Heute in den Feuilletons

Böse Cousine

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.06.2011. In der Welt sucht Krisztina Koenen eine ungarische Partei, die nicht antiaufklärerisch oder korrupt ist. Die taz denkt sich das Personal für die große deutsche Fernsehserie über die Ökobewegung aus. In der NZZ erinnert Urs Widmer an den Aufstand der Lektoren im Suhrkamp Verlag. Die SZ erinnert an dem Umgang mit Hiphop und diesem "Brech-Tanz" in der DDR. Und alle schreiben zum Tod des Malers Bernhard Heisig.

Welt, 11.06.2011

Ungarn ist in einer gefährlichen Schieflage, schreibt die Publizistin Krisztina Koenen in der Literarischen Welt. Regierungschef Victor Orban fördert eine antiaufklärerische, antiintellektuelle und rassistische Haltung. Aber es gibt auch keine Partei, die sich ihm entgegenstellen kann - zumal die Sozialisten sich während ihrer Regierungszeit als unglaublich korrupt erwiesen haben. "Gewiss hat es Bedingungen gegeben, die diese Entwicklung in Ungarn begünstigten, vor allem das Fehlen einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und die fortlebende Überzeugung, das Herrenvolk Mitteleuropas zu sein. Erschwerend kam der schroffe Gegensatz zwischen der Hauptstadt Budapest und dem Rest des Landes hinzu und die Lagerbildung in der Bevölkerung. Eine schnelle Änderung ist nicht zu erwarten. Eine Partei, die mit der Anbiederung Schluss macht, freiheitlich denkt, sich wieder der Aufklärung verschreibt und von der Idee verabschiedet, dass der Staat die Beute der Herrschenden ist, ist nicht in Sicht."

Besprochen werden u.a. die Tagebücher von Thea Sternheim, Matthias Matusseks Erfahrungsbericht "Das katholische Abenteuer", Henry Kissingers Band über China, Orhan Pamuks Erstlingsroman "Cevdet und seine Söhne" und die Irak-Reportage von Nick McDonell.

Im Feuilleton schreibt Peter Dittmar zum Tod des Malers Bernhard Heisig. Henryk M. Broder amüsiert sich über Jakob Augsteins Verteidigung der Öffentlich-Rechtlichen. Hannes Stein berichtet über die Verwandlung der New Yorker Highline, die zu einer Art "japanischer Ziergarten" für Flaneure umgebaut wurde. Sven Felix Kellerhoff liest anlässlich der vor fünfzig Jahren von Ulbricht gesprochenen Worte "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten" neue Bücher zum Mauerbau. International produzierte "Event-Filme" wie "Laconia" sind die Zukunft des Fernsehens, erfährt Wilfried Urbe beim Fernsehfestival in Monte Carlo. Für die Stilseite trifft Michalis Pantelouris den Hamburger Modeschöpfer Jeremy Hackett.

Besprochen werden die Aufführung von Verdis "Boccanegra" an der Englischen Nationaloper und Frank Castorfs Inszenierung von Dostojewskis "Spieler" bei den Wiener Festwochen.

TAZ, 11.06.2011

Dirk Knipphals fragt sich, warum es "nicht längst eine große deutsche Fernsehserie über die Ökologiebewegung" gibt. Bisschen Luhmann lesen, ein paar US-Serien gucken und schon geht's los: "Ob die Serie gelingt, hängt vor allem aber von zwei Dingen ab: der Rahmenhandlung und den Konflikten und Gegenspielern. Bei der Rahmenhandlung bitte keine wohlmeinenden Ökosondereinheiten oder klischierten Politikerkarrieren, die mit großen Erwartungen anfangen und im Politikbetrieb allmählich zerbrechen. Wie wäre es mit etwas Einfachem? Der Entwicklungsgeschichte dreier Schwestern. Eine wird politisch in Mutlangen initiiert und dann Referentin bei Kretschmann (oder Chefin der taz). Die zweite wird Aussteigerin. Die dritte kriegt Kinder in Prenzlauer Berg. Wahrscheinlich kann einem noch Besseres einfallen."

Jutta Lietsch unterhält sich mit Donald C. Clarke, einem Experten für die chinesische Rechtspraxis. Er erkennt zwar Fortschritte in dem Land, aber nicht bei den "heiklen Fällen", die die Macht der Funktionäre berühren und von diesen nach Belieben manipuliert werden: "Bei der Entscheidung über ihr Schicksal werden rechtliche Normen wohl kaum eine wichtige Rolle spielen. Ai Weiwei ist viel zu prominent, als dass sein Fall anders als politisch gelöst werden könnte. Man müsste extrem naiv sein, etwas anderes zu erwarten."

Weitere Artikel: Detlef Diederichsen erinnert an den Popsänger Harry Nilsson, derin diesen Tagen siebzig Jahre alt geworden wäre. Jörg Magenau reibt sich angesichts der Focus-Liste "Die 50 wichtigsten Autoren des deutschen Sprachraums" und fragt: "Was ist besser an Günter Grass als etwa an Herta Müller?

Und Tom.

NZZ, 11.06.2011

Urs Widmer erinnert sich sich in Literatur und Kunst an den Aufstand der Lektoren im Suhrkamp Verlag (er war damals einer von ihnen) im Jahr 1968 - und reagiert damit auf Siegfried Unselds offizielle Chronik der Ereignisse, die kürzlich als Buch erschienen ist. Er versteht heute aber auch die Autoren, die sich den revoltierenden Lektoren nicht angeschlossen hatten. Da hatte Unseld nämlich etwas richtig gemacht: "Für einen Autor ist ein guter Verlag der, der seine Bücher druckt, und ein guter Verleger geht mit ihm essen (zum Italiener, mit einem tadellosen Rotwein) und gibt ihm, wenigstens für einen Abend lang, das Gefühl, er sei wenn nicht der einzige, so doch der wichtigste Autor seines Verlags." Widmers Text ist ein Vorabdruck aus einem Erinnerungsband der ehemaligen Suhrkamp-Lektoren.

Weitere Artikel in der Samstagsbeilage: Georg Kreis beobachtet, dass immer Gesamtdarstellungen der Schweizer Geschichte und fragt sich, ob es damit eine politische Bewandtnis habe. Karlheinz Stierle betrachtet ein im Louvre ausgestelltes Selbstportät des jungen Dürer. Besprochen werden Bücher, darunter eine neue Biografie über Matthias Claudius.

Im Feuilleton gibt Andrea Köhler einen Überblick über die zahlreichen Sexskandale von Politikern in den USA. Marion Löhndorf besucht das Southbank Centre am Londoner Themseufer, wo des "Festivals of Britain" on 1951 gedacht wird, mit dem sich das Land in der Nachkriegszeit eine Identität zulegen wollte. Besprochen wird die Ausstellung mit Briefen Kafkas an seine Schwester Ottla in Marbach.

FR, 11.06.2011

In Times mager ärgert sich Christian Schlüter über das Gefälligkeitsinterview, das Jörg Kachelmann der Zeit-Reporterin Sabine Rückert gab, die "massiv in den Prozessverlauf eingegriffen" habe, indem sie versuchte, ihren Lieblingsanwalt Johann Schwenn in den Prozess zu drücken, der den Fall dann auch irgendwann übernahm. Sebastian Preuss schreibt zum Tod des DDR-Malers Bernhard Heisig.

Besprochen werden die Ausstellung "Götterdämmerung Ludwig" zum 125. Todestag Ludwigs II. im Schloss Herrenchiemsee, eine CD der Band Broilers und George Taboris Shakespeare-Collage "Verliebte und Verrückte" in Kassel.

FAZ, 11.06.2011

Im Unmut zahlreicher Wortmeldungen zum Beschluss des Ärztetages, der es Ärzten verbietet, Beihilfe zur Selbsttötung zu leisten, zeigt sich, Rechtsanwalt Oliver Tolmein (hier sein FAZ-Blog) zufolge, "welchen leidenschaftlichen Hoffnungen auf eine Durchsetzung des ärztlich assistierten Suizids als anerkannter Behandlungsalternative sich die Befürworter einer weitgehenden Freigabe aller Formen von Sterbehilfe hingegeben hatten."

Weitere Artikel: Zeuge angerichteter Ödnis wurde Martin Lhotzky bei der Wiener Premiere von Frank Castorfs Dostojewksi-Adaption "Der Spieler". Vom Streit in Spanien um zahlreiche rechtslastige und Franco-nostalgische Einträge im millionenschweren Projekt "Diccionario Biografico Espanol" berichtet Paul Ingendaay. Joseph Croitoru exzerpiert einen Aufsatz der Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky, in dem diese sich mit Ungarns jüngster völkischer Wende und dem "antikommunistischen Antisemitismus" befasst. Auf den Berliner Buchtagen gehaltene "knackige Mutmacher-Vorträge" in Richtung mittelständischer Buchhändler angesichts der Absatzzahlen von e-Books in den USA referiert Wolfgang Schneider.

Andreas Kilb hat ausgiebig in den endlich digital vorliegenden privaten Schatullrechnungen Friedrichs des Großen gestöbert. Auf "Journalismus vom Feinsten" ist eine begeisterte Eva Berendsen beim Blättern im österreichischen Monatsmagazin Datum gestoßen. Ganz überwältigt zeigt sich Dieter Bartetzko von den Schätzen des neuen Keltenmuseums am Glauberg. Mit wenigen Zeilen, aber sichtlich von Herzen empfiehlt Bert Rebhandl den ungarischen Film "Bibliotheque Pascal". Eduard Beaucamp hat den Nachruf auf den Maler Bernhard Heisig verfasst.

Besprochen werden neue Schallplatten von u.a. Erika M. Anderson und der Rockgruppe Cake, sowie Bücher, darunter "Weiche Displays", Gunnar Schmidts Kulturgeschichte des Rauchs als Projektionsfläche (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Für Bilder und Zeiten kramt Ulrich Raulff tief in der Mottenkiste für eine Literaturgeschichte der ungeschriebenen Meisterwerke - und findet von Goethe bis Koeppen viele Kronzeugen. Susanne Roeder hat sich mit dem fast hundertjährigren Rennfahrer, Journalist und Verleger Paul Pietsch über dessen bewegtes Leben unterhalten. Als kompensatorische Fluchträume eines Vertreters überkommener Herrschaftsformen deutet Christine Tauber die Bauprojekte von Ludwig II. Ingo Petz bekleidet den renitenten weißrussischen Rockmusiker Rockmusiker Ljavon Volski zum Konzert.

Für die Frankfurter Anthologie stellt Jan-Christoph Hauschild ein Gedicht von Heiner Müller vor:

"Wiedersehn mit der bösen Cousine

Die mein Spielzeug zerbrach hinter dem Rücken
ZEIG HER und ich zeigte es ihr
..."

SZ, 11.06.2011

Die heutige SZ steht im Zeichen der Hip-Hop-Kultur: Die Probleme und Nöte des DDR-Regimes, die in den 80ern vorsichtig auch ins eigene Land schwappende Breakdance-Mode vernünftig einzuschätzen, schildert Renate Meinhof und legt dazu zahlreiche Zitate kurioser Aktenprosa vor: "Seit etwa Mitte August 1984 tritt im Stadtgebiet von Neubrandenburg eine Gruppe Jugendlicher in Erscheinung, die sich zu einem gewissen 'Brigg-Tanz' Klub (oder auch 'Brech-Tanz' Klub) zusammengeschlossen haben. Rein äußerlich fallen diese Jugendlichen durch eine Kurzhaarfrisur auf, die doch recht eigenartig geformt ist und bei der einige Strähnen eingefärbt sind."

Barbara Doll hat sich mit dem Komponist, Organist und Chorleiter Gregor Gardemann unterhalten, der in seinem am Sonntag startenden 14-Messen-Zyklus eine lateinische Liturgie rappen lassen wird. Mit Haut und Haar ist Max Fellmann dem Universalgenie Chilly Gonzales (Website) verfallen, der auf seinem neuesten Album zu Orchestermusik rappt. Und das klingt so:



Weitere Artikel: Die Kunst in der Türkei blüht auf, berichtet Kai Strittmatter, das Verdienst der gegenwärtigen Regierung sei dies jedoch nicht. Dorothea Baumer befasst sich mit der Versteigerung von Bildern aus der Sammlung von Christian Graf Dürckheim Ende Juni bei Sotheby's. Antonia Kurz wirft einen Blick in den Katalog der 42. Art Basel. Dirk Wagner kündigt das Klangfestival in München an. Der Krieg in Vietnam war illegal, wie aus den nun erstmals komplett veröffentlichten Pentagon Papers hervorgeht, berichtet Willi Winkler. Als lohnenswert empfand Christine Dössel die Reise nach Wien zur Premiere von "Der Spieler", Frank Castorfs "Dostojewski-Roulette". Katrin Kuntz hat sich bei Laura Jansens Münchner Konzert von "schnörkellosem Piano-Pop" verzaubern lassen. Sehr enttäuscht ging hingegen Ralf Dombrowski vom Konzert von Mike and the Mechanics nach Hause. Sabine Leucht berichtet vom Jugend-Tanz-Festival "Think Big". Catrin Lorch ruft dem "sturen Maler" Bernhard Heisig nach. Karl Lippegaus gratuliert dem Jazzpianisten Chick Corea zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden ein Fernsehfeature über den Intendanten Dieter Dorn, das am Pfingstmontag im Bayerischen Fernsehen ausgestrahlt wird, sowie Bücher, darunter eine neue Coco-Chanel-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Die SZ am Wochenende hat das "großartigste Literaturfestival der Welt" am dafür unwahrscheinlichsten Ort der Welt ausfindig gemacht: Im walisischen, 1500 Einwohner zählenden Kaff Hay-on-Wye, das einmal jährlich nicht nur knapp 100000 Besucher, sondern auch die literarische Großprominenz anzieht, die dort eine Sau gewinnen kann. Auch andere Zahlen klingen schier unglaublich: So beherberge das Dorf 30 Antiquariate, dessen Gesamtbestand auf 10 Millionen geschätzt wird. Allein das größte davon hat 500.000 Bücher im Angebot, schreibt Judith Liere.