Heute in den Feuilletons

Revolutionär der Rede

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2011. Dance, baby! Die taz feiert Tecnobrega, Durban Kwaito und Moombahton. Herta Müller erzählt in der FAZ, wie Jorge Semprun sie auf den Bumerang des Glücks vorbereitete. Die FR erzählt, wie Hilmar Hoffmann und Iring Fetscher auf die Enthüllung ihrer NSDAP-Mitgliedschaft reagierten. Alle freuen sich über den Friedenspreis für Boualem Sansal.

Welt, 10.06.2011

"Der Friedenspreis geht an einen Revolutionär der Rede", freut sich Wieland Freund über die Auszeichnung für den algerischen Schriftsteller Boualem Sansal: "Die Not der Selbstvergewisserung, die Sansal zum Schreiben trieb, ist in seinem zweiten Roman in das kafkaeske Bild eines stummen Kinds gefasst, das in einem hohlen Baum im Hof eines Gefängnisses lebt - es ist gewissermaßen dieses Kind, das Sansal, Insasse des algerischen Diskursgefängnisses, in seinen ersten Büchern zur Sprache bringt: Aus der Stummheit wird sprudelnde, oft überbordende Rede, die das algerische Französisch in ein karnevaleskes Kauderwelsch voller Berberbrocken verwandelt - Abbild einer Nation, die bunter ist, als es religiöse oder panarabische Ideologen wahrhaben wollen."

Weiteres: Hans-Joachim Müller liest die Notizbücher Anselm Kiefers aus den Jahren 1998 und 1999: "Manches könnte Peter Handke notiert haben." Stefan Pannor meldet, dass trotz einer anderslautenden Verfügung von Charles Schultz ein neuer "Peanuts-Band erschienen ist. Dankwart Guratzsch erklärt, was alles für den Bau der Berliner Schlossattrappe spricht. Claus Lochbihler schreibt zum Achtzigsten des brasilianischen Musikers und Bossa-Nova-Erfinders Joao Gilberto. Behrang Samsami erinnert an Hermann Hesses Reise nach Indien vor hundert Jahren. Paul Badde unterhält sich mit dem katholischen Verleger Bernhard Meuser über dessen reaktionären Jugendkatechismus.

Weitere Medien, 10.06.2011

Wir sammeln hier einige Links zu Boualem Sansal. Seine Bücher veröffentlicht er in Deutschland im Merlin Verlag, der eine kleine Website für seinen Autor gebaut hat. Hier finden sich unter "Downlads" auch einige Informationen über Sansal. In der Welt hat er im Februar einen bemerkenswert skeptischen Artikel zu den arabischen Unruhen veröffentlicht: "Ich glaube allerdings, dass das größte Problem noch bevorsteht: Es wird der Moment sein, an dem sich die verschiedenen sozialen Strömungen direkt gegenüberstehen: Islamisten, Christen, Nationalisten, Demokraten, Arbeitslose, Gewerkschaften, Armee, Bourgeoisie." Die Literarische Welt brachte im Januar auch einige arabische Stimmen zur Revolte, darunter die Sansals.

Die taz hatte ihn von allen deutschen Zeitungen wohl als erste entdeckt. "Wenn wir uns in der arabischen Welt umschauen, gibt es nirgends eine Opposition im eigentlichen Sinne", sagte er 2003 im Interview mit Rainer Wandler. Und im Februar 2011 erklärte Sansal, ebenfalls im Gespräch mit Reiner Wandler, warum die Jugend revoltierte. Die jungen Menschen könnten über nichts reden: "Das betrifft nicht nur die Politik, die Diskussion über das politische Regime, über die Demokratie, sondern auch den Alltag. Sie können auch zu Hause über nichts reden. Alles dreht sich um den Respekt gegenüber den Eltern, gegenüber der Religion, den Traditionen, sie können nicht mit Mädchen oder Jungs sprechen, auch nicht mit ihren Lehrern ? Die Jugendlichen stehen völlig alleine da."

Sehr hübsch für alle, die französisch können. Sansals gesammelte Radiokolumnen im Radio Mediterranee internationale.

Der Nouvel Obs hat Sansal vor drei Jahren zu seinem Roman "Le village de l'allemand" interviewt:



Auch im Print erschien im Januar 2008 NouvelObs seinerzeit ein Interview, aus dem wir in der Magazinrundschau folgende geradezu prophetische Passage über die Situation in Algerien zitierten: "Wir leben unter einem national-islamistischen Regime und einer von Terrorismus geprägten Umgebung, und wir sehen sehr wohl, dass die Grenze zwischen Islamismus und Nazismus dünn ist. Algerien wird von seiner Jugend als 'Gefängnis unter freiem Himmel' wahrgenommen, so die einen, und von den anderen, die in den Städten langsam zu Grunde gehen, als 'Konzentrationslager'. Sie fühlen sich nicht nur als Gefangene von Mauern und abgeschotteten Grenzen, sondern einer finsteren und gewalttätigen Ordnung, die ihnen noch nicht einmal Raum zum Träumen lässt."

FR, 10.06.2011

Im politischen Teil beschreibt Harry Nutt die Reaktion Hilmar Hoffmanns und Iring Fetschers auf die Enthüllung, dass sie als Jugendliche in die NSDAP eingetreten sind: "Der langjährige Frankfurter Kulturdezernent Hoffmann gibt dieses bisher unbekannte Kapitel seines Lebens zu, Fetscher bestreitet, jemals von sich aus die Mitgliedschaft gesucht zu haben."

Im Feuilleton bespricht, noch ganz beschwippst von der Lektüre, Rolf-Bernhard Essig Ulrike Draesners "fabelhaften" neuen Geschichtenband "Richtig liegen. Geschichten in Paaren": "Das Gefühl nach konzentrierter Lektüre: wie nach einem Kurzfilmfestival. Eine Mixtur aus Bildtrunkenheit, Denkgenuss und einem Schuss Überdruss verwirrt produktiv. Erst nach einer Zeit stellt das Ich sich wieder ein - beschwingt, bestürzt, bereichert. Ob der Leser deshalb - trotz doppelter Lektüre - die angedeuteten Paarungen nicht erkannte? Nun, manchmal ist auch ein Kritiker vernagelt. Es gab ohnedies genug Wissenswertes zu finden."

Außerdem würdigt "ith" die erstaunliche Friedenspreis-Entscheidung für den algerischen Autor Boualem Sansal, der als erster ein Tabu thematisiete: Nazi-Einflüsse in der Ideologie des arabischen Nationalismus und des Islamismus. Christian Schlüter lauschte den Frankfurter Adorno-Vorlesungen des amerikanischen Philosophen Robert Pippin.

NZZ, 10.06.2011

Brigitte Kramer stellt die spanischen Architekten Luis Mansilla und Emilio Tunon vor, die unter anderem das Musac in Leon entworfen haben. Julian Weber huldigt der Bossanova-Legende Joao Gilberto. Ursula Seibold-Bultmann widmet sich den raren Grünflächen in Istanbul. Besprochen werden eine Ausstellung von Franz Gertschs Jahreszeitenzyklus im Kunsthaus Zürich sowie Alben der ehemaligen E.S.T.-Musiker Dan Berglund und Magnus Öström.

Aus den Blogs, 10.06.2011

Das ist aber wirklich sehr schade: Carta "geht in die Sommerpause", meldet Robin Meyer-Lucht, aber es klingt eher wie das Ende eines der wenigen spannenden deutschen Blogs.
Stichwörter: Sommerpause

TAZ, 10.06.2011

Uh-Young Kim stellt anlässlich des Berliner Festivals "Radical Riddims" einige Protagonisten der Global Dance Music vor, gegen die James Blake fast so blass blass aussehe wie die amtierenden Musikredakteure: "Weitgehend unbemerkt von Popmagazinen und Tageszeitungen spuckt die Global Dance Music einen frischen Stilhybriden nach dem anderen aus: Tecnobrega aus dem Norden Brasiliens, Durban Kwaito Music von südafrikanischen Szenestars wie Professor oder neuerdings Moombahton... Bekanntester Vertreter der Global Dance Music ist der US-Produzent Wes Pentz alias DJ Diplo. Mit seinem Projekt Major Lazer hat er die szeneübergreifende Hymne der Bewegung komponiert: 'Pon De Floor', eine fast schon körperliche Attacke mit Einflüssen aus Dancehall Reggae, Acid und Baltimore Club."

Hier "Lento" von Professor:




Besprochen werden eine Ausstellung des deutsch-iranischen Fotografen Maziar Moradi in der Städtischen Galerie Essen, Takashi Miikes Film "13 Assassins" auf DVD und Vetivers Ablum "The Errant Charm".

Und Tom.

SZ, 10.06.2011

Ideale Friedenspreiseignung attestiert Joseph Hanimann dem designierten Preisträger, dem Schriftsteller Boualem Sansal: "Diese Friedenspreiswahl ist so unerwartet wie erfreulich. Der Mut, eine in Deutschland bisher wenig bekannte Persönlichkeit zu ehren, steht für die Bereitschaft, wichtige Stimmen auch abseits des unmittelbaren deutschen Horizonts zu hören. Boualem Sansal ist ein für alle Seiten anregender und unbequemer Autor. Aus seinen Romanen lässt sich herauslesen, dass die nächste Friedenspreisrede nicht aus besinnlichen Betrachtungen bestehen wird. Es das Verdienst des Merlin Verlags, dass die Lektüre dieser Romane schon heute auch auf deutsch möglich ist."

Weitere Artikel: Thomas Steinfeld referiert Thesen des Philosophen Christoph Türcke, der im Jahrbuch der Psychoanalyse bei der ganzen Gesellschaft ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert. Als Mann absoluter Gewissheiten erlebt Kersten Knipp den Linguisten und Kapitalismuskritiker Noam Chomsky bei seinem Auftritt in Köln. Egbert Tholl porträtiert den japanischen Theaterkünstler Akira Takayama. Auf eine jetzt bekannt gewordene Liste von Künstlern, mit deren Werken sich der Vatikan in einer Ausstellung zum 60. Jahrestag der Priesterweihe Joseph Ratzingers schmücken will, verweist Henning Klüver: Es stehen unter anderem Bill Viola, Anish Kapoor und Jannis Kounnellis darauf. Zum Siebzigsten des Schauspielers Jürgen Prochnow schreibt Rainer Gansera. Karl Lippegaus gratuliert dem Bossa-Nova-Mann Joao Gilberto zum Achtzigsten - Max Scharnigg bespricht bei der Gelegenheit das der Suche nach dem Komponisten gewidmete Buch des noch vor der Veröffentlichung verstorbenen Journalisten Marc Fischer. Sandra Danicke hat einen kurzen Nachruf auf die im Alter von 101 Jahren verstorbene letzte neusachliche Künstlerin Erika Streit verfasst. 

Besprochen werden die Ausstellung "Matt Mullican. Das Ordnen der Welt" im Münchner Haus der Kunst, das Videospiel "Portal 2", Matthew Vaughns Superhelden-Neustart "X-Men: First Class" und Bücher, darunter Juan Gabriel Vasquez' Roman "Die Geschichte Costaguanas" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 10.06.2011

Herta Müller beschreibt kurz, was Semprun sie gelehrt hat: "Auch mit der eigenen Verfolgung zu leben, habe ich von Jorge Semprun gelernt. Aus seinen Sätzen wusste ich, wie Beschädigung sich auswirkt. Auf den Bumerang des Glücks hatte Jorge Semprun mich vorbereitet - dass Beschädigung immer Kopf bleibt."

Weitere Artikel: Sandra Kegel freut sich über den Friedenspreis für Boualem Sansal: "Eine bessere Entscheidung konnte es zu diesem Zeitpunkt nicht geben." Mark Siemons erzählt vom Fall des Musikstudenten Yao Jiaxin, der hingerichtet wurde, nachdem er eine Frau angefahren und "aus Furcht vor Entschädigungsforderungen" erstochen hatte. Das "Streitgespräch" mit Museumsdirektorin Pia Müller-Tamm über den Umgang mit Themen wie Pädophilie in der Moderne ist leider keins. Hans-Christian Rössler berichtet von Kulturveranstaltungen in Jerusalem, die das Image der Stadt aufpolieren sollen. Nachdem der Stiftungsrat den überarbeiteten Entwurf gebilligt hat, steht jetzt fest: das Berliner Schloss wird gebaut, schreibt Andreas Kilb. In ihrer Kolumne "Aus dem Maschinenraum" erinnert Constanze Kurz die Apple-Liebhaber unter den deutschen Politikern daran, dass ihre Daten demnächst in der Icloud liegen werden. Gina Thomas findet es total unfair, wie schlecht Prinz Philip angesehen ist, Gott sei Dank ändere sich das gerade und sie ruft zum Neunzigsten: "Hoch soll er leben."

Besprochen werden Wagners "Götterdämmerung" an der Pariser Bastille Oper, ein Dokumentarfilm über Frauenfußball in Nordkorea "Hana, Dul, Sed" und Bücher, darunter Anne Tylers Roman "Verlorene Stunden" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).