Heute in den Feuilletons

Pyknische und leptosome Unterhautfette

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2011. Die NZZ meditiert über das Ende der Tiefe der Haut. Die FR fragt: Ist Broder der Marx Breiviks? Dann wäre Breivik der Stalin Broders. Netzwertig fragt: Wenn die FR schon Lobbyisten druckt, warum sagt sie es nicht dazu? Die Epoch Times bringt ein Zitat Ai Weiweis über seine Gefangenschaft. Die Welt erspart uns die einzurührende Giftkröte in Peter Steins Salzburger Inszenierung von Verdis "Macbeth". Die Jungle World kritisiert die absichtliche Unschärfe der schärfsten Kritiker der Islamkritik.

NZZ, 05.08.2011

Der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider denkt in einem Essay über die im Sommer gern gezeigte Haut nach, über pyknische und leptosome Unterhautfette, mosaisches Glänzen und apollinische Gätte. Vor allem bei Männern ereignen sich gerade radikale Umwälzungen auf der Epidermis: "In den fünfziger Jahren analysierte Roland Barthes in einem Essay der 'Mythologies' noch die 'Tiefenreklame' der Kosmetikindustrie. Damals versprachen alle auf die Haut aufgetragenen Präparate, ihre Wirkung in der Tiefendimension des Körpers zu entfalten. Wie die Physiognomie der abendländischen Tradition lehrte, spielte die Wahrheit des Gesichts und des Körpers in einer Tiefe, die damals noch als Arbeitsstätte der Seele oder des Herzens galt. Das haben wir hinter uns gebracht."

Weiteres: Joachim Güntner erzählt die Geschichte des Brandenburger Schlosses Gusow. Ohne rechtes Vergnügen stellt Peter Hagmann verschiedene DVDs vor, auf denen Christian Thielemann Beethoven, Strauss und Bruckner dirigiert: Hagmann erkennt auf "absurde Konventionalität" und Zeichen eines "widerborstigen Konservativismus". Besprochen werden außerdem Beethoven-Sinfonien mit Paavo Järvi und eine Ausstellung chinesischer Lackkunst im Museum für angewandte Kunst Frankfurt.

Welt, 05.08.2011

"Rührend reaktionär" fand Manuel Brug Verdis Salzburger "Macbeth" in der Regie von Peter Stein: "Da sitzen prompt drei, dem Kriegsherren Macbeth den unerwarteten Aufstieg prophezeiende, wie aus einem Füssli-Gemälde gefallene Statistenhexen mit Gumminase, welken Latexbrüsten und struppigem Schamhaar vor rauchendem Kupferkessel. Nur die einzurührende Giftkröte erspart uns die Regie, auch die von Stein gern zitierten, aber nicht dem Rezept entsprechenden Eidechsenhoden."

Außerdem: Iris Alanyali freut sich dass der verregnete Sommer die Kassen von Kulturinstitutionen klingeln lässt. Gerhard Gnauck erzählt die filmreife Geschichte des polnischen Politikers Krzysztof Piesiewicz, der von hübschen Damen erpresst wurde, bis er letztlich zur Polizei ging und Erpresserinnen und Komplizen anklagte - Piesiewicz könnte die Geschichte selbst geschrieben haben, denn einst war er der Drehbuchautor von Krzysztof Kieslowski. Marc Reichwein bewundert in seiner Feuilletonkolumne nachgerade die Kunst des gleichsam Ungefähren, mithin Anspielungsreichen. Besprochen wird eine Ausstellung des Fotografen Joel Sternfeld im Museum Folkwang.

FR/Berliner, 05.08.2011

Christian Bommarius setzt noch einmal an, Henryk M. Broder für das Attentat von Oslo in Haftung zu nehmen, auch wenn er zugibt, dass Broder nicht zu Gewalt aufgerufen habe: "Dennoch stellt sich die Frage: Trägt der Autor Verantwortung für seine gedruckten Gedanken und gegebenenfalls - welche? In seinem Buch schreibt Broder: 'Es kommt nicht darauf an, was Bebel, Lassalle und Marx gemeint haben, sondern was Lenin, Stalin, Mao, Enver Hodscha und Walter Ulbricht daraus gemacht haben.' Wenn das zutrifft, ist Broder zu wünschen, dass Anders Breivik sein Buch nicht gelesen hat."

Dazu gestellt werden Zitate aus Broders Polemik "Hurra, wir kapitulieren" und Breiviks Manifest, die beweisen sollen, wie austauschbar ihr Gedankengut ist.

Weiteres: Harald Jähner besucht die Ausstellung "Aus anderer Sicht", die den Mauerbau von der Ostseite aus zeigt. Besprochen werden die Salzburger "Macbeth"-Inszenierung von Peter Stein und Riccardo Muti, die Hans-Klaus Jungheinrich nicht im positiven Sinne bilderbuchartig fand, und Sudabeh Mortezais Filmdoku "Im Bazar der Geschlechter".

Weitere Medien, 05.08.2011

In der Epoch Times wird Ai Weiwei über die Zeit seiner Gefangenschaft zitiert: "I lost all connection with the outside world and was immersed in a world of darkness. I was scared that my existence would fade silently; no one knew where I was, and no one would ever know. I was just like a small soybean, once fallen to the ground, it rolls into a crack in the corner. Being unable to make any sounds, it will forever be forgotten."
Stichwörter: Ai Weiwei, Epoch Times

Jungle World, 05.08.2011

Ivo Bozic kommentiert die Kritik an Islamkritikern nach dem Massaker von Utoeya: "Diese vorgeblichen Antirassisten haben die Warnungen vor dem offenkundigen Rassismus a la PI [Politically Incorrect] immer wieder desavouiert. Sie haben nämlich nicht nur jene Hetzer, sondern jeden, der den Islamismus oder auch den Islam selbst kritisierte - und sei es auch aus säkularen, feministischen, antiautoritären oder demokratischen Erwägungen heraus -, des Rassismus bezichtigt und damit diesen Begriff derart unscharf werden lassen, dass man ihn kaum mehr verwenden konnte, um wirkliche Rassisten zu kennzeichnen."

Aus den Blogs, 05.08.2011

Fassbinders Science-Fiction-Meisterwerk "Welt am Draht" tourt derzeit durch die amerikanischen Kinos. Das wunderschöne Filmplakat dazu hat der Grafikdesigner Sam Smith entworfen. In seinem Blog dokumentiert er den Schaffensprozess und stellt dabei auch die - meist nicht minder schönen - Zwischenstadien und Alternativkonzepte vor. (via)

Wikipedia findet keine neuen Mitarbeiter mehr, meldet Gawkers Adrian Chen: "Jimmy Wales, the iconoclastic founder of Wikipedia, made a troubling announcement at the seventh annual Wikipedia conference: Nobody wants to edit Wikipedia anymore. Is Wikipedia going to shrivel up and fade away?"

TAZ, 05.08.2011

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat in seinen Buch "Bloodlands" (hier unser Vorgeblättert), das die Massenmorde Stalins und Hitlers in Osteuropa in neuem Licht zeigen will, die Geschichte nicht wirklich verstanden, meint Stefan Reinecke: "So wird uns nahegelegt, die Unfähigkeit der KPD, gemeinsam mit der SPD 1933 die Machtergreifung der Nazis zu verhindern, für Stalins Werk zu halten. So war es - aber zu dieser Tragik gehört auch die, hier verschwiegene, Unfähigkeit der SPD, sich mit der KPD zu verbünden. Ähnliches gilt für den Hitler-Stalin Pakt, bei dem unerwähnt bleibt, dass er auch das Resultat des Unwillens der Westmächte war, mit Stalin zu kooperieren."

Anna Stommel und Lucie Yertek erinnern mit wissenswerten Einzelheiten an die Gründung des WWW für alle vor zwanzig Jahren: "Am Anfang war das Wort. Ein Aufsatz des Physikers Tim Berners-Lee mit dem unspektakulären Titel 'Informationsmanagement: Ein Vorschlag' aus dem Jahr 1989 gilt als der Start zum World Wide Web. ... Tim Berners-Lee wollte damit zunächst nur die tägliche Arbeit im Forschungszentrum Cern - genau, das mit den Teilchenbeschleunigern in der Schweiz - erleichtern."

Besprochen werden Alben der Mittelschichts-Rapper Tyler, The Creator, MellowHype und Frank Ocean aus Los Angeles und ein Konzert der amerikanischen Soul-Sängerin Erykah Badu im Berliner Tempodrom.

Und Tom.

Aus den Blogs, 05.08.2011

Die FR publizierte neulich einen Google-kritischen Artikel des ehemaligen FDP-Politikers Christoph Waitz. Das Problem dabei: Waitz arbeitet heute für die Lobby-Organisation ICOMP (Initiative für einen wettbewerbsfähigen Online-Markt) die wiederum von der PR-Agentur Burson-Marsteller betrieben wird und sich unter anderem für Leistungsschutzrechte stark macht. Nichts davon hat die FR erwähnt. Martin Weigert berichtet auf Netzwertig von einem Telefonat mit einem Mitarbeiter der Agentur: "Der Burson-Marsteller-Vertreter berichtete mir, dass man sich bei der Presse tatsächlich immer als 'Industrie-Initiative' vorstelle. Ich kann nicht beurteilen, ob dies stimmt. Offensichtlich liegt im aktuellen Fall die Verantwortung auf Seiten der Frankfurter Rundschau, eventuelle Interessenskonflikte oder Lobby-Aufträge des Gastautors offenzulegen." Mehr dazu auch im Blog Digitale Linke. Waitz hat selbst schon auf die Kritik reagiert.

FAZ, 05.08.2011

Die Nutzungsbedingungen von Google+, die den Teilnehmern nur den Auftritt unter Klarnamen gestatten, sowie deren Apologeten in Politik und Wirtschaft stoßen in Constanze Kurz' "Maschinenraum"-Kolumne auf energische Kritik: "Wer 'wegen der Sicherheit' oder 'wegen des guten Umgangstons' fordert, dass jeder nur noch mit seinem realen Namen online unterwegs sein soll, und vernachlässigt, dass die großen Online-Konzerne das gleiche Ziel aus kommerziellen Gründen verfolgen, der verlässt die Tradition der freiheitlichen Gesellschaft. Und befördert das Unwesen von Stalkern, Neppern, Schleppern und Bauernfängern."

Weitere Artikel: Mark Siemons verteidigt Henry Kissingers Buch über China gegen amerikanische Kritiker, die ihm Kulturalismus vorwerfen. Oliver Jungen lässt sich vom Ueberreuter-/Lappan-Verlag bestätigen, dass man derzeit über eine Rechtsanwaltskanzlei serienmäßig Webseitenbetreiber auf Schadenersatz verklagt, die aus Heinz-Erhardt-Gedichten zitieren: 400 bis 600 Euro plus Anwaltskosten pro Gedicht (mehr bei Heise).
Seinen "Pseudo-Realismus-Bogen" habe Peter Stein mit seiner Interpretation der Verdi-Oper "Macbeth" bei den Salzburger Festspielen "entschieden überspannt", befindet eine verstimmte Eleonore Büning. Schwer begeistert berichtet Sven Beckstete von Erykah Badus Konzert in Berlin, einen Eindruck davon findet man bei YouTube:



Gemeldet wird, dass der Pianist Nikolai Petrow gestorben ist und dass der Aufbau Verlag den Debütroman des Rolling-Stone-Journalisten Maik Brüggemeyer wegen rechtlicher Auseinandersetzungen erst im September veröffentlicht.

Besprochen werden der Film "Angele und Tony" (mehr), eine Ausstellung mit Fotografien von Joel Sternfeld im Essener Museum Folkwang sowie Bücher, darunter der "lakonisch wie heiter" geschriebene Roman "Ist schon in Ordnung" von Per Petterson (mehr in unserer aktuellen Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 05.08.2011

Stephan Speicher beklagt den Mangel an Enthusiasmus im europäischen Einigungsprozess. Wie ein Verein, der eifrig neue Mitglieder wirbt, sieht die wachsende EU in seinen Augen nämlich nicht aus, eher wirke sie wie eine rein formale Anstalt mit Mindestanforderungen an Eintrittsuchende. Mit Blick auf den deutschen Einigungsprozess im 19. Jahrhundert stellt er fest: "Auseinandersetzung schafft Zusammengehörigkeit, und das ist, was Europa jetzt fehlt. Seine Verfassungspolitik, wenn davon überhaupt die Rede sein soll, hat der Herausbildung einer europäischen Zusammengehörigkeit keine Aufmerksamkeit gewidmet."

Weitere Artikel: Anhand historischer Beispiele beschreibt Tim Neshitov die kulturvernichtende Dimension des massenhaften Landkaufs in Afrika durch ausländische Investoren. Jürgen Berger befasst sich mit den Verbindungen zwischen den deutschen Stadttheatern und dem allgemeinen Festspielbetrieb. Wolfgang Jean Stock war auf Hausbesuch in Taliesin, Frank Lloyd Wrights Wohnhaus und Atelier, das derzeit sein hundertjähriges Bestehen mit einer nur vorab gebucht besuchbaren Ausstellung feiert. Rechtschreibpapst Theodor Ickler schimpft darüber, dass der Rat für deutsche Rechtschreibung Orthografieänderungen nun nicht mehr nur vorschlagen, sondern im kleineren Rahmen auch vornehmen darf. Claus Lochbihler spricht mit dem Jazzmusiker Branford Marsalis über dessen neues Album, Fritz Göttler mit der Regisseurin Alix Delaporte über ihren Film "Angele und Tony" (mehr hier).

Besprochen werden Peter Steins Interpretation der Verdi-Oper "Macbeth" bei den Salzburger Festspielen, die Filme "Angele und Tony" (mehr) und "Mein Leben im Off" (mehr) sowie Bücher, darunter ein Portrait der Komponistin Fanny Hensel-Mendelssohn (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).