Heute in den Feuilletons

Die Furien der Wirklichkeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.07.2011. Die Welt ist nicht froh über das Phänomen der Ebooks, die einfach ohne die Approbation der Verlage entstehen. Außerdem ist der Sammler Heiner Bastian entsetzt über die Berliner Kunstleistungsschau "Based in Berlin". Die NZZ berichtet über eine Initiative aus dem Umkreis des "Heidelberger Appells" gegen die DFG. In der taz fragt Micha Brumlik: Gibt es unter Christen mehr Rechtsextreme als unter Konfessionslosen? Die FAZ will ihr Haus nicht vermummen.

TAZ, 05.07.2011

Annetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung hat auf dem Kirchentag eine Studie präsentiert, wonach mehr Kirchenmitglieder rechtsextreme Auffassungen vertreten als Menschen, die keiner Kirche zugehören. Darüber hatte sie auch in der Berliner Zeitung geschrieben und damit einen empörten Leserbrief von Kirchentagspräsidentin Katrin Göring-Eckhardt ausgelöst, berichtet Micha Brumlik in seiner Kolumne und stellt die Frage nochmal: "Und wenn es so wäre, hätte dann Kahane nicht recht, wenn sie die politisch verantwortlichen Christen auffordert, sich vor allgemeinen Stellungnahmen zu Gott und der Welt - von Fukushima bis nach Kabul - zunächst um die irrenden Schafe, die Brüder und Schwestern im Glauben zu wenden und vom falschen Weg abzubringen? "

Weitere Artikel: Es sind von Fritz Teufel höchstpersönlich verfasste Protokolle von Treffen der Kommune 1 aufgetaucht, und Kerstin Carlstedt ist ganz gerührt über die dürren Notate und psychedelischen Kritzeleien ("etwa wenn er 'Langhans' schreibt und jeden einzelnen Buchstaben grafisch aufmotzt"). Julia Grosse verfolgte in London ein Treffen zwischen Slavoj Zizek und Julian Assange. Es war Showbusiness vom Feinsten: "'Sie sind ein Terrorist! Genauso, wie Gandhi auch einer war!' Toben im Saal."

Und Tom.

Weitere Medien, 05.07.2011

Ungarische Intellektuelle, darunter György Dalos, György Konrad und Laszlo Rajk bitten in einem Offenen Brief Hillary Clinton, die zur Eröffnung des Tom Lantos Institute in Budapest war, die ungarische Demokratie gegen Regierungschef Victor Orban zu verteidigen: "Madame Secretary: the historic visit of President George Bush in 1989 helped us Hungarians to establish democracy in our country. Your visit may help us to prevent its demolition today. We are certain that you will speak up for Hungary?s once again endangered freedom."

Auch Großbritannien hat gerade einen kleinen Plagiatsskandal: Der Journalist Johann Hari soll in seinen Interviews Antworten der Interviewten aus Büchern abgeschrieben haben. Guy Walters findet das im New Statesman "shoddy, very shoddy". Eine Entschuldigung sei nicht genug. "It would be naive to suppose that all these passages are simply, as Hari said in his apology, substitutions for what 'they [his interviewees] have written or said more clearly elsewhere on the same subject for what they said to me'. Did she also say the same things in the same way to Hari? I'm doubtful, to put it mildly. Is this an interview? No. It's a book digest sold as an interview."

Welt, 05.07.2011

Das Ebook sorgt bei Wieland Freund für kulturpessimistische Reflexe. Ebooks sind oft kürzer als gedruckte Bücher, und manchmal einfach Schrott (aber auch im gedruckten Bereich zirkulieren ja Pamphlete wie Stephane Hessels "Empört Euch"). Wie auch immer - auf diesem Marktplatz fehlen Freund die Verkehrspolizisten: "Es waren am Ende die Verlagshäuser, die wenigstens den gröbsten Unfug beiseite ließen und den Unterschied machten zwischen Redaktion und Distribution. Jetzt sind es die neuen Gatekeeper, die den Unterschied wieder verwischen."

Der Sammler Heiner Bastian ist entsetzt über die Berliner Kunstleistungsschau "Based in Berlin": "So viele Glaubensbekenntnisse des hilflosen Nachahmens hat es vielleicht noch nie in einer Ausstellung gegeben. Wertlose, immer abstrakter werdende Fallen virtueller Vor- und Zurichtungen. Die Furien der Wirklichkeit, ihre grellen Verwerfungen sind fast immer ausgeblendet, die entlarvenden tabubrechenden Waffen der Kunst eingemottet. "

Weitere Artikel: Der niederländische Leiter der Münchner Kammerspiele, Johan Simons, klagt im Gespräch mit Jenny Hoch über Kulturkürzungen und eine kunstfeindliche Stimmung in seinem Land unter Geert Wilders. Eckhard Fuhr gratuliert dem Goethe-Institut zum Sechzigsten. Ekkehard Kern berichtet vom Treffen des Netzwerks Recherche mitsamt der angeblichen Unregelmäßigkeiten in der Buchführung.

NZZ, 05.07.2011

Joachim Güntner berichtet von einem "Tribunal" über die DFG am Berliner Ensemble, wo u.a. KD Wolff und Roland Reuß schwere Vorwürfe gegen die Förderpolitik der DFG erhoben: "Die in der Hauptsache aus Steuermitteln finanzierte DFG vergibt öffentliche Gelder, ist aber als Verein davon entlastet, ihre Förderpolitik hinreichend offenzulegen. Sie hebelt das Grundgesetz aus. Ihrem Auftrag gemäß dürfte sie nur Projekte und Individuen fördern, stattdessen aber betreibt sie längst Strukturpolitik, indem sie etwa 'Exzellenzinitiativen' und 'Forschungs-Cluster' bezuschusst oder Wissenschafter zur Publikation via 'Open Access' drängt und so einen Systemwechsel von gedruckten zu digitalen Veröffentlichungen erzwingt." Reuß war Initiator des Heidelberger Appells, der sich gegen die Digitalisierung urheberrechtlich geschützter Werke durch Google Books und gegen Open Access richtete (hier die Kritik von Matthias Spielkamp).

Weitere Artikel: Martin Meyer amüsiert sich über die Vorstellung einer Kollegin von der IHT, Ampeln könnten dazu genutzt werden, den Verkehr fließen zu lassen.

Besprochen werden die Fotoausstellung "Photoespana 2011" in Madrid, die Uraufführung von Hans Thomallas Oper "Fremd" in Stuttgart, Stockhausens Helikopter-Quartett in Boswil und Bücher, darunter Thomas Wolfes Roman "Die Party bei den Jacks" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 05.07.2011

Helmut Kohl hat letzte Woche in einer Presseerklärung gegen die "Vermarktung" seines Privatlebens in Büchern und Medienberichten protestiert (mehr hier). Wird ihm nichts nützen, meint Stephan Hebel und erklärt dem Altkanzler: Über seinen Platz in der Geschichte werden andere entscheiden.

Besprochen werden Konzerte beim Festival Impulse und Bücher, darunter Sarah Gliddens Comic "Israel verstehen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Stichwörter: Hebel, Stephan, Kohl, Helmut

Berliner Zeitung, 05.07.2011

Antje Hildebrandt besucht die Macher der deutschen Ausgabe der Zeitschrift Vice, die mit folgenden Themen viele Lead Awards abgeräumt hat und offenbar auch Erfolg bei Anzeigenkunden hat: "Vice enthüllt, warum sich Kidnapping in Afghanistan lohnt und warum kugelsichere Westen bei der Islamabad Fashion Week nicht nur ein modisches Accessoire sind. Die Leser erfahren, warum sich die Stiefelmode in Mexiko zuspitzt und warum sich HIV-positive Männer dafür bezahlen lassen, andere Schwule mit dem tödlichen Virus zu infizieren. "

SZ, 05.07.2011

Die derzeit auf dem Gebiet von Religion und Kultur ausgetragenen Machtkämpfe im Iran schildert Elisabeth Kiderlen (mehr dazu in der Zeit). Vom Manchester International Festival, das mit neuen Projekten von Björk und Damon Albarn begann, berichtet Alexander Menden. In sehr staatstragender Weise gratuliert Lothar Müller dem Goethe-Institut zum Sechzigsten, würdigt das Wirken der Organisation in Vergangenheit sowie Gegenwart und sieht auch eine erfolgreiche Zukunft. Gustav Seibt reist nach England und denkt auch da nur an Goethe und Weimar. Christoph Rapp gratuliert der Philosophin Dorothea Frede, Kristina Maidt-Zinke der Autorin Barbara Frischmuth zum Siebzigsten.

Besprochen werden ein Konzert von Shlomo Mintz mit Bachs Solostücken für Geige bei den Europäischen Wochen in Passau, Martin Schläpfers Düsseldorfer Choreografie zu Johannes Brahms' "Ein deutsches Requiem", die große Ausstellung zum 200. Geburtstag Franz Listzs in Weimar, die Ausstellung "Container-Architektur" im NRW-Forum Düsseldorf, Peter Weirs Fluchtfilm "The Way Back"
(nach einem "authentischen Bericht", glaubt als so ziemlich einziger noch Fritz Göttler), Michelangelo Frammartinos kalabrischer Seelenwanderungsfilm "Vier Leben", und neue Taschenbücher sowie Ingeborg Walters Familiengeschichte "Die Strozzi" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 05.07.2011

Dieter Bartetzko beklagt am Beispiel Frankfurts eine unausweichliche Konsequenz der Energiewende: "In einer Art kollektiver Vermummungsaktion werden landauf, landab Wohnhäuser, Siedlungen und kommunale Bauten rundum verpackt, isoliert, gedämmt. Erreichen sie schließlich die 'Energieausweis'-Reife, sind sie meist bis zur Unkenntlichkeit entstellt." Nicht zu vergessen das aus den Fenstern suppende Leichenschauhauslicht der Energiesparleuchten!

Weitere Artikel: Lorenz Jäger gibt den Gaddafi-Freunden aus der Afrikanischen Union, die Gaddafi nicht an den Hager Gerichtshof ausliefern wollen, Recht, da auch die Amerikaner und andere das Gericht nicht anerkennen, und "ein Recht, das nur für einige Akteure Geltung hat und andere ausnimmt, bei dem alle gleich sind, einige aber gleicher, ist kein Recht". Gina Thomas glossiert den britischen Streit um das "Oxford-Komma", also das Komma, das in Aufzählungen vor dem "und" steht und das dazu zwingt die Farben des Union Jack als "Rot, Weiß, und Blau" anzugeben. Oliver Tolmein kommentiert die "Entscheidungslösung" für Organtransplantationen und fordert eine ausreichende Information der Bürger. Paul Ingendaay berichtet über einen Finanzskandal beim spanischen Pendant zur Gema. Andreas Rossmann schreibt zum Tod des Historikers Klaus Tenfelde.

Besprochen werden die Uraufführung von Hans Thomallas Oper "Fremd" in Stuttgart, Martin Schläpfers Choreografie zum "Deutschen Requiuem" in Düsseldorf, eine Ausstellung niederländischer Zeichnungen in Hamburg und Bücher darunter Petros Markaris' Krimi "Faule Kredite", der bereits die griechischen Schuldenkrise thematisiert (aber die Rezensentin Lena Bopp nicht überzeugt, mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).