Heute in den Feuilletons

Diese Kultur, so wie wir sie jetzt haben

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2011. Ja, Bob Dylan wird heute siebzig. Es könnte sein, dass ein unsichtbarer Energiestrahl seinen Weg bahnte, meint die Welt. Neunetz fragt nach einer Recherche Stefan Niggemeiers: Wenn die Verleger außer Tickerverschnitten gar keine Inhalte online stellen, wofür wollen sie dann Leistungsschutzrechte? In den Wilden Lesern freut sich Bolano-Übersetzer Heinrich von Berenberg über den Hype um "2666". Die FR kritisiert sehr scharf Tilman Jens' Verteidigung der Odenwaldschule. In der FAZ feiert John Banville den Irland-Besuch der Queen.

Aus den Blogs, 24.05.2011

Es gibt in Deutschland ein Blog, das sich ausschließlich mit Roberto Bolano befasst, die Wilden Leser, die gerade Heinrich von Berenberg interviewt haben, den Übersetzer und Entdecker Bolanos für Deutschland (und nebenbei Gründer des Berenberg Verlags), der über "2666" sagt: "Ich sehe den Hype überwiegend positiv. Anscheinend ist er ja nicht zustande gekommen, weil jeder das Buch haben will und es dann doch keiner liest, wie meist bei Bestsellern, sondern die meisten haben dieses Buch mit angehaltenem Atem gelesen. Es ist natürlich immer die übliche Besserwisserei der vielen Spezialisten dabei, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Aber da kann man nichts machen."

Stefan Niggemeier hat durch eine Recherche auf stern.de (die er genauso gut auf sueddeutsche.de hätte machen können) herausgefunden, dass dort praktisch nur Tickerverscnnitte geboten werden, während die Printinhalte vom Netz abgeschottet werden. Der Perlentaucher hatte darauf bereits im Dezember hingewiesen - das Thema ist brenzlig im Hinblick auf die lobbyistische Forderungen der Branche. Marcel Weiß kommentiert in neunetz: "Es existiert praktisch kein von Presseverlagen betriebener Onlinejournalismus, zumindest nicht in den Ausmaßen, wie man es in den USA kennt. (Die taz ist komplett online frei abrufbar.) Ist das gut so? Immerhin kann so die viel gefürchtete Kannibalisierung nicht stattfinden. Die Verlage fordern trotzdem ein Leistungsschutzrecht. Fragt sich nur wofür."

Dove wäscht so weiß, weißer geht's nicht! Kann diese Werbung real sein?, fragt Gawker den hier werbenden Konzern. "Wenn ja, dann wäre dies die rassistischste Kosmetikwerbung... seit ungefähr zehn Monaten."


Welt, 24.05.2011

Ja, Bob Dylan wird heute siebzig. Frank Schmiechen attestiert ihm auf der Meinungsseite, dass es noch schwerer sei über ihn zu schreiben als über Gott (und beweist es auch gleich). Max Dax gratuliert im Feuilleton und wird ebenfalls ein bisschen religiös: "Ungeachtet Hunderter über ihn geschriebener Bücher, fällt es schwer zu sagen, ob der junge Künstler nur genial vermarktet wurde - oder ob ein unsichtbarer Energiestrahl seinen Weg bahnte."

Weitere Artikel: Ulf Poschardt beklagt im Aufmacher die Abgewandtheit der CDU von allem, was auch nur im entferntesten kulturell hip und angesagt ist. Jenny Hoch versucht in der Leitglosse, Christoph Schlingensief seinen Nachlassverwaltern zu entreißen. Hanns-Georg Rodek resümiert noch einmal das Festival von Cannes, während Marc Reichwein in seiner Kolumne "Sprechen Sie Feuilleton?" über das Genre der Cannes-Kolumne räsonniert. Alan Posener hat kurz vor dem Tod des Psychologen Wolfgang Bergmann noch ein letztes Interview mit ihm geführt, das von den Gefahren überambitionierter Erziehung handelt und düstere Visionen bringt: "Ich habe das Gefühl, diese Kultur, so wie wir sie jetzt haben, geht dem Ende zu." Ulrich Weinzierl berichtet von den Wiener Festwochen. Und Johnny Erling erzählt die Geschichte des chinesischen Malers Qi Baishi, der sowohl Tschiang Kai-schek als auch Mao huldigte und dessen Bilder heute in Auktionen Millionen von Dollar erzielen.

TAZ, 24.05.2011

Isolde Charim sinniert über DSK, über die ausufernden Libido "älterer Herren mit Macht" und die sexuelle Ausnahme von Popstars und kommt dabei auf folgenden Gedanken: "Der Popstar darf voll und ungeniert genießen. Einzig Zwang und Gewalt gehören da nicht dazu. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil wahres Genießen nur jenes ist, das dem Star zufällt. Vergewaltigung bedeutet das Ende des Popstar-Status, weil damit das Genießen nicht mehr glaubhaft verkörpert werden kann. Dann entzieht das Publikum die sexuelle Ausnahme und wendet sich ab. Das ist keine Frage der Sittlichkeit, sondern der Entzauberung."

Weiteres: Gar nicht entflammen konnte der Marx-Kongress in Berlin Tania Martini: "Die Professoren verlasen ihre Vorträge, einer nach dem anderen, die vielen Lauschenden, die meisten Studenten, kannten das bereits aus ihren Proseminaren, alle schwitzten." Uwe Mattheiss berichtet von den Wiener Festwochen. Elisabeth Wellershaus sieht den arabischen Frühling auch im ägyptischen Tanz ausbrechen. Cristina Nord liefert das Resümee zu Cannes.

Und noch Tom.

FR, 24.05.2011

Der Missbrauchsskandal um die Odenwaldschule war von der FR 1999 aufgedeckt worden, aber damals waren die charismatischen Gründerfiguren in Medien und Politik noch zu mächtig, erst letztes Jahr wurde der Skandal wirklich thematisiert. Nun hat der ehemalige Odenwald-Schüler und heutige Schulbeirat Tilman Jens eine Verteidigungsschrift veröffentlicht, mit der Jörg Schindler sehr scharf ins Gericht geht: Jens setzte "auf ein so schlichtes wie wirkungsvolles, vor allem in der Politik beliebtes, Instrument: Er räumt nur ein, was sich beim besten Willen nicht mehr ausräumen lässt". Und: "Er verhält sich wie der Verteidiger, dem es um Freispruch, nicht um Schuld oder gar Gerechtigkeit geht." Heute abend läuft auf 3sat ein Dokumentarfilm über die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule, "Und wir sind nicht die Einzigen" von Christoph Röhl, um 22.25 Uhr.

Weitere Artikel: Nach Claudius Seidl (Facebook-Fanpage) bewirbt sich in der Leitglosse nun auch Christian Schlüter auf den Posten des ZDF-Intendanten. Sechs Mitarbeiter der FR teilen mit, was Bob Dylan ihnen bedeutet.

Besprochen werden Michael Thalheimers Inszenierung von Tolstois "Macht der Finsternis" an der Schaubühne und Salvatore Sciarrinos Oper "Macbeth" in Mannheim.

NZZ, 24.05.2011

Peter Hagmann hat Aufführungen von Salvatore Sciarrinos Opern in Frankfurt, Mannheim und Mainz miteinander vergleichen können und stellt fest: "Sciarrino zeichnet mit dem Silberstift, aber was er zeichnet, ist von höchster Brisanz, das muss bei der Verwirklichung berücksichtigt werden."

Weiteres: Florian Coulmas berichtet, wie Japan sich nach den großen Katastrophen auf eine neue Normalität einrichtet. Das Land muss rigide Strom sparen: "Die Rolltreppen werden für absehbare Zeit stillstehen, und die Beleuchtung wird etwas gedämpfter sein." Dirk Pilz resümiert das gestern zu Ende gegangene Theatertreffen, diese "große, bunte, aufgekratzte Theaterbetriebsselbstfeier".

Besprochen werden die Neuübersetzung von Ivo Andrics Klassiker "Die Brücke über die Drina" und Abbas Khiders Roman "Die Orangen des Präsidenten" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 24.05.2011

Für Cristobal Balenciaga begann in den 60er Jahren mit Minirock, pret-a-porter und Revolte die kulturelle Barbarei. Der britische Historiker Paul Johnson nickt zustimmend und stimmt bei This Recording ein Loblied auf Balenciagas Schneiderkunst (er war einer der ganz wenigen Couturiers, die nähen konnten) an. Es geht auch um die Haute Couture unter den Nazis und den Vergleich mit Christian Dior: "He certainly did not see Dior as a rival, and he had no fear that his own claims to excellence would be overlooked. Dior dressed the rich, Balenciaga the very rich. During the 1950s, a woman 'graduated' from Dior to Balenciaga."

Balenciaga 1958 bei Anproben (ohne Ton):



(via bookslut) Grantas neue Ausgabe ist dem Feminismus gewidmet. Arifa Akbar hat für den Independent einige Autorinnen gefragt, was es für sie bedeutet, Feministin und Autorin zu sein. Hat sich was geändert? Klar, meint Jeanette Winterson: "Fucking is the new frigid."

(via bookslut) Im Interview mit Words without Borders erklärt der in Kanada lebende serbische Autor David Albahari: "People keep telling me postmodernism is dead. I always tell them, 'But I am alive!' I really think of myself as a dead postmodern writer."

Alchemisten waren geheimnistuerisch und um ihre Autorität besorgt. Sie wurden abgelöst von Chemikern, die die Grundlagen ihrer Methoden offenlegten und damit zur Diskussion stellten. Und das, meint Maria Bustillos in The Awl, ist genau das, was Wikipedianer von herkömmlichen Enzyklopädisten unterscheidet: der "View History"-Button: "By empowering readers and observers with transparent access to the means by which conclusions are reached, rather than assembling them in an audience to hear the Authorities deliver the catechism from on high, we are all of us becoming scientists in this way, entering into a democracy of the intellect that is already bearing spectacular fruit, not just at Wikipedia but through any number of collaborative projects, from the Gutenberg Project to Tor to Linux."

FAZ, 24.05.2011

Als Anbruch einer neuen Epoche feiert der irische Autor John Banville den Staatsbesuch Königin Elizabeths in Irland: "Wer von meiner Generation hätte es für möglich gehalten, dass wir den Tag erleben, an dem die Königin von England im Garten der Erinnerung einen Kranz niederlegt, an dem Ort, der dem Gedenken an die Männer und Frauen gewidmet ist, die gegen das britische Empire gekämpft haben. Als sich die Queen beim Staatsbankett am Mittwochabend zu ihrer ganzen zierlichen Größe erhob und ihre Rede mit dem Wort 'a chairde' (irisch für 'Freunde') begann, musste noch dem hartnäckigsten Skeptiker klargeworden sein, dass der jahrhundertelange Konflikt zwischen unseren beiden Ländern beendet ist."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay untersucht das genuin utopische Moment an den spanischen Protesten. Lena Bopp begutachtet das neue Zentrum für digitale Kunst "Gaite lyrique" (Website) in Paris. Ingeborg Harms blickt in deutsche Zeitschriften und referiert unter anderem die Ergebnisse einer Umfrage der Neuen Rundschau zur Rolle der Literaturkritik. Vor einem sich verselbständigenden Prozess, der von der PID zur gezielten genetischen Selektion führt, warnt Stephan Sahm. Verena Lueken resümiert die Filmfestspiele in Cannes, die zu ihrem Bedauern vom Nazi-Skandal um Lars von Trier ein wenig überschattet wurden. Grad erst recht provinziell findet Christian Geyer die Großstadtkompetenzdefizitdiagnose von Volker Kauder. 

Besprochen werden Volker Löschs Anti-Stuttgart-21-Theater Aktion "Metropolis" am Staatstheater, eine Adolf-Wölfli-Ausstellung im Alten Rathaus Ingelheim, zwei Ausstellungen zu Stadträumen im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt, und Bücher, darunter Jim Nisbets finsterer Kriminalroman "Tödliche Injektion" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 24.05.2011

Rudolf Neumaier gratuliert dtv zum Fünfzigsten. Christopher Schmidt erinnert sich an sein erstes dtv-Buch, Walter Kempowskis "Tadellöser & Wolff". Niklas Hofmann berichtet über eine Studie des "Computer Supported Collaboration Lab", wonach E-Bücher den gedruckten noch unterlegen sind (mehr dazu in Nicholas Carrs Blog). Alexander Menden sieht sich die zwei neuen Museen von David Chipperfield in Wakefield und Margate an. Jens Bisky berichtet von einer überfüllten Konferenz zu "e-Thinking Marx - Philosophie, Kritik, Praxis" an der Berliner Humboldt Uni. Markus Berges schreibt zum Siebzigsten von Bob Dylan. Lothar Müller erklärt der Schwedischen Akademie kurz, warum Dylan den Nobelpreis für Literatur verdient hat. Christine Dössel resümiert wohlwollend das Berliner Theatertreffen.

Besprochen werden die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos Oper "Superflumina" in Mannheim, Randall Wallaces Disneyfilm "Secretariat - Ein Pferd wird zur Legende" und Bücher, darunter Klaus Harpprechts Band "Arletty und ihr deutscher Offizier" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und hier Arletty mit zwei ebenso bezaubernden Schauspielern in einer Szene aus Claude Autant-Laras "Fric Frac":