Heute in den Feuilletons

Der Meese-Hitler scheint okay zu sein

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.05.2011. Im Freitag staunt Dietrich Kuhlbrodt: Warum darf Lars von Trier nicht, was Jonathan Meese darf? In der taz informiert Slavoj Zizek: Die Revolutionäre in Arabien wollen Kapitalismus plus. Die SZ wird beim Abschied Christian Thielemanns aus München melancholisch, aber dieser nicht. Die FAZ rät nach DSK: Mit Frauenquote wär' das nicht passiert. Und gelobt sei Santo Giovanni di Lorenzo: Die Zeit bringt Dutzende Seiten zu religiösen Fragen. Aufmacher: Woran glauben die Sachsen?

Freitag, 26.05.2011

Dietrich Kuhlbrodt hat wie wir alle das Video der Pressekonferenz gesehengesehen, in der Lars von Trier "Ich verstehe Hitler" gesagt hat. Er hat aber auch eine Performance von Jonathan Meese in Krems gesehen, wo der Künstler dasselbe sagte und mit Hitlergruß paradierte: "Wir bräuchten, hörte ich weiter, für die Kunst das vierte, fünfte und sechste Reich, um die, die Künstler werden möchten, von den Fesseln des Ausbildungs- und Kunstbetriebes zu befreien. Im weitesten Sinn sei es die Demokratie, die die Freiheit der Kunst behindere. - Die Zuschauer wohnten gebannt dem Performance-Event bei. Das durch keinerlei Einwurf gestört wurde. Darf Meese das? Der Meese-Hitler scheint okay zu sein. Der wollte doch nur spielen! Kunst! Nächstes Meese-Event am 17. Juni im Burg-Theater, Wien, auf dem Moby-Dick-Abend."

Weitere Artikel: Natascha Gillenberig beobachtet das Theater­kollektiv Rimini Protokoll, das mit Zeitzeugen-Interviews die Geschichte der Stasi aufarbeitet. Michael Angele kollabiert unter der Last der Herbstvorschauen der Verlage, die wie ein Ziegelsteinhagel in die Redaktionen einbrechen.

FR, 26.05.2011

Harry Nutt meditiert über den erweiterten Bildungsbegriff, den das Goethe-Institut im einundsechzigsten Jahr seiner Existenz nach Etablierung des erweiterten Kulturbegriffs in die ganze Welt exportieren möchte. Christian Schlüter informiert, dass nunmehr eine von Hans-Jürgen Heinrichs verfasste Biografie über den Schwergewichtsmeister der deutschen Philosphie, Peter Sloterdijk vorliegt, über die er doch sehr spotten muss: "Heinrichs steht vor dem von ihm selbst geschaffenen Philosophendenkmal stramm - und lässt nicht mehr locker." Claus-Jürgen Göpfert wurde von der FR-Redaktion noch vor dem Vulkanausbruch nach Island expediert, wo er die aktuelle Kunst begutachtete, bevor sie im Rahmen des Gastlandauftritts bei der Buchmesse in Frankfurt ausgestellt wird.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Unter Kontrolle" über die Atomindustrie in Deutschland und der Thriller "Wer ist Hanna?"

TAZ, 26.05.2011

Lukas Ondreka unterhält sich mit dem dem Philosophen Slavoj Zizek über die Revolutionen in Nordafrika und dem Nahen Osten. In revolutionärer Hochstimmung ist Zizek aber nicht: "Die Idee, dass diese Staaten alle unserem fröhlich liberalen globalen Dorf beitreten, ist utopisch. Es ist völlig falsch, zu denken, die Revolutionäre wollen den gleichen liberalen Kapitalismus wie der Westen. Sie wollen mehr. Dieses 'Mehr? schwingt untergründig in den Forderungen nach Gerechtigkeit und Solidarität mit. Ob es sich am Ende einstellen wird, das ist noch offen. Ich bin skeptisch."

Weiteres: Dirk Knipphals berichtet von einem Pressefrühstück mit Klaus-Dieter Lehmann. Rolf Lautenschläger besuchte eine Veranstaltung in Berlin, auf der Stephane Hessel über seinen Vater Franz Hessel und das Buch "Spazieren in Berlin" sprechen sollte, stattdessen aber aber lieber Gedichte von Hofmannsthal vortrug.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "Unter Kontrolle" von Volker Sattel, der die Atomenergie als Technik der Vergangenheit und die DVD von Wolfgang Reinkes Dokumentarfilm "Nicht böse sein!" über eine Kreuzberger Alkoholiker- und Drogen-WG.

Und Tom.

Aus den Blogs, 26.05.2011

(via Open Culture) Ist es Laurence Olivier als Richard III.? Nein, es ist Peter Sellers, auch ein feiner König, der "A Hard Day's Night" wie Olivier spricht.


Stichwörter: Richard III.

Welt, 26.05.2011

Die Schriftstellerin Tanja Dückers begab sich auf Einladung der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ) , die sich um ehemalige Zwangsarbeiter kümmert, in die Ukraine und fand das Land und seine Erinnerungskulturen zerrissener denn je: "Für die einen war Hitler der schlimmste Diktator, für die anderen Stalin. Holodomor, die durch Stalin verursachte große Hungersnot in den dreißiger Jahren mit Millionen von Toten, die Besatzung durch die Wehrmacht, die Zeit des Kalten Kriegs oder die Wirren nach der Wende: Jeder hat seine eigene Schreckenszeit."

Weitere Artikel: Für den Aufmacher besucht Hans-Joachim Müller die große Doppelausstellung mit Werken Brancusis und Richard Serras in der Fondation Beyeler. Harald Peters stellt die in Großbritannien bereits sehr angesagte Rockband Mona (Musik und Videos) vor. Hannes Stein schreibt eine Art Nachruf auf die amerikanische Buchhandelsketter Barnes & Noble, die einen Käufer sucht. Und Manuel Brug spekuliert über die Nachfolge der Londoner Royall Ballet-Chefin Monica Mason: Wayne McGregor oder Christopher Wheeldon?

Besprochen werden Filme, darunter Volker Sattels Dokumentation "Unter Kontrolle" übr die Atomindustrie und der Film "Auf brennender Erde" des "Babel"-Autors Guillermo Arriaga mit Kim Basinger und Charlize Theron.

NZZ, 26.05.2011

Philipp Meier besichtigt im Kunstmuseum Luzern die Ausstellung "Shanshui" zur Landschaft in der chinesischen Gegenwartskunst, in der auch diese berückende Arbeit Liu Weis zu sehen. Marta Kijowska erinnert an Juna Szelinska, der als Verlobten des polnischen Autors Bruno Schulz nicht viel Glück beschieden war.

Besprochen werden Terrence Malicks in der Schweiz bereits anlaufender Film "The Tree of Life", Pablo Traperos Thriller "Carancho", Silvia Avallones Debüt "Ein Sommer aus Stahl" und David Mitchells Roman "number9dream" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 26.05.2011

BibliOdyssey zeigt einige wunderbare - und auch ziemlich finstere - Illustrationen von Arthur Rackham zu J. M. Barries "Peter Pan": "Following the highly successful debut of the 1904 play, Barrie's publishers, Hodder and Stoughton, extracted chapters 13-18 of 'The Little White Bird' and republished them in 1906 under the title 'Peter Pan in Kensington Gardens', with the addition of illustrations by Arthur Rackham."

In The Awl nutzt James Dempsey die Tatsache, dass er letztes Jahr ein verlorenes Gedicht von E.E. Cummings gefunden hat, um uns seitenlang von der Freundschaft zwischen Cummings und Scofield Thayer zu erzählen. Dann, fast am Ende, kommt endlich das Gedicht:

"(tonite
in nigger
street

the snow is perfectly falling,

the noiselessly snow is
sexually fingering the utterly asleep

houses)..."

Hier das ganze Gedicht.

Im New York Magazine beschreibt der Sitcomstar Roseanne Barr den schwachsinnigen Sexismus im Showbiz und die Auswirkungen des Ruhms. "'Winning' in Hollywood means not just power, money, and complimentary smoked-salmon pizza, but also that everyone around you fails just as you are peaking. When you become No. 1, you might begin to believe, as Cher once said in an interview, that you are 'one of God?s favorite children,' one of the few who made it through the gauntlet and survived. The idea that your ego is not ego at all but submission to the will of the Lord starts to dawn on you as you recognize that only by God?s grace did you make it through the raging attack of idea pirates and woman haters, to ascend to the top of Bigshit Showbiz Mountain."

In der Jüdischen Allgemeine meldet Michael Wuliger, dass die schottische Gemeidne West Dunbartonshire nicht mehr nur durch seine hohe Arbeitlsoigkeit von sich reden machen will. "Die Verwaltung aus schottischen Nationalisten und Labour-Partei hat gerade beschlossen, israelische Bücher aus den örtlichen Bibliotheken zu entfernen."

FAZ, 26.05.2011

Julia Voss denkt die Fälle Strauss-Kahn und Hamburger-Mannheimer mit einem anderen Tagesthema bündig zusammen: "In beiden Fällen aber hätte ein Mittel, das bereits lange in der Diskussion ist, verhindern können, dass sich diese Milieus eine Moral zurechtlegen, die nur Machthierarchien abbildet: die Frauenquote."

Mit Jennifer Warzecha spricht der ägyptische Politologe Hamed Abdel-Amad über die Schwierigkeiten der Integration, verzerrte Wahrnehmung bei Medien und ihren Rezipienten. Auf reine Medienschelte freilich lässt er sich nicht ein: "Die Menschen wollen Fast-Food-Medien, die ihnen die Welt innerhalb von drei Minuten erklären. Dann wird den Medien vorgeworfen, sie möchten keine Muslime, sie wollten nicht wahrheits- und ordnungsgemäß berichten. Die Medien sind aber nicht an der fehlenden Neugier des Publikums schuld."

Weitere Artikel: Christina Hucklenbroich erklärt, dass vom Tier auf den Menschen übertragene Krankheiten - sogenannten "Zoonosen" - gar nicht so selten sind, wie es die plötzliche Ehec-Aufregung suggeriert. Gerhard Rohde porträtiert den zeitgenössischen Komponisten Salvatore Sciarrino, der es als einer der wenigen seiner Zunft ins Repertoire der Opernhäuser geschafft hat. Martin Otto war dabei, als an einem Abend in Berlin gleich fünf politische Bundesstiftungen von Friedrich Ebert bis Willy Brandt sich vorstellten. Als brutale Prosa-Form der "kommender Aufstand"-Poesie sieht Lorenz Jäger die Sabotage des S-Bahn-Verkehrs in Berlin. Mit Wohlgefallen betrachtet Oliver G. Hamm das neue Haus Schmuck im Frankfurter Westend. Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod des Schauspielers Fritz Schediwy. Auf der Kinoseite blickt Rüdiger Suchsland zurück auf Filme aus Ostasien in Cannes. Andreas Kilb weist auf eine dem Schauspieler Wolfgang Kieling gewidmete Filmreihe im Zeughauskino Berlin.

Besprochen werden eine "Nashörner"- und eine "Endspiel"-Inszenierung in Paris, die Ausstellung "Zuflucht und Sehnsucht" in der Schatzkammer der Zürcher Zentralbibliothek im Predigerchor, das Wave-Pictures-Album "Beer in the Breakers", die neue The-Kills-CD "Blood Pressures", Volker Sattels Atomkraftdoku "Unter Kontrolle" und Bücher, darunter Paulus Böhmers Gedicht-Triptychon "Am Meer. An Land. Bei mir" und Maximilian Hotters Überlegungen zum Wandel der "Privatsphäre" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 26.05.2011

"Lasst mich in Ruhe!", ruft Ursula März genervt von der Dauerdiskussion um die Rolle der Frau. Eine echte Emanzipationsleistung fände sie es mal, diese Tretmühle zu stoppen: "Ein emanzipiertes Subjekt hat keinen Gefallen daran, ohne Unterlass gemustert, beratschlagt, beurteilt, kurzum: gegängelt und bevormundet zu werden. Weder vom anderen, in meinem Fall dem männlichen Geschlecht. Noch von einem Dauersermon, dem allein schon durch seine Notorik etwas Erstarrtes, verselbständigtes, besser gesagt, etwas ausgesprochen Normatives anhaftet."

Weitere Artikel: Pünktlich zum Kinostart seines Film "Auf brennender Erde" spricht der Autor und Regisseur Guillermo Arriaga im Interview mit Merten Worthmann über den Drogenkrieg in Mexiko, in dem er auch einen Hauch Klassenkampf verspürt. Pascale Hugues fragt sich und ihre französischen Kolleginnen, warum sie eigentlich zu sexuellen Übergriffen mächtiger Männer geschwiegen haben. Peter Kümmel freut sich über das späte Glück des Schauspielers und Regisseurs Herbert Frisch. Katja Nicodemus bilanziert das Festival von Cannes ganz zufrieden, bedauert aber, dass Jafar Panahis "Das ist kein Film" so wenig Aufmerksam bekam. Petra Reski schildert, wie sich Vittorio Sgarbi, diese "Treibmine der italienischen Kultur", als Bürgermeister von Salemi von der Mafia einspannen ließ, als er ihr ein Museum errichtete. Matthias Nass fragt in einem geopolitischen Denkstück: "Liegt im autoritären System die Zukunft?"

Besprochen werden die Neo-Rauch-Ausstellung in Baden-Baden, und Bücher, darunter Philipp Meusers "Architekturführer Pjöngjang" sowie die Brautbriefe von Sigmund Freud und Martha Bernays (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Zum bevorstehenden Kirchentag läuft die Zeit zudem zu Höchstform auf: mit sechs Seiten Christ und Welt, drei Seiten Glauben und Zweifel sowie einem zweiseitigen Sonderreport "Woran glauben die Sachsen?".

SZ, 26.05.2011

Die ganze Feuilleton-Aufmacherseite steht im Zeichen des Abschieds - und zwar von Christian Thielemann, der die Münchner Philharmoniker nun verlässt. Reinhard J. Brembeck preist das Verhältnis zwischen Orchester und Chef als inzwischen "so entspannt wie nie zuvor". Joachim Kaiser würdigt bündig den "souveränen Geschmack" des Dirigenten. Und Thielemann selbst erklärt im Interview halbwegs versöhnt: "Das Schöne an der ganzen Sache ist doch, dass, normalerweise, wenn sich zwei Parteien trennen, eine der beiden traurig und zerstört zurückbleibt - hier freut sich das Orchester auf seine Zukunft und ich auf meine."

Weitere Artikel: Jens Bisky blickt voraus auf die Vorstellung der Pläne fürs Humboldt-Forum und fasst bei der Gelegenheit auch gleich den aktuellen Stand der Stadtschloss-Dinge zusammen. Fritz Göttler verweist auf eine Klaus-Wyborny-Reihe im Münchner Filmmuseum. Jens Malte Fischer gratuliert der Opernsängerin Inge Borkh, Tim B. Müller dem Historiker Walter Laqueur zum Neunzigsten. Auf der Medienseite unterhält sich Marc Felix Serrao zum 25. Geburtstag der Jungen Freiheit mit deren scharfem Gegner Stephan Braun.

Besprochen werden eine Odilon-Redon-Ausstellung im Pariser Grand Palais, das neue Pharoahe-Monch-Album "W.A.R.", neu anlaufende Filme, darunter Oliver Alexander Jahreiss' Komödie "Die Relativitätstheorie der Liebe" und Joe Wrights Amazonen-Actioner "Wer ist Hanna?" (beistehend gibt es auch ein Interview mit dem Regisseur) und Bücher, darunter Paul Nizons "Goya"-Essay (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).