das Sozialverhalten der Hühner verändern. Überprüfen können wir das kaum, da fehlt uns die entsprechende Erfahrung, ein Augenschmaus aber sind mit fremden Federn geschmückte Poulets auf jeden Fall."

Als Aufmacher von Literatur und Kunst bespricht Angela Schader den monumentalen Roman "The Tunnel" von William Gass, der fünfzehn Jahre nach seinem Erscheinen im Original nun auch in deutscher Sprache zu haben ist. Ein Roman als "orchestraler sprachlicher Kraftakt, der vom Limerick bis in die assoziative Fuge, vom geschichts- oder sprachphilosophischen Exkurs bis zum genießerisch ausgekosteten Inventar eines Süßwarenladens reicht". Für ein ausführliches Gespräch hat Sven Ahnert den heute 87jährigen Gass in St. Louis besucht und bekommt unter anderem einen Auschwitz-Limerick zu hören. Corinne Holt erlebt die Proben zu Jossi Wielers und Sergio Morabitos Fassung der "Katia Kabanova" an der Staatsoper Stuttgart. Yahya Elasaghe geht "Infektionen und anderen Krankheiten" in den Romanen von Max Frisch nach.

Weitere Artikel: Das Lucerne Festival scheint, wie Peter Hagmann berichtet, in eine Phase der "Konsolidierung" und "Bereinigung" eingetreten zu sein. In der Reihe "When the Music's Over" bekommt Rolf Lappert bei der Erinnerung an die Plattenbestände seines großen Bruders glänzende Augen.

Besprochen werden Barbara Freys Züricher "Leonce und Lena"-Inszenierung, die Ausstellung "Political Patterns" in der Berliner Galerie IFA und weitere Bücher, darunter Gila Lustigers Roman "Woran denkst du jetzt".

TAZ, 17.09.2011

Sonja Eismann porträtiert den Wiener Discomusiker mit dem schönen Künstlernamen Crazy Bitch in a Cave. Vor allem die Bühnenauftritte haben es in sich: "Wie ein postgeschlechtliches Fabelwesen stöckelt Crazy Bitch in a Cave in mit Papierschnipseln beklebten High-Heels zum Mikrofon, erhebt, gehüllt in dekonstruktivistische Jungdesigner-Wallegewänder aus abenteuerlichsten Materialien, seine durchdringende Kopfstimme zu warmen Discobeats und versetzt das Publikum, wenn er sein kunstvoll aufgetürmtes Haar löst, in begeisterte Schockstarre. Bis zu den Knien fallen seine dunklen Rauschewellen in wilden Kaskaden, und, als ob das nicht genug des Wow-Effekts wäre, wirbelt er die Haarmassen rund um sein grell geschminktes Gesicht durch den ganzen Raum." 

Weitere Artikel: Svenja Bergt versucht die Beliebtheit der Piratenpartei zu erklären, die in jüngsten Umfragen zur Berliner Wahl bei bis zu neun Prozent liegt. Peter Unfried wiederum fragt, ob es Renate Künast für die Grünen "vergeigt" hat. Ingo Hinz stellt eine Studie vor, aus der hervorgeht, dass Migranten mehrheitlich und in wachsender Zahl das deutsche Fernsehprogramm sehen.

Besprochen werden Rolf Zachers Album "Danebenleben" und weitere Bücher, darunter Oskar Roehlers Roman "Herkunft" und ein Band mit Texten von Jacques Ranciere mit dem Titel "Moments politiques" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR/Berliner, 17.09.2011

Meist nicht sonderlich lustig fand Christian Schlüter, wie der Philosophenkongress in München sich unters Volk zu mischen versuchte. Immerhin gab es unter dem Motto "Welt der Gründe" auch Ereignisse der philosophisch solideren Art, wie die Verleihung des Nachwuchspreises für Philosophie an den Tunesier Sarhan Dhouib: "In seiner Arbeit habe er, so die Begründung, zentrale Stellen des Korans mit europäischen Menschenrechtskonzeptionen verglichen und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass Menschenrechte auch in islamischen Ländern begründbar sind. Dhouib erinnert in seiner Dankesrede daran, dass, während er über die Freiheit nur nachgedacht habe, seine Landsleute für sie gestorben seien."

Weitere Artikel: Mit dem Bauingenieur Manfred Grohmann wandert Christian Thomas auf zwei Seiten durch Frankfurt. In einer Times Mager denkt Stephan Hebel ohne Denkverbot über Denkverbote nach. Daniel Kothenschulte hat die neue Fassung von Ernst Lubitschs Monumentalstummfilm "Das Weib des Pharao" mit der originalen Orchestermusik vorab schon gesehen - Arte streamt die öffentliche Premiere auf der Berliner Museumsinsel heute ab 21 Uhr live im Internet.

Besprochen werden Leopold von Verschuers Kasseler Inszenierung von Kathrin Rögglas "Nicht wir", Bettina Bruiniers Inszenierung von Elfriede Jelineks "Winterreise" in Frankfurt und die Molekularküchendoku "El Bulli - Cooking in Progress".

SZ, 17.09.2011

Eine ganze Seite ist dem 22. Deutschen Kongress für Philosophie in München vorbehalten, in dessen Verlauf sich Jürgen Habermas grundsätzliche Überlegungen zum Ursprung von Sprache darlegte, während Slavoj Zizek "Kung Fu Panda 2" heranzog, um den momentanen Stand der Dinge zu illustrieren. Rudolf Neumaier berichtet von den Dreharbeiten eines norwegischen Films über den Forscher Thor Heyerdahl (mehr). Reinhard Brembeck unterhält sich mit Jossi Wieler, dem neuen Intendanten des Stuttgarter Opernhauses. Kurz und knapp berichtet Catrin Loch von der Kunstmesse Art Beat Istanbul. Laura Weißmüller führt durch eine Schau in München mit Arbeiten des exzententrischen, aber in Vergessenheit geratenen Architekten Carlo Mollino, der überdies noch Rennfahrer und Sportflieger war.

Besprochen werden der Film "Mein Stück vom Kuchen" (mehr) von Cedric Klapisch, die Ausstellung "Out of Storage" (mehr) mit Stücken aus den französischen Frac-Sammlungen in der Maastrichter Timmerfabriek, ein Konzert der Münchner Philhamoniker unter deren künftigen Chefdirigenten Lorin Maazel und das Romandebüt "Der Mond ist unsere Sonne" des Dramatikers und Regisseurs Nuran David Calis (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Für die Wochenendbeilage hat Christian Mayer beim Filmfestival in Venedig Martin Moszkowicz beobachtet, den langjährigen Vorstandschef der Constantin Film, die mit dem Tod von Bernd Eichinger in diesem Jahr ihr öffentliches Aushängeschild verloren hat. Diese Rolle fällt nun Moszkowicz zu, auch wenn er laut Mayer nur zögerlich in sie hineinwächst.

FAZ, 17.09.2011

Sehr beeindruckt zeigt sich Andreas Platthaus vom im Ausland bereits gefeierten, jetzt auch auf Deutsch erscheinenden Roman "Die Elenden von Lodz" des schwedischen Schriftstellers Steve Sem-Sandberg, der darin auf 650 Seiten den Alltag im Getto Lodz schildert. In Wien traf Platthaus sich auf ein Gespräch mit dem Autor, der sich darin so über seine Herangehensweise äußert: "Holocaust-Erzählungen sind notwendig immer Geschichten vom Überleben, weil sonst kein Erzähler da wäre. In der populären Kultur, also in Romanen oder Filmen, entspricht das aber gerade der Konvention des Happy Ends. Denken Sie nur an all die Filme, von 'Schindlers Liste' über 'Der Pianist' bis zu 'Das Leben ist schön'. Am Ende zeigen die Bilder nicht mehr die Leichenberge, sondern diejenigen, die davongekommen sind. Das aber war die Ausnahme. Mir ist an meinem Roman wichtig, dass es gerade keine Geschichte vom Überleben ist."

Weitere Artikel: Jochen Hieber resümiert chronistisch vorbildlich die erste Talkshow-Woche im Ersten. Ingeborg Harms wirft einen Blick in neue Ausgaben von Zeitschrift für Ideengeschichte, Sinn und Form und Merkur. Sichtlich gut gehen ließ es sich Jürgen Dollase beim Auftakt der kulinarischen Veranstaltungsreihe "Wissler & Friends" (hier Fotos). Jordan Mejias bespricht eine in den USA veröffentlichte Box mit Interviews mit Jackie Kennedy, die diese kurz nach dem Tod von John F. Kennedy gegeben hat. "Ein Schatz", "eine Sensation" ist seit kurzem erst im spanischen Rascafria zu sehen, befindet Paul Ingendaay angesichts eines dort mühsam eingesammelten und restaurierten "monumentalen Bildzyklus" des Barockmalers Vicente Carducho (hier ein paar Beispiele). Gemeldet wird, dass die Fotogalerie C/O Berlin nach langem Hin und Her nun doch in neue Räumlichkeiten am Monbijoupark ziehen kann.

Auf der Medienseite widmet sich Stefan Niggemeier sehr grundsätzlich dem Streit zwischen Verlagen und Öffentlichen-Rechtlichen um die kostenlose Tagesschau-App, an den sich eigentlich auch die FAZ beteiligt. Den neuen Kompromissvorschlag aus dem Hause Springer hält er für reine Verzweiflung: "Wenn das Gesetz ARD und ZDF angeblich Online-Journalismus in Schriftform verbietet, warum sollte er dann zulässig werden, wenn man ihn nur kostenpflichtig macht? Warum sollen ARD und ZDF mit etwas vermeintlich Unzulässigem auch noch Geld verdienen dürfen - und sogar müssen? Die Antwort ist einfach: weil es den Verlagen nützte."

Besprochen werden neue CDs, die deutschsprachige Erstaufführung von Denis Kellys "Die Götter weinen" am Theater Basel, die beiden Ausstellungen "Water - Curse or Blessing" (mehr) und "Singapore: Cities of Gardens and Water" (mehr) im Aedes am Pfefferberg in Berlin, kurz und knapp einige Kinoneustarts und Bücher, darunter ein neuer Essay über Neoliberalismus von Colin Crouch (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In einem Essay für Bilder und Zeiten über die Auswirkungen des Internets auf geistige Arbeit stellt Michael Klausch fest, dass es sich bei den momentanen Auseinandersetzungen um das Urheberrecht nur noch "um die Sicherstellung geordneter Übergangsfristen in einer Gesellschaft, die auf Copyright letztlich verzichten wird", gehen kann. Freibeuterei wolle er zwar nicht das Wort reden, aber: "Wir müssen uns damit abfinden, dass sich die Mechanismen geistiger Produktion derzeit radikal verändern und dass unser heutiges Urheberrecht diesen Veränderungen in keiner Weise gerecht wird. Fortschritt entsteht immer seltener aus individuellen Erkenntnissen. In zwanzig Jahren werden die letzten Nobelpreise an Einzelpersonen verliehen, vermutlich an Larry Page und Mark Zuckerberg für ihr Lebenswerk."

Weitere Artikel: Thomas David hat Oskar Roehler bei den Dreharbeiten zu dessen neuen Film besucht und sich dabei über dessen in Bälde erscheinenden, ersten Roman unterhalten. Christian Geyer und Daniel Haas unterhalten sich mit der Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel, die in ihrem neuen Buch vor einem Computerzeitalter ohne Menschen warnt.

Für die Frankfurter Anthologie stellt Ulrich Greiner Gottfried Benns Gedicht "Wenn etwas leicht" vor:

"Wenn etwas leicht und rauschend um dich ist
wie die Glyzinienpracht an dieser Mauer,
dann ist die Stunde jener Trauer, ..."