Heute in den Feuilletons

Kein Riesenrad in der City West

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.06.2011. In der NZZ fragt Slavenka Drakulic nach der Verantwortung der serbischen Wähler, die Miloesvic, Karadzic und Mladic erst möglich machten. In der Berliner Zeitung zieht Monika Maron Parallelen zwischen den Reaktionen westlicher Intellektueller auf Kommunismus und Islam. Die SZ liest recht abgetörnt das Parteiprogramm der Grünen für Berlin. Die FAZ beleuchtet die Rolle einiger Publizistinnen im Fall Kachelmann. Zwei von ihnen kommentieren das Urteil, Sabine Rückert in der Zeit und Alice Schwarzer in Bild. Im lawblog fragt Udo Vetter das LG Mannheim: Brauchte man für dieses Urteil wirklich 44 Prozesstage?

TAZ, 01.06.2011

Im Interview mit Stefan Reinecke spricht der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze über die arabischen Rebellionen: und die große Rolle der Frauen dabei: "Der Schlüssel ist die Berufstätigkeit der Frauen. Laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) sind etwa 40 Prozent der Frauen in den arabischen Gesellschaften erwerbstätig. In den siebziger Jahren waren es unter sechs Prozent. Das ist eine massive Veränderung. Viel höher ist das Erwerbsniveau in den westlichen Industriestaaten auch nicht... Wer arbeitet, hat andere Lebenspläne. Heirat und Kinderkriegen reichen nicht. Mit der Erwerbsarbeit wird eine soziale Identität jenseits der klassischen Familienrolle möglich. Das ist der Hintergrund, warum sich so viele Frauen in diesen Ländern an den Aufständen beteiligen, die ja soziale Revolten sind."

Weiteres: Johannes Gernert trifft die Kreuzberger Rapper von K.I.Z., deren Album "Urlaub fürs Gehirn" gerade erscheint. Thomas Groh hat sich Duncan Jones' Film "Source Code" angesehen.

Und noch Tom.

FR, 01.06.2011

Harry Nutt erzählt in Times mager von der zehnjährigen Maria Aragon, die Lady Gagas "Born this way" auf einem E-Piano nachspielte und damit 34 Millionen Menschen auf Youtube erreichte. Die Übersetzerin und Islamwissenschaftlerin Fatma Sagir erzählt wie es war, in Deutschland aufzuwachsen und stellt fest: "Jeder Mensch ist anders und widersprüchlich. Der Migrant verkörpert das lediglich viel deutlicher." Judith von Sternburg berichtet über die Verleihung des Preises der Literaturhäuser 2011 an Elke Erb.

Besprochen werden die Actionkomödie "Hangover 2" von Todd Phillips, das Gruseldrama "Wir sind was wir sind" von Jorge Michel Graus, eine Ausstellung über die Via Regia in Görlitz und Alice Munros Erzählband "Zu viel Glück" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Freitag, 01.06.2011

Das deutsche Theater hat sich selbst die Emotionen ausgetrieben, meint Ekkehart Krippendorf in einem kleinen Essay: "Man frage sich selbst und seine theatergehenden Freunde, wann sie zum letzten mal seelisch aufgewühlt, emotional betroffen, erregt oder aufgeregt, gar erschüttert aus dem Theater gekommen seien, Tränen nicht ausgeschlossen."

Weitere Medien, 01.06.2011

Alice Schwarzer, berichterstattende Akteurin im Fall Kachelmann, kommentiert in Bild den Freispruch unter dem Titel "Das Urteil hinterlässt einen bitteren Beigeschmack": "Das über ein Jahr lang von allen Seiten traktierte Gericht ist offensichtlich an die Grenzen der Wahrheitsfindung gestoßen. Was alarmierend ist. Darum war es in diesem spektakulären Fall so wichtig, auch das (mutmaßliche) Opfer ernst zu nehmen. Denn gerade bei Sexualverbrechen sind die Opfer meist die einzigen Zeugen."

NZZ, 01.06.2011

Auch nach der Verhaftung des bosnischen Serbengenerals Radko Mladic sieht die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic die Frage nach der politischen Verantwortung nicht endgültig geklärt: "Während des ersten Verhörs in Belgrad sagte Mladic, dem Richter zugewandt und allen, die anwesend waren: 'Was gebt ihr mir die Schuld, ihr wart es doch, die Milosevic gewählt haben.' Gewiss war dies auch eine Ausflucht, um die eigene Schuld zu verneinen und auf einen zu zeigen, der die Befehle erteilt habe... Dennoch traf Mladic einen Punkt. Wenn er verurteilt werden wird (obwohl er die Autorität des ICTY bestreitet) - was ist dann mit jenen, die wiederholt für Milosevic und für Karadzic gestimmt haben, wohlwissend um deren Politik des Nationalismus, von Hass und Krieg? Wie steht es um die Verantwortung der Wähler, die Mladics Kriegsverbrechen erst möglich gemacht haben?"

Weiteres: Karin Leydecker besichtigt das von Max Dudler umgebaute Hambacher Schloss in Neustadt an der Weinstraße. Besprochen werden die Schau "Art on Lake" auf einem künstlichen See in Budapest, Marianna Butenschöns Biografie der rusischen Kaiserin Alexandra "Die Preußin auf dem Zarenthron".

Online gemeldet wird, dass der Schriftsteller und Psychoanalytiker Hans Keilson mit seinen 101 Jahren gestorben ist.

Berliner Zeitung, 01.06.2011

Im Interview spricht Monika Maron, die am Freitag siebzig wird, über das Altern, die Ostalgie nach der Wiedervereinigung und ein Grunderlebnis nach ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik 1988: "Dass ich in den letzten Jahren anfing, mich mit dem Islam zu beschäftigen, hatte zunächst mit meiner Erfahrung zu tun, die ich mit bestimmten linken Kreisen gemacht habe, als ich in den Westen kam. Denen galt die DDR ja immer noch als die bessere Alternative, und ich eben als Verräterin an einer Utopie, von der sie sich nicht verabschieden wollten. Ich wurde sozusagen von meinem eigenen Konflikt enteignet. Ich sehe da Parallelen zum Umgang mit den säkularen Muslimen, die das ideologische System Islam kritisieren und vor der Politik der islamischen Verbände und Organisationen warnen."

Aus den Blogs, 01.06.2011

Im Lawblog kritisiert Udo Vetter das Landgericht Mannheim, das im Kachelmann-Prozess 44 Prozesstage lang "jedes Sandkorn lieber drei Mal" umdrehte, "als sich die Chance auf eine Verurteilung Kachelmanns entgehen zu lassen. Selbst die von der Verteidigung aufgebotenen Gutachter waren nicht so zahlreich, um so einen Prozessmarathon zu rechtfertigen. Das Gericht dürfte sich lange vor der Erkenntnis gedrückt haben, welche der Strafsenat am Oberlandesgericht schon in seiner Freilassungsentscheidung [aus der U-Haft] für Kachelmann recht deutlich formulierte - dass die Beweise und Indizien am Ende nicht reichen werden."

Welt, 01.06.2011

Recht ergriffen bespricht Hans-Joachim Müller den Schlingensief-Pavillon in Venedig, in dem Relikte der Aktion "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" aus dem Jahr 2008 zu einer Art Weihestätte arrrangiert wurden: "Nur dass jetzt niemand da ist, der die heilig unheilige Handlung zelebrieren könnte. Auf dem Plastikthron sitzt keine kleinwüchsige Bischöfin mehr, das Krankenbett ist abgezogen, der Lungenflügel aus gebackenem Teig, den der lungenkranke Schlingensief wie eine Monstranz vorgezeigt hatte, liegt in der Vitrine, und wenn es still ist, hört man das Metronom auf dem Altartisch seinen Rhythmus klacken: Verspricht er Trost oder Gnadenlosigkeit?"

Weitere Artikel: Matthias Heine schreibt eine Glosse über den Umstand, dass immer mehr deutsche Theater von Regisseuren aus dem flämisch-holländischen Kulturkreis geleitet werden. Alan Posener gratuliert dem Stones-Drummer Charlie Watts zum Siebzigsten. Thomas Schmid legt einen Essay zu 150 Jahren geeintem Italien vor, die morgen offiziell begangen werden. Harald Peters spricht mit dem Popsänger (und Veganer) Moby, der ein neues Album vorlegt.

Besprochen werden das Bachstück "Preludes & Fugues" des israelischen Choreogafen Emanuel Gat in Genf, eine "Kottan"-Reanimation (mehr hier) und Hans Steinbichlers Film "Das Blaue vom Himmel" (mehr hier).

FAZ, 01.06.2011

Auf der Medienseite wirft Michael Hanfeld den Journalistinnen - "Dass es ausnahmslos Frauen sind, die den Medienprozess über Jörg Kachelmann geführt haben, ist wiederum ein Kapitel für sich" - Gisela Friedrichsen (Spiegel), Sabine Rückert (Zeit) und Alice Schwarzer (Bild) distanzlose und einseitige Berichterstattung vor: "Parteiischer und einseitiger, als die Berichterstattung der Genannten ausgefallen ist, kann man sich die Arbeit von Vertreterinnen der 'vierten Gewalt' jedenfalls nicht vorstellen. So wie sich vor Gericht Staatsanwaltschaft und Verteidigung gegenüberstehen, haben sich die Reporterinnen aufgestellt: Anklage, Verteidigung und kein Richter dazwischen, als Korrektiv aber sehr wohl die Kollegen anderer Blätter, die sich an das gehalten haben, was im Gerichtssaal zur Sprache kam."

Im Feuilleton kommentiert Christian Geyer den Kachelmann-Prozess. Joseph Croitoru berichtet, dass man in Israel auf türkische Armenien-Empfindlichkeiten keine Rücksicht mehr nehmen will und über den Genozid erstmals ganz offen im Parlament debattieren will. Eine Lehre aus dem aktuellen Europa-Desaster lautet für Frank Lübberding: "Mit Technokraten kann man weder einen Staat noch ein gemeinsames Europa bauen." Vom großen und seiner Ansicht nach sehr gelungen Mahler-Festival am Gewandhaus in Leipzig berichtet Christian Wildhagen. Kerstin Holm hat Joschka Fischer bei einem Vortrag in Moskau erlebt. In der Glosse erkennt Dirk Schümer im Sieg "glaubwürdiger", eher parteiferner Politik bei den jüngsten Kommunalwahlen eine Chance auf die Überwindung des Berlusconismus

Besprochen werden ein Kölner Konzert der Austro-Berliner Band Ja, Panik, eine Ausstellung der Jesusdarstellungen Rembrandts im Louvre, die Ausstellung "Was vom Lande übrig blieb" im Volkskunde Museum Schleswig, Duncan Jones' Film "Source Code" und Bücher, darunter Hannelore Elsners Erinnerungen "Im Überschwang" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 01.06.2011

Recht abgetörnt ist Jens Bisky nach Lektüre des Programms der Berliner Grünen, deren Spitzenpolitikerin Renate Künast für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin kandidiert. Bei der Kultur bekennt man sich zur freien Szene und sagt darüberhinaus nur, was man nicht will: "kein Neubau für die größte öffentliche Bibliothek Deutschlands, kein Neubau für eine Kunsthalle, keine Bebauung auf dem freien Gelände des einstigen Flughafen Tempelhofs, keine Hochhäuser am Alexanderplatz, kein Riesenrad in der City West"

Recht ungnädig ist Kia Vahlands erste Reaktion auf den deutschen Biennale-Pavillon in Venedig: "Christoph Schlingensief kann sich gegen rotgefasste Kerzen nicht mehr wehren, er starb am 21.August 2010. Am kommenden Samstag eröffnet seine postume, nicht mehr selbst konzipierte Schau im Deutschen Pavillon der Venedig-Biennale. In ihrem gut gemeinten Pathos karikiert diese Ehrung unfreiwillig sein Lebenswerk und macht aus dem Naziumbau von 1938 eine Weihestätte."

Weitere Artikel: Die Digitalisierung ermöglichte kleine, schnelle Filme und gab dem jungen ägyptischen Kino Kraft, zu einer Atmosphäre beizutragen, die die Revolution ermöglichte, schreibt Amin Farzanefar in einem interessanten Hintergrundstück. Andrian Kreye gratuliert dem Schauspieler Stacy Keach zum Siebzigsten. Willi Winkler gratuliert dem Rolling Stones-Drummer Charlie Watts zum Siebzigsten. Felix Stephan bringt eine längeren Hintergrundbericht über die Lage der deutschen Minderheit in Dänemark. Gemeldet wird, dass ein Animationsfilm, der junge Muslime in Großbritannien vor islamistischen Verführern warnt, vom britischen Außenministerium zurückgezogen wurde - einige Imame hatten ihn als grob und naiv kritisiert (auch der Trailer ist gesperrt, mehr hier).

Besprochen werden der "Rigoletto" unter dem jungen Dirigenten Omer Meir Wellber und Luc Bondy in Wien, das neue Album der Arctic Monkeys (Musik und Videos), Todd Phillips' Filmkomödie "Hangover 2" (mehr hier), Alexander Riedels Film "Morgen das Leben" (mehr hier) und Ereignisse des Prosanova-Festivals in Hildesheim.

Zeit, 01.06.2011

Sabine Rückert, deren Rolle beim Kachelmann-Prozess Michael Hanfeld heute in der FAZ kritisiert, zieht aus dem Prozess, der gestern mit einem Freispruch zweiter Klasse endete, folgende Lehre: "Der Kachelmann-Prozess zeigt, dass der Beschuldigte und seine Rechte ganz aus dem Blick geraten können, wenn die Hinwendung zum mutmaßlichen Opfer übermäßig wird. Und dass die Existenz eines Mannes, den ein Vergewaltigungsvorwurf trifft, allein schon durch die noch nicht bewiesene Bezichtigung vernichtet ist." (Unseres Wissens haben zuerst der Kölner Stadtanzeiger, hier, und das Blog Meedia, hier, über Rückerts problematische Rolle in dem Prozess berichtet.)

Im Print: Zwei Seiten räumt das Feuilleton für ein Gespräch zwischen Stephane Hessel und Richard David Precht frei. Im Prinzip sind sich die beiden Bestseller-Revolutionäre einig: "So geht es nicht weiter." Differenzen gibt es noch bei der Weltregulierung, dem "Stalinismus der Banken", der Liebe und dem neuen Menschen. Christine Lemke-Matwey beschreibt, wie der Opernbetrieb seine Sopranistinnen verschleißt, was sich besonders gravierend im Wagner-Fach auswirkt: Gute Brünnhilden sind schwer zu finden. Als Hellersdorfer Gossenpoeten stellt Thomas Groß die Band Haudegen vor. Besprochen werden das Charles Fergusons Dokumentation über die Finanzkrise auf DVD "Inside Job", das Album "Kimbabwe" der isländischen Teenager-Band Retro Stefson, Aufnahmen von Sergiu Celibidache und Bücher, darunter Albert Ostermaiers Roman "Schwarze Sonne scheine" und Fredrik Sjöbergs Feldbiologie "Rosinenkönig" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In den "italienischen Lektionen" beschreibt Autor Roberto Saviano, wie Camorra und 'Ndrangheta die Parteien für ihre Interessen und Geschäfte nutzen.