Heute in den Feuilletons

Der nette Jochen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.08.2011. In der Welt schreibt der Jugendkulturforscher Bodo Mrozek eine kleine Kulturgeschichte der Revolten in LondonAi Weiwei gab der Global Times sein erstes Interview nach der Verschleppung. Und alle alle (außer vielleicht den von der Autorin boykottierten Springer-Journalisten) laborieren am Charlotte-Roche-Ich-muss-darüber-berichten-Zwang. Und zwar pünktlich.

TAZ, 10.08.2011

In London sind seit dem Zweiten Weltkrieg durch Vernichtung ganzer Arbeiterviertel Parallelgesellschaften entstanden, meint Dominic Johnson in einem Kommentar zu den Ausschreitungen: "Die Menschen zerstören ihre eigene Gemeinschaft, klagen jetzt britische Kommentatoren. Die Frage ist, ob die Zerstörer diese Gemeinschaften überhaupt als ihre eigenen wahrnehmen."

Große Sympathie bringt Dirk Knipphals Charlotte Roche und ihrem neuen Roman entgegen. Vor allem die Passagen, die den Perfektionswahn der Heldin beschreiben, findet er richtig gut: "Dieses Psychodrama fängt Charlotte Roche auf hundert Seiten großartig ein. 'Das Kind muss gesund ernährt werden. Da müssen viele Vitamine in den Bauch. Dafür mache ich alles. Weil ich mein Kind liebe.' Muss - müssen - ich mache - weil: liebe. Das ist eine tolle Satzfolge, die fast an Elfriede Jelinek erinnert."

Weiteres: Das Herder Institut Marburg hat die Getto-Chronik von Lodz ins Internet gestellt, berichtet Clemens Tangerding. Besprochen wird die Ausstellung "Appropriated Landscapes" mit zeitgenössischen Fotografien aus dem südlichen Afrika in der New Yorker Walther Collection.

Auf der Meinungsseite findet es Daniel Bax durchaus gerechtfertigt, Islamkritiker wie Henryk M. Broder als "geistige Brandstifter" des Attentats von Oslo zu beschreiben: "Natürlich ist Broder damit noch lange nicht schuld am Terror von Oslo - so wenig wie Enzensberger einst 'schuld' war am Terror der RAF. Aber es sollte doch erlaubt sein darauf hinzuweisen, wo zwei Menschen dieselbe Weltsicht verbindet, auch wenn sie unterschiedliche Konsequenzen daraus ziehen."

Und Tom.

Aus den Blogs, 10.08.2011

(Via turi2) Klage gegen Apple und die großen Buchverlage in den USA. Laura Hazard Owen berichtet in paidcontent.org: This evening, Seattle-based law firm Hagens Berman filed a class action lawsuit against Appleand five of the 'big 6' publishers claiming that they illegally fixed e-book prices (through the agency model, in which book publishers set their own e-book prices) in order to "boost profits and force e-book rival Amazon to abandon its pro-consumer discount pricing."

Welt, 10.08.2011

Der Jugendkulturforscher Bodo Mrozek schreibt eine kleine Kulturgeschichte der Revolten in London, aber "man muss nicht so weit gehen wie Clive Bloom (Website), der seine blutige Stadtgeschichte 'Violent London' als eine zweitausend Jahre währende Aneinanderreihung von Rebellionen darstellt."

Weitere Artikel: Harald Peters fragt in der Leitglosse: Müssen Rapper ihre Felgen austauschen, jetzt, wo Gold teurer geworden ist als Platin? Alan Posener mokiert sich in seiner Kolumne "J'accuse" nach Kräften über den Focus, wo mächtige alte Männer jeden Impuls der Neuerung ausgeschaltet haben, um in Würden unterzugehen. Und der Fernsehmoderator Gert Scobel fordert in einem längeren Essay bei aller Vorsicht eine "harte Qualitätsdiskussion" in den Öffentlich-Rechtlichen.
Stichwörter: Mrozek, Bodo, Stadtgeschichte

Weitere Medien, 10.08.2011

Ai Weiwei hat der Global Times sein erstes Interview nach seiner Freilassung aus der staatlichen Verschleppung gegeben und nimmt auch Stellung zu denn Vorwürfen, er habe Steuern hinterzogen. ein Schuldbekenntnis habe er nicht unterzeichnet: "Ai admitted to the Global Times that he signed a document but says it was not a confession. He agreed that if he were proven guilty he would accept the punishment. 'I am the art director of the company and don't really pay any attention to its financial situation,' he conceded."
Stichwörter: Ai Weiwei

FR/Berliner, 10.08.2011

Sabine Vogel rüttelt ein wenig an den Gitterstäben der Medienmaschinerie, kommt aber auch nicht heraus und bespricht also termingerecht Charlotte Roches neuen Roman "Schoßgebete". Komisch fand sie ihn leider gar nicht: "Und der Erkenntnisgewinn? Junge erfolgreiche Frauen haben?s auch nicht leicht. Und vor Wohlstandslangeweile und Sinnleere depressive Mütter können sich Mut holen, mal etwas experimentierlustiger mit ihrem Mann zu vögeln."

Weitere Artikel: Stephan Hebel erklärt noch einmal, warum die Menschenwürde auch für Schwerverbrecher gilt. Andreas Förster rekapituliert anhand bisher unbekannter Stasi-Unterlagen, wie die DDR dem NS-Verbrecher Alois Brunner den Prozess machen wollte, 1989 aber nicht mehr dazu kam.

Besprochen werden die beiden Filme "I?m Still Here" und "Shit Year", die Hollywoodstars in der Krise zeigen, und Tobias Wolffs Erzählungen "Unsere Geschichte beginnt" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)

Weitere Medien, 10.08.2011

Das bei den Ausschreitungen in London abgebrannte Vorratslager von Sony hat auch für zahlreiche unabhängige DVD-Programmanbieter unmittelbare Folgen: Zahlreiche Firmen - darunter Institutionen der Filmkunst wie Artificial Eye, BFI u.a. - hatten hier, teils komplette, Warenbestände eingelagert. Im Guardian findet sich ein erster Hintergrundartikel mit zahlreichen Wortmeldungen. Das Blog Bleeding Cool weist Möglichkeiten zur direkten Unterstützung der betroffenen Labels auf.
Stichwörter: Guardian, London, Sony, Filmkunst

NZZ, 10.08.2011

"Teilweise doch sehr unausgegoren" findet Martin Walder den Internationalen Wettbewerb von Locarnos Filmfestival, für den bisher stärksten Film hält Mike Cahills Drama "Another Earth". Peter Hagmann hat ausgerechnet in Salzburg eine grandiose Aufführung von Luigi Nonos "Promoteo" erlebt und stellt selbst noch etwas ungläubig fest: "Neue Musik gehört inzwischen definitiv zu den Salzburger Festspielen. Und fristet dort alles andere als ein Nischendasein."

Besprochen werden Alon Hilus Roman "Das Haus der Rajanis", Irene Nemirovskys Novelle "Rausch" und Gedichte von Eugenijus Alisanka (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).
Stichwörter: Musik, Nono, Luigi

SZ, 10.08.2011

Der Hype um Charlotte Roches neuen Roman "Schoßgebete" ist schon wieder riesig. "Nie wurden, an einem Tag, von einem in deutscher Sprache geschriebenen Buch mehr Exemplare ausgeliefert" von diesem Buch, berichtet Thomas Steinfeld und räumt die halbe Aufmacherseite für die Frage: "Was hat der Wunsch der Erzählerin, nicht nur mit Georg (dem Gatten) und Lumi (einer Prostituierten), sondern auch mit dem netten Jochen zu schlafen, mit der Selbstoffenbarung gegenüber Millionen fremden Menschen zu tun, was eine Blähung des Bettnachbarn mit einem Buch?"

Weitere Artikel: Kürzlich kam es in Halberstadt zum zehnten Klangwechsel, berichtet Reinhard J. Brembeck in einer kurzen Notiz zur längsten Musikaufführung der Welt, John Cages "As Slow As Possible", für das eine Aufführungsdauer von 639 Jahren vorgesehen ist - zehn davon sind nun vorüber. Catrin Lorch schreibt zum Tod des Zahlenmalers Roman Opalka. Joseph Hanimann schreibt über monumentale Bauprojekte in Paris und Umgebung und besonders die Kulturinsel auf der Seine-Insel Ile Seguin westlich von Paris, die von Jean Nouvel ersonnen wird. Helmut Mauro porträtiert den jungen Hamburger Tenor Daniel Behle, der auf dem Spürung zur Weltkarriere ist. Auf der Medienseite berichtet Kerstin Viellehner, dass junge Filmregisseure neuerdings zu "Crowdfunding" greifen, um ihre Projekte zu realisieren.

Beprochen werden Casey Afflecks Film "I'm Stille Here" mit Joaquin Phoenix (mehr hier), eine Ausstellung des russischen Architekten Alexander Brodsky im Architekturzentrum Wien und Bücher, darunter eine Biografie über Robert Redford (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 10.08.2011

Gina Thomas hat einen Erlebnisbericht aus London verfasst: Im vornehmen Ledbury Restaurant "erzählte uns [der Oberkellner], wie er die Gäste in die Mitte des Saales gelotst hatte, um sie vor fliegenden Glasscherben zu schützen und ihnen riet, sich auf den Fußboden zu legen. Als die fünfzehn bis zwanzig vermummten und größtenteils in Kapuzensweatshirts gehüllten Plünderer brüllend hineinstürmten, zwangen sie die Gesellschaft, deren Wertgegenstände auszuhändigen." Mehr dazu von der amerikanischen Bloggerin Louise Yang, die bei dem Vorfall im Ledbury war.

Selbst die BBC verlor gestern angesichts der Ereignisse langsam die Fassung, erzählt Oliver Jungen auf der Medienseite. Und noch etwas fiel ihm auf: Der "doppelte mediale Live-Charakter" der Berichterstattung. Die Plünderer "nutzten Handys, Twitter und Social-Media-Plattformen, um sich zu organisieren, während die BBC zurückgriff auf oftmals selbst attackierte Live-Reporter, auf dramatische Aufnahmen aus dem eigenen Helikopter sowie auf Live-Berichte von Zeugen"

Weitere Artikel: Eine ganze Seite füllt das Gespräch zwischen Felicitas von Lovenberg und Charlotte Roche, die ihren neuen Roman so vorstellt: "Also, ich würde sagen: In 'Schoßgebete' geht es um eine Frau, die nicht mehr alle Tassen im Schrank hat und das Ziel verfolgt, für immer mit ihrem Mann zusammenzubleiben." In der neuen Sprachkolumne befasst sich Edo Reents mit dem korrekten Gebrauch von Possessivpronomen. Andreas Rossmann schreibt den Nachruf auf die Kunstvermittlerin Dorothea von Stetten.

Besprochen werden eine Ausstellung von Rainer Fetting in der Berlinischen Galerie, der Film "Planet der Affen: Prevolution" (mehr) sowie Bücher, darunter eine Essaysammlung des Architekten und Designers Arata Isozaki (mehr in unserer Bücherschau des Tages um 14 Uhr).