Heute in den Feuilletons

Das alles verringert das Glück

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.08.2011. In der NZZ erzählt die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin, wie übel die Frauen bisher für ihre Unterstützung der Revolution belohnt wurden. Die taz eröffnet leaks.taz.de und hofft, dass die Whistleblower nun zu ihr kommen. Die Jungle World streitet über den Begriff der "Islamophobie". Die FAZ fragt: Was hat es zu besagen, dass Ai Weiwei, dem Interviews verboten sind, sein erstes Interview nach der Verschleppung einer Staatszeitung gab? In der Zeit schimpft Apichatpong Weerasethakul auf den buddhistischen Klerus.

NZZ, 11.08.2011

Die ägyptische Schriftstellerin Mansura Eseddin beschreibt, wie übel die Frauen für ihre aktive Rolle bei der Revolution belohnt werden: Mit Ausschluss von der Macht und zunehmenden sexuellen Belästigungen. Deswegen fordert Eseddin eine zweite Revolution: "Eine Revolution gegen die herabsetzende Behandlung der Frau, gegen Ignoranz und längst überholte Traditionen. Damit ist den Frauen in der Revolution eine doppelte Rolle auferlegt: Sie haben nicht nur gegen die Diktatur, sondern gleichzeitig auch gegen ein längst erstarrtes, rückwärtsgewandtes Gesellschaftsbild anzukämpfen."

Weiteres: Die Krawalle in England erklärt sich Marion Löhndorf mit rein "brutaler Banalität": "Wenn die Vorfälle eine politische Aussage haben, dann die einer Absage an die Politik - oder die Manifestation ihrer Bedeutungslosigkeit in den Augen der Randalierer." Marc Zitzmann befasst sich mit französischen Diskussionen um die künftige Kulturpolitik. Besprochen werden Alex de la Iglesias Parabel auf die Franco-Diktatur "Balada triste de trompeta" und Anne Webers Puppentrauerspiel "August".

Weitere Medien, 11.08.2011

Für die Jüdische Allgemeine schreibt Günter Kunert zum Jahrestag des Mauerbaus einen traurigen Artikel darüber, wie Juden sich in der DDR fühlten: "Während sich die Sachsen und Thüringer, die Mecklenburger und Brandenburger noch mit ihrem regionalen Lebensbereich identifizieren und solchermaßen auch trösten konnten, waren die paar restlichen Juden in doppeltem und dreifachem Sinne heimatlos. Das freilich wird bei den Festivitäten zum Mauergedenktag kaum Erwähnung finden, weil die Zeugen, diese speziellen Zeitzeugen, nicht mehr existieren: eine Erinnerung ohne bleibenden ideellen Wert und darum zum Vergessen verurteilt."

FR/Berliner, 11.08.2011

Markus Schneider sensibilisiert uns für die historische Einzigartigkeit des gemeinsamen Albums "Watch the Throne" von Kanye West und Jay-Z (hier kann man es hören, besonders toll ist "No Church in the Wild"). Außerdem berichtet Schneider, dass bei den Krawallen in London auch ein Lagerhaus abgefackelt wurde, in dem die britischen Independent-Labels Hunderttausende von CDs aufbewahrten.

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte freut sich über eine "beglückende Woche" mit Vincente-Minelli-Filmen beim Filmfestival von Locarno. Sebastian Preuss berichtet, dass das Jüdische Museum in Berlin den gegenüberliegenden ehemaligen Blumengroßmarkt zur Besucherakademie ausbauen will.

Besprochen werden Jean-Pierre Ameris' Komödie "Die Anonymen Romantiker" und Cornelia Funkes Roman "Geisterritter" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 11.08.2011

Gemeldet wird der Start des Testbetriebs für das neue Whistleblowing-Portal Openleaks leaks.taz.de (der Link ging heute morgen aber nicht), das die taz in Kooperation mit anderen deutschen und internationalen Medien betreibt und das auf eine Initiative des ehemaligen Wikileaks-Sprechers Daniel Domscheit-Berg zurückgeht. Im Unterschied zu Wikileaks publiziere das Portal selbst keine Daten, sondern biete Whistleblowern lediglich eine Infrastruktur dafür, Dokumente sicher an Verlage und Nichtregierungsorganisationen schicken zu können. Rainer Metzger erklärt begleitend, weshalb Whistleblower als demokratisches Korrektiv bitter nötig sind, ebenso wie Instanzen, die gesellschaftlich relevante Informationen von Denunziationen unterscheiden. "Openleaks allein wird nicht reichen. Es muss eine Kultur des Leakens etabliert werden, eine breite Auswahl von solchen Plattformen entstehen: auf bestimmte Themen spezialisierte, wie etwa das schon bestehende Greenleaks für Umweltthemen; in manchen Sprachen starke, auf Personen fokussierte usw. Denn eine einzelne Website genügt nicht, das hat Wikileaks gezeigt. Eine einzelne Seite kann ausgeschaltet werden, eine einzelne Person kann nie auf Dauer für etwas garantieren."

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg berichtet über einen Blog des Künstlers Ai Weiwei von 2008, der nun auf Deutsch vorliegt und einen Aufruhr in der chinesischen Provinz beschreibt, der an die Unruhen in England erinnert. Jan Brüggemeier informiert über den Auslieferungsstopp des Debütromans "Das Da-Da-Da-Sein" von Maik Brüggemeyer, der Ende Juli beim Berliner Aufbau Verlag erscheinen sollte und dies nun nicht tut, weil sich eine Frau darin "zu genau und unvorteilhaft" porträtiert findet; eine überarbeitete Version soll nun im September herauskommen. Malte Welding berichtet über die Rolle, die der Blackberry derzeit bei den Unruhen in England spielt.

Besprochen werden Peter Steins Inszenierung von Verdis "Macbeth" bei den Salzburger Festspielen, die nur Riccardo Muti mit den Wiener Philharmonikern rettet, der Fillm "I?m Still Here" von Casey Affleck, in dem Joaquin Phoenix einen untalentierten Rapper gibt, Cam Archers Film "Shit Year" mit Ellen Barkin, Rupert Wyatts Film "Planet der Affen" und die welterste Punkrockoper "David Comes to Life" der kanadischen Band Fucked Up, die damit nun auf Tournee geht.

Und Tom.

Aus den Blogs, 11.08.2011

Bei PCL Linkdump finden wir ein wunderbares Stück 60s Retro-Mod-Pop mit stilecht dazu passendem Musikvideo:

Stichwörter: Retro, 1960er

Welt, 11.08.2011

In einem Artikel über Jorge Sempruns Vermächtnis greift Wolf Lepenies auch die Ideen Sempruns zu einer "Mittelmeerunion" auf, die die EU auf den Maghreb und Afrika ausdehnen würde. "Lange vor dem Ausbruch des 'afrikanischen Frühlings' war bei ihm von diesem Projekt die Rede. Heute könnte es Europa zu neuem Schwung und Zukunftshoffnung verhelfen. Im Französischen gibt es bereits das Wort 'ChinAfrique'. Es verweist auf das große Engagement Chinas in Afrika, das einer raffinierten Landnahme ähnelt. Es besteht aber kein Grund, Afrika den Chinesen zu überlassen."

Weitere Artikel: Alan Posener kommentiert in der Leitglosse ein Gesetz in Tadschikistan, das es Kindern unter 18 Jahren verbietet, sich religiös zu betätigen. Im politischen Teil unterhält sich Sven Felix Kellerhoff mit der amerikanischen Historikerin Hope Harrison, die die Umstände des Mauerbaus genau erforscht hat - und anders als die Linkspartei darauf beharrt, dass die Initiative von Ulbricht ausging.

Besprochen werden der Film "I'm Still Here" mit Joaquin Phoenix und Rupert Wyatts neue Version des "Planets der Affen".

Jungle World, 11.08.2011

Niemand kann mehr leugnen, dass es so etwas wie "Islamophobie" gibt, meint Deniz Yücel: "Noch vor ein paar Jahren sahen die meisten derer, die den Begriff Islamophobie ablehnten, stets nur 'ordinären Rassismus' walten, wo ein spezifisches Ressentiment gegen Muslime am Werk war. Seit die Islamkritik zu einem Volkssport im Internet geworden ist und sich in etlichen Onlineforen ein ebenso blankes wie spezifisches Ressentiment auskotzt, räumen viele Gegner des Begriffs Islamophobie ein, dass den Muslimen eine besondere - hm, tja, äh ? Feindschaft - zuteil wird."

Ganz anders und dialektisch etwas verschraubt sieht es Gerhard Scheit: "Alle Zeichen der Öffentlichkeit deuten darauf hin, dass der Attentäter von Norwegen als Verkörperung des Begriffs 'Islamophobie' in die Geschichte der Lügen dieser Öffentlichkeit eingehen soll. Der Anschlag sei demnach nur die logische Konsequenz des 'Feindbilds Muslim'. Dabei zeigen Tat und Manifest in der unsagbaren Grausamkeit und der Methodik ihres Wahns, dass das Motiv purer Neid auf den Islam war." Und der Begriff der "Islamophobie" wurde "erfunden, um eben jenen Neid als ein ­Derivat des Antisemitismus unkenntlich zu machen".

Zeit, 11.08.2011

Thomas E. Schmidt besucht den thailändischen Regisseur Apichatpong Weerasethakul, auf dessen Farm es bei günstigem Licht fast so aussieht wie in seinen Filmen. Der politische Film habe es schwer in Thailand, erzählt Apichatpong, selbst Mönche lebten in Thailand besser als Künstler: "Den buddhistischen Klerus, ein Bollwerk des Konservatismus in einem ohnehin konservativen Land, schätzt er nicht besonders. Einmal hat er mit einem jungen Mann gedreht, der als Novize lebte, weil seine Familie zu arm war, ihn bei sich zu behalten. Der Jungen sagte: 'Wenn Du die buddhistische Hölle sehen willst, muss du nur in ein Kloster gehen.' Apichatpong liebt Thailand, er ist ein glühender Kulturpatriot, aber die alltäglichen Verlogenheiten nagen an ihm."

Im Aufmacher plädiert Joseph Vogl ("Das Gespenst des Kapitalismus") dringend für eine Säkularisierung der Wirtschaftstheorie, um "Ökonomien ohne Gott und Märkte ohne Vorsehung" zu schaffen. "Eigentlich müsste der Crash von 2008 eine ähnliche Rolle wie das Erdbeben von Lissabon 1755 spielen. Wie damals die philosophischen Versuche der Theodizee unglaubwürdig wurden, so sollte man die letzte Krise zum Anlass für eine neue ökonomische Aufklärung nehmen."

Weitere Artikel: Jonathan Fischer porträtiert den Rapper und Internet-Superstar Lil B, dessen Mythologie "mit konventionellen Popmechanismen nicht mehr zu begreifen" sei. Adam Soboczynski denkt am Rande über Aufstände und digitale Kommunikation nach.

Besprochen werden Rupert Wyatts "Planet der Affen: Prevolution", Casey Afflecks Pseudo-Doku mit Joaquin Phoenix "I'm still here", eine Ausstellung über den Architekten "Ernst May im Frankfurter DAM, die Opernaufführungen von Strauss, Luigi Nono und Mozart bei den Salzburger Festspielen und Bücher, darunter Götz Alys "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" (hier unser Vorgeblättert) und natürlich Charlotte Roches "Schoßgebete" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 11.08.2011

Aufstände und Tumulte hat es in Großbritannien in den vergangenen 30 Jahren häufiger gegeben - und immer konnte man sich auf eine Erklärung einigen, schreibt ein ratloser Alexander Linklater. Doch im Fall der aktuellen Krawalle herrscht Orientierungslosigkeit, da "keiner eine Vorstellung hat, warum sie stattfinden. Die britischen Medien liefern natürlich in großer Hast eine Vielzahl von Erklärungen. Doch die meisten von ihnen widersprechen einander, und bei keiner hat man den Eindruck, sie sei eine angemessene Antwort auf die Fakten."

Weitere Artikel: Gleich zwei Artikel machen sich heute Gedanken über die Repräsentation der Berliner Mauer: Stephanie Drees stellt die "großartige" Ausstellung "Aus anderer Sicht. Die frühe Berliner Mauer" (mehr) vor, die Fotografien der Mauer aus Sicht der Grenztruppen aus dem Jahr 1966 zeigt. Der Kunsthistoriker Michael Diers analysiert zwei Fotografien der Mauer von William Eggleston und Barbara Klemm, die "nicht dem gefälligen (Polit-)Kitsch" erliegen. Tobias Kniebe meldet, dass Michael Moore Matt Damon als Präsidentenkandidaten vorschlägt. Niklas Hofman portraitiert Martin Heidingsfelder, einen der Gründer des VroniPlag-Wikis, der kürzlich aus der Anonymität getreten ist. Karl Bruckmaier stellt Indiepop aus China vor (etwa diesen oder diesen). Das Filmfestival Locarno feiert Vincente Minnelli mit einer Retrospektive, die ein begeisterter Fritz Göttler ganz und gar "traumhaft" findet, was auch einfach nur zu verständlich ist:



Besprochen werden die Ausstellung "Appropriated Landscapes" mit zeitgenössischen Fotografien aus dem südlichen Afrika in der New Yorker Walther Collection, die Filme "Planet der Affen: Prevolution" (mehr) und "Resturlaub" (mehr), laut Rainer Gansera eine "ranzige Spießer-Apotheose", sowie Bücher, darunter ein Buch von Beat Wyss über die Pariser Weltausstellung von 1889, von der die Library of Congress zahlreiche wunderbare Fotos online anbietet (mehr in unserer Bücherschau des Tages um 14 Uhr).

FAZ, 11.08.2011

Ai Weiwei hat sein erstes Interview nach seiner Gefangeschaft gegeben - der Global Times, einem Sprachrohr der chinesischen Obrigkeit. Ein willentlich eingegangenes Paradox, wohl auch deshalb, mutmaßt Mark Siemons, um das ihm auferlegte Interviewverbot zu umgehen. Schwer zu sagen, wer hierbei nun siegreich hervorgegangen ist, findet Siemons: Die Zeitung stellt "den Künstler als konzilianten Reformer dar. (...) Ausführlich kommen Kritiker zu Wort, die Ai anklagen, er lasse sich vom Westen instrumentalisieren." Zugleich bringt Ai Weiwei aber auch seine Position unter: "Ich werde der Politik niemals ausweichen, niemand von uns kann das. Natürlich mag man leichter leben, wenn man auf bestimmte Rechte verzichtet. Aber es gibt so viele Ungerechtigkeiten und begrenzte Bildungsmöglichkeiten. Das alles verringert das Glück."

Weitere Artikel: Joseph Croitoru stellt Protagonisten und Zusammenhänge der israelischen Protestbewegung vor, die in Tel Aviv öffentlichkeitswirksam gegen unbezahlbare Mieten demonstriert. Stefan Schulz denkt über den Aussagewert von Zahlen aus Fukushima und den Börsen nach. Timo John berichtet von einer Auseinandersetzung in Lauffen am Necker, der Geburtstadt Hölderlins, um das verfallende Geburtshaus des Dichters, das der Besitzer der Stadt nicht verkaufen will. Stephan Sahm wirft einen Blick in bioethische Zeitschriften. Katharina Teutsch war bei der Buchvorstellung von John von Düffels neuem Roman "Goethe ruft an". Bert Rebhandl schreibt über den DEFA-Episodenfilm über die Mauer "Geschichten der Nacht", der vor kurzem im Berliner Zeughauskino zu sehen war. Rüdiger Suchsland berichtet vom Filmfestival in Locarno. "mirw" stellt das zwischen Kunst und Analyse pendelnde Projekt "Cinemetrics" von Frederic Brodbeck vor, ein bildgebendes Verfahren, das zentrale Filmparameter animiert darstellt - wie das aussieht, zeigt ein Video:



Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen von Oskar Kokoschka in Dresden, die Ausstellung "Aus anderer Sicht" von Annett Gröschner und Arwed Messmer über die Berliner Mauer (mehr), die schwedische Filmkomödie "Sound of Noise" von Ola Simonsson und Johannes Stjärne Nilsson (mehr), eine neue Aufnahme von Gioacchino Rossinis Oper "Guillaume Tell" mit Antonio Pappano sowie Bücher, darunter eines über die Geschichte von Emotionstheorien des Philosophiehistorikers Dominik Perler (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).