Heute in den Feuilletons

Der beste unserer Bande

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2011. In der FAZ besingt Herta Müller den chinesischen Dissidenten Liao Yiwu und die Wahrnehmung als Qual und Gnade. In der Welt würdigt Stephan Wackwitz den Intellektuellen und Bürger Adam Michnik. In der FR berichten die Filmemacher Barbara und Winfried Junge von fortschrittlicher Kultur im Kalten Krieg. Die SZ begreift die Digitalisierung auch als eine Schule der Finger. Und die taz erkennt in dem Polizeireporter David Simons den Walter Benjamin Baltimores.

Welt, 27.08.2011

Heute wird Adam Michnik die Goethe-Medaille verliehen. Stephan Wackwitz zeichnet ein liebevolles Porträt des polnischen Intellektuellen als Bürger: "Manchmal kommt es mir vor, wenn ich über Adam nachdenke, als könne sich wirkliche Bürgerlichkeit nur im Widerstand entfalten. In einem Kampf gegen jede Form des Totalitären, Bürokratischen, im Kampf gegen Verantwortungslosigkeit, Mafia, im Widerstand gegen Mittelmäßigkeit, Stagnation und Phantasielosigkeit. Der bürgerliche Befreiungskampf ist auch bei uns nicht vorbei. Eigentlich hat er noch gar nicht begonnen. Adam Michnik ist politisch der große Bruder, den wir nie hatten."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr gratuliert den Berliner Festspielen zum Geburtstag. Marc Reichwein denkt über Erfolg im Feuilleton nach. Michael Pilz porträtiert den amerikanischen Musiker Zack Condon. Besprochen wird Melanie Mühls Streitschrift "Die Patchwork-Lüge".

In der Literarischen Welt feiert Thomas von Steinaecker Art Spiegelmans jetzt als Buch erschienenen Comic zum 11. September "Im Schatten keiner Türme". Tilman Krause schreibt zum 200. Geburtstag von Teophile Gautier. Hans-Dieter Gelfert erzählt, wie Loriot den deutschen Humor rettete. Peter Stephan Jungk stellt uns die Concierge seines Nachbarhauses vor.

Besprochen werden unter anderem Navid Kermanis Buch "Dein Name", Udo Bermbachs Studie über "Richard Wagner und die Deutschen" und Charles Lewinskys Tatsachenroman über den Schauspiel Kurt Gerron.

TAZ, 27.08.2011

Am Sonntag wird in der Paulskirche der Goethepreis an den syrischen Dichter Adonis verliehen. Die hat er nicht verdient, meint Mona Naggar mit Blick auf Adonis' flaue Reaktion auf die Proteste in Syrien: "Adonis' Haltung ist symptomatisch für viele arabische Intellektuelle der älteren Generation. Nicht nur er, sondern viele von ihnen hadern mit den revolutionären Umbrüchen in der Region, weil sie ihr altgewohntes Koordinatensystem durcheinanderwirbeln. Einst, in den Sechziger- und Siebzigerjahren, hielten sie sich - als linke, panarabische Säkularisten - für die Speerspitze der arabischen Aufklärung. Nun aber ist die Welt um sie herum in Bewegung geraten - und sie haben keinerlei Einfluss mehr darauf. Mit den jungen Aufständischen, die kein ausgefeiltes politisches Programm haben, können sie nicht viel anfangen."

Vor der stadtsoziologischen Kriminal-Fernsehserie "The Wire" von David Simon gab es bereits "Homicide" über die Polizeiarbeit in Baltimore. Als Serie, vor allem aber als Buch, geschrieben von Simon. Dies ist nun in deutscher Sprache erschienen und erweist sich, wie Michael Rutschky versichert, als richtiger "Page-Turner": "Die Reportage ist als Tagebuch erzählt. Der Leser steigt jeweils mit dem aktuellen Fall ein und verfolgt die Detektive bei ihrer Arbeit, wie sie ihn aufzuklären versuchen, Schritt für Schritt. Dabei entstehen übergreifende und sich kreuzende Spannungsbögen samt der entsprechenden Cliffhanger. Nein, ich verschweige, ob es Tom Pellegrini gelingt, den Mörder der kleinen Latonya Wallace zu entlarven ..."

Weitere Artikel: Martin Rank weist auf ein besonderes Jubiläum hin: Vor genau fünfzig Jahren begann die heute legendäre Langzeitbeobachtung der "Kinder von Golzow" der Filmemacher Barbara und Winfried Junge. Andreas Fanizadeh begibt sich mit dem Bus auf die Suche nach Aufbruchstimmung in Berlin.

Besprochen werden das auf Kampnagel in Hamburg uraufgeführte Geheimagentur-Dokutheaterstück "parlez", für das Kinder somalische Piraten interviewt haben, das Ada-Album "Meine zarten Pfoten", die Hokusai-Retrospektive im Berliner Martin-Gropius-Bau und Bücher, darunter neu erschienene Lyrikbände und Eugen Ruges Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR/Berliner, 27.08.2011

Ralf Schenk unterhält sich mit Winfried und Barbara Junge über deren Langzeitbeobachtungsprojekt "Die Kinder von Golzow", das vor genau fünfzig Jahren in der DDR begann und 2007 endgültig endete. Beachtung findet es, wie Junge berichtet, nach wie vor weltweit: "Wir waren unter anderem in Sao Paulo, Japan, Taiwan. Das chinesische Fernsehen hatte uns zu einer Zentralen Dokumentarfilmkonferenz zum Thema Alltagsgeschichte eingeladen. Demnächst laufen Teile des Golzow-Films 'Lebensläufe' (1981) in der Universität Grenoble auf einer Tagung über 'Fortschrittliche Kultur im Kalten Krieg'. Und unlängst hat der italienische Sender RAI alle 42 Stunden in seinem Wochenend-Nachtprogramm ausgestrahlt. Das müssen Leute gesehen haben. Wir erhielten Mails aus Italien."

Weitere Artikel: Dirk Pilz erkennt in seiner Exegese der jüngsten Schriften von Gesine Lötzsch den Hang zum "Ideal" - und damit zu Weltbeglückung, wie sie so undialektisch keineswegs Marx' Vorstellungen entspricht. Den (wohl) designierten Neuintendanten des Theaters in Köln Stefan Bachmann porträtiert Peter Michalzik. Über die Wiedereröffnung des Frankfurter Goethe-Hauses berichtet Judith von Sternburg.

Besprochen werden der Theaterabend "Je t'aime" von Bernhard Mikeska und Lothar Kittstein in Frankfurt und ein Klavierkonzert mit Thorsten Larbig ebenfalls in Frankfurt.

Aus den Blogs, 27.08.2011

Der Journalist und Blogger Matthias Spielkamp hat im März vor dem Branchenverband Eco eine Rede gegen das Leistungsschutzrecht gehalten, die er auch im Perlentaucher veröffentlichte. Christoph Keese, Hauptlobbyist des Springer-Verlags für Leistungsschutzrechte stellt ihm nun in seinem Blog die scharfsinnige Frage, ob Eco ihn für die Rede bezahlt habe. Spielkamps Antwort: "Selbstverständlich. Ich bin freiberuflicher Journalist. Ich muss meinen Lebensunterhalt damit bestreiten, für meine Arbeit bezahlt zu werden - in Form von Artikeln, Seminaren, Beratungen oder eben Vorträgen. Problematisch wäre es gewesen, wenn ich mir meinen Vortrag vom Eco nicht hätte bezahlen lassen. Das wäre dann nämlich Aktivismus gewesen. Oder Lobbyismus, wenn mich jemand dafür bezahlt hätte, eine bestimmte Ansicht zu vertreten."

NZZ, 27.08.2011

In Literatur und Kunst erinnert der Schriftsteller Alain Claude Sulzer an den großen Theophile Gautier, den "Sultan des schmückenden Beiworts", der vor zweihundert Jahren geboren wurde und zu dessen Tod Flaubert rief: "Er war der beste unserer Bande!" Thomas Laux stellt neu übersetzte oder neu edierte Romane und Erzählungen von Gautier vor. Lilian Pfaff porträtiert die amerikanische Architektin Mary Colter. Und der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider untersucht ausführlich Lord Byrons Verserzählung "The Corsair", die den Piraten in die Poesie rettete, während ihm das Recht den Garaus machte.

Im Feuilleton feiert Manfred Schwarz die große Van-Gogh-Ausstellung "Neue Perspektiven" in Amsterdam, die sich dem Tigersprung des Meisters in die Moderne widmet. Joachim Güntner freut sich über Weimars Aufkauf von Goethe-Autografen. Besprochen werden der Brahms-Zyklus mit Bernard Haitink beim Lucerne Festival und Bücher, darunter Herve Le Telliers Roman "Kein Wort mehr über Liebe" und Peter Handkes Streitschrift "Die Geschichte des Dragoljub Milanovic" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 27.08.2011

Lothar Müller hält fest, dass wir die Geschichte der Digitalisierung in Zukunft immer stärker auch als Umwertung aller Sinne erleben werden: "Die Digitalisierung ist nicht nur eine große Schule der Datenverarbeitung, sie ist auch eine Schule der Finger. Die Bilder und Töne, die sie in unbegrenzter Fülle zugänglich macht, sind an die Distanzsinne Auge und Ohr adressiert. Aber an den Schnittstellen, die den Zugang zu dieser Fülle eröffnen, rückt zunehmend der klassische Nahsinn in eine Schlüsselposition: der Tastsinn."

Weitere Artikel: In einem Leitartikel weist Thomas Steinfeld den Vorwurf, seine Generation habe über ihre Verhältnisse gelebt, zurück. Khaled al-Khamissi sieht sich in seiner Kairoer Taxikolumne mit einem Mann konfrontiert, der den Sozialismus zurückhaben will. Reinhard J. Brembeck zieht eine Bilanz nicht nur der diesjährigen Salzburger Festspiele, sondern auch der nach zwei Jahrzehnten endenden Ära der "Nach-Karajanschen Erneuerung". Egbert Tholl unterhält sich mit Willy Decker über das Ende seiner Intendanz der Ruhrtriennale und seine Abschiedsinszenierung von "Tristan und Isolde". Peter Münch beobachtet Yael Ronen & Company bei den Proben zu ihrem nächste Woche in Berlin uraufgeführten neuen Theaterstück "The Day Before the Last Day", in dem es auch um religiöse Tabubrüche geht. Auf der Medienseite erklärt der Jurist Christoph Degenhart, warum die als geplante Fernseh-Haushaltsabgabe in vieler Hinsicht hoch problematisch ist.

In der SZ am Wochenende gratuliert Wolf Wondratschek dem Barbetreiber Charles Schumann ("Schuhmann's") mit Erinnerungen ans gemeinsame Boxtraining zum Siebzigsten. Ein Schwerpunkt gilt den USA, einem "tristen, traurigen Land", in dem sich aber auch "viel Hoffnungsvolles und Heiteres" findet. Christine Brinck spricht mit dem Comickünstler Art Spiegelman über "Türme".

Besprochen werden die Aufführung von Boris Charmatz' Tanzstück "enfant" in Hamburg, das Red-Hot-Chilli-Peppers-Album "I'm With You"Matthias Schweighöfers Regiedebüt "What a Man" (mehr) und Bücher, darunter Thomas Glavinics Reportage "Unterwegs im Namen des Herrn" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 27.08.2011

Die FAZ bringt heute die grandiose Lobrede, die Herta Müller vorige Woche auf den chinesischen Dichter Liao Yiwu und dessen neues Buch "Für ein Lied und hundert Lieder" in Berlin hielt. Sie erzählt von der abenteuerlichen Entstehungsgeschichte des Buchs, wirft Managern und Schriftstellern Leisetreterei gegenüber Peking vor und sagt schließlich über Yiwus Gefängniserinnerungen: "Die widerwärtige Nähe, in die man in Lagern und Gefängnissen gepfercht ist, wird durchs besessene Fixieren noch quälender. Der Beobachtungszwang zerrt jedes Detail ins Persönliche, frisst die letzte Kraft, die man für sich selbst brauchte. Und trotzdem ist dieser Beobachtungszwang eine Gnade, weil er die Menschlichkeit erhält, indem er einen hinterrücks schont - wahrscheinlich sogar rettet. Denn wer beobachtet, ist zur Hälfte außerhalb, auch wenn er ganz drin ist. Und da, wo Verwahrlosung und Vegetieren befohlener Zustand sind, wird Beobachten zur einzig möglichen geistigen Beschäftigung. Die Wahrnehmung ist eine Qual und die Qual der Wahrnehmung eine Gnade."

Weiteres: Gemeldet wird der Ankauf eines Konvoluts von Goethe-Autografen durch das Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv. Zu lesen ist Goethes Schmähung des Bergsteigens: "Wenn Reisende ein sehr großes Ergötzen auf ihren Bergklettereien empfinden, so ist für mich etwas Barbarisches, ja Gottloses in dieser Leidenschaft." Jürgen Dollase speist "Pochierte Anjou-Taubenbrust mit roh gehobelter Entenleber und Salat von Beluga-Linsen" in Franz Kellers "Schwarzem Adler" am Kaiserstuhl.

Besprochen werden die große Hokusai-Retrospektive im Berliner Gropiusbau, Matthias Schweighöfers Komödie "What a Man", der Film "Kinshasa Symphony" über das wohl ärmste Orchester der Welt, das Album "The Harrow & The Harvest" der Countrymusikerin Gillian Welch und Bücher, darunter Johannes Willms' Talleyrand-Biografie (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Bilder und Zeiten wurde heute von einer Gruppe Studenten gestaltet, die sich mit der Zeit und unserem nachlässigen Umgang mit ihr befassen. Es geht um die griechische Götter Chronos und Kairos, Michael Endes "Momos", Zeitreisen und im Interview spricht auch der Zeitforscher Karlheinz Geißler.