Heute in den Feuilletons

Diese plötzlichen Einlässe in die Welt der Dinge

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.04.2011. Nicht Romane sind die interessantesten Bücher der Saison, fndet die taz, sondern literarische Reportagen - zum Beispiel Wolfgang Büschers "Hartland". Die Berliner Zeitung lernt vom Primatenforscher Frans de Waal: Irgendwie gibt es das Gute im Menschen (und im Primaten!) doch. Die NZZ liest den Bericht einer polnisch-russischen Historikerkommission zur finsteren Beziehung der beiden Länder im 20. Jahrhundert. In der FAZ empfiehlt der amerikanische Autor Daniel Suarez gegen die Unbilden des digitalen Kapitalismus, Salatköpfe stets an Ort und Stelle zu verzehren.

TAZ, 30.04.2011

Die Literaturkritik sollte, findet Dirk Knipphals, mal ein wenig zur Seite blicken, dann würde sie abseits des Großromanbetriebs die sehr viel interessanteren Bücher der Saison wahrnehmen, von Gregor Hens' "Nikotin" bis zu Wolfgang Büschers jüngstem Fußwanderbericht "Hartland": "Ironie kann jeder. Die wirklich guten Erlebnisberichtsbücher sind diejenigen, in denen den Erzähler, ohne groß ein Ding daraus zu machen, etwas anderes antreibt: Erleuchtungssehnsucht. Wolfgang Büscher schreibt solche Bücher, die dann gern zwischen alle Stühle fallen - nicht Roman, aber auch nicht Sachbuch, und der Begriff der Großreportage trifft auch nicht wirklich. Es ist an der Zeit, sich dieses seltsame Genre überhaupt einmal genauer anzuschauen; manches spricht dafür, dass die interessantesten Neuerscheinungen des Jahres bislang aus diesem Bereich kamen."

Weitere Artikel: Katrin Bettina Müller porträtiert das Performer-Kollektiv She She Pop, das mit seinem Väter-Stück "Testament" zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen ist. Mit Blick auf das gestrige Großereignis betont Dominic Johnson, dass die Briten keineswegs eine Hochzeit oder gar ihr Königshaus feierten, sondern die "gelungene Inszenierung von Perfektion". Robert Iwanetz kommentiert die jüngste Entscheidung Supermans (Heft 900), seine US-Staatsbürgerschaft abzugeben und nunmehr in Diensten der Weltgesellschaft tätig zu werden. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne liest Wolfgang Gast ein Buch über "Doppelagenten". Dirk Knipphals schreibt einen kurzen Nachruf auf Teofila Reich-Ranicki.

Besprochen werden das Album "Wolfram" von Wolfram (Eckert) und Bücher, darunter Juan Gabriel Vasquez' neuer Roman "Die geheime Geschichte Costaguanas" und Mohamed al-Baradeis Autobiografie "Wächter der Apokalypse" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

Berliner Zeitung, 30.04.2011

Der Primatenforscher Frans de Waal erzählt im Interview mit Arno Widmann, warum so viele Primatenforscher Frauen sind, dass japanische Primatenforscher die ersten waren, die Tiere als Individuen behandelten, und dass Empathie angeboren ist: "Wir sind keine guten Wilden, und auch die von mir beobachteten Primaten sind es nicht. Aber wir haben diesen empathischen Impuls, und ich glaube auch, dass wir ihn zurückdrängen können. Ausrotten aber können wir ihn nicht. Männern gelingt das Zurückdrängen leichter als Frauen. ... Aber auch bei Männern ist das nicht leicht. Man gibt ihnen schöne Waffen und ausgezeichnete Gründe für den Mord an den Artgenossen und doch kommen ein Drittel bis zur Hälfte der Männer mit posttraumatischen Belastungsstörungen aus den Kriegen zurück. Es ist ihnen nicht gelungen, den empathischen Impuls abzustellen. Es gibt amerikanische Studien, die belegen, dass in den meisten Kriegen die meisten Soldaten nicht töten."

Außerdem: Dirk Pilz erinnert an den vor 300 Jahren geborenen Aufklärer David Hume: "Vor 250 Jahren hat der Vatikan sämtliche Schriften von David Hume auf den Index gesetzt; 111 Jahre galten sie als gefährlich und irreführend. Vor 250 Jahren war Hume 50 Jahre alt, ein so hoch angesehener wie gefürchteter Mann."

NZZ, 30.04.2011

Ulrich M.Schmid liest den lange erwarteten Bericht einer polnisch-russischen Historikerkommission zur finsteren Beziehung der beiden Länder im 20. Jahrhundert. Jeweils ein polnischer und ein russischer Historiker resümieren den Forschungsstand zu Themen wie dem russisch-polnischen Krieg 1918 bis 21 oder natürlich Katyn: "Dabei fällt zweierlei auf: Die polnischen Historiker schlagen immer wieder einen pathetischen Ton an und beklagen ihre Opfer, während in den russischen Beiträgen oft ein Schuldiger gesucht wird, der für die zahlreichen Verbrechen verantwortlich ist." Sehr kritisch liest Schmid übrigens die polnische Version des Kapitels über den hierzulande fast unbekannten polnischen Angriffskrieg des Jahrs 1918 gegen die Ukraine.

Weitere Artikel: Joachim Güntner resümiert die deutschen Diskussionen um das Desaster der Aufklärungsausstellung in Peking und die Verhaftung Ai Weiweis - und hofft auf "stille Diplomatie". Besprochen wird eine in diesem Umfang laut Philipp Meier bisher ungesehene Austellung mit indischer Malerei aus 800 Jahren im Zürcher Museum Rietberg.

In Literatur und Kunst erinnert Markus Bauer an den von Mihail Sebastian in seinem Journal unsterblich porträtierten und auch von Herta Müller bewunderten rumänischen Autor M. Blecher: "Durch Blechers erstes Prosawerk fand [die rumänische Stadt] Roman seinen Platz in der Weltliteratur. In dem zwischen Autor-Biografie und Romanwerk schwankenden Hybrid 'Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit' (1934) zählt der Stadtpark gegenüber dem Bahnhof zu jenen 'verfluchten' Orten, die bei dem jungen Protagonisten minuziös beschriebene Bewusstseinskrisen auslösen. Diese plötzlichen Einlässe in die Welt der Dinge ruft Blecher zwischen Surrealismus und Rilkescher Ding-Wahrnehmung in eindringlich neuer Prosa auf. 'Die Dinge waren von einem wahren Freiheitsrausch erfasst. Sie lösten sich voneinander ab, gewannen eine Unabhängigkeit, die nicht nur schlichte Vereinzelung bedeutete, sondern auch ekstatische Erregung. Die Begeisterung, von einer neuen Aura umgeben zu sein, ergriff auch mich: Starke Fäden verbanden mich mit den Dingen, eine unmerkliche Osmose ließ mich zu einem Gegenstand des Zimmers werden, genauso wie alle anderen.'"

Außerdem: Judith Kuckart betrachtet ein Gemälde des Grafen Balthasar Klossowski de Rola alias Balthus, "Le Passage du Commerce-Saint-Andre" (1952). Felix Philipp Ingold liest Publikationen zu Leo Tolstois 100. Todestag. Jürgen Tietz berichtet über einen zeitgemäß adaptierten Wiederaufbau von Walter Gropius' Direktorenhaus in Dessau.



FR, 30.04.2011

Zum hundertsten Geburtstag des Autorinnen-Phänomens Luise Rinser, die von der Nazi-Begeisterten zur von den Grünen nominierten Präsidentschaftskandidatin so manches - und davon dann jeweils auch das Gegenteil - war, ist eine Biografie erschienen. Anja Hirsch fasst ein auf männliche Führerfiguren exemplarisch fixiertes deutsches Leben so zusammen: "Luise Rinser, puritanisch-katholisch im Bayern zu Beginn des 20. Jahrhunderts erzogen, faszinieren früh Eros, Religion und Natur. Im Kloster Wessobrunn erlebt sie ein althochdeutsches Gebet als 'Urschauer'. Als junge Schülerin verehrt sie heftig charismatische Lehrer. Ein naiver Enthusiasmus lädt auch spätere Beziehungen auf - zu Ernst Jünger, dem sie Briefe an die Front schreibt, zu Hermann Hesse, dem katholischen Theologen Karl Rahner, zu Willy Brandt oder, im hohen Alter noch, zum Dalai Lama."

Weiteres: Abgedruckt ist Hisham Matars Erzählung "Bruderschaft mit Bob". Besprochen werden Kafka-Inszenierungen in Köln ("Hundsprozesse") und Bochum ("Amerika") sowie Bücher, darunter Jean Fortons Roman "Isabelle" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 30.04.2011

In der Leitglosse des Feuilletons verweist Mara Delius auf die traditionellen Mai-Unruhen in Berlin-Kreuzberg. Manuel Brug war mit dem Dirigenten Philippe Jordan essen. Sven Felix Kellerhoff annonciert eine ausführliche Geschichtsdoku zum 30. April 1945 heute auf Vox. Berthold Seewald freut sich über einen Fund antiker Stätten bei dem Dorf Kalapodi in Mittelgriechenland.

Besprochen wird eine Ausstellung mit Frühwerken von Andy Warhol in der Potsdamer Villa Schöningen.

Die Literarische Welt hat es heute nicht ins Epaper geschafft. Wir wollen unsere 1,59 Euro zurück!

SZ, 30.04.2011

Susan Vahabzadeh berichtet über den Streit um vorgezogene Video-on-Demand-Termine von Hollywood-Blockbustern, gegen die nun nicht nur die Kinobetreiber, sondern auch renommierte Regisseure von James Cameron bis Michael Mann protestieren. Zum 36. Jahrestag der Evakuierung Saigons hat sich Richard Fleming an der Grenze zwischen Nord- und Südvietnam umgesehen. In seiner Kairo-Kolumne trifft Khalid al-Khamissi einen Taxifahrer, der aus eigener traumatischer Erfahrung mit Zuversicht in die ägyptische Zukunft blickt. Thomas Steinfeld besucht das Museum für Kunst und Design "Vandalorum" (Website) im schwedischen Provinzstädtchen Värnamo. Reinhard J. Brembeck porträtiert die Barockgeigerin Midori Seiler. Lothar Müller schreibt zum Tod von Teofila Reich-Ranicki.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende fragt sich Gerhard Matzig unter der Überschrift "Die Jury", wer eigentlich für die als Einheitsdenkmal geplante "Hüpfburg" verantwortlich ist. Thomas Krumenacker unterhält sich mit dem einstigen Elitekämpfer in der israelischen Armee, dem späteren Politikberater und dem heutigen Naturschützer Mosche Betzer über den "Frieden".

Besprochen werden Aufführungen von Stücken der jungen Autoren Ewald Palmetshofer und Felizia Zeller an der Landesbühne Tübingen, die damit nun auch auf Tour geht, Christiane Pohles Hamburger Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern", das neue Beastie-Boys-Album "Hot Sauce Committee Part Two", Rodrigo Garcias Film "Mütter und Töchter" und Bücher, darunter Jose Sanchez de Murillos Biografie der "Luise Rinser" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 30.04.2011

Der amerikanische Autor Daniel Suarez ("Daemon", "Darknet") beschreibt im Interview mit Frank Rieger auf zwei Seiten sehr anschaulich, welche Gefahren durch die Digitalisierung drohen. Ein Grund ist die mangelnde Überschaubarkeit für den "normalen" Nutzer, der den herrischen Ansprüchen einer "Kaste von Hightech-Priestern" unterworfen ist. So klingen Suarez' Alternativvorschläge, zum Beispiel für die Energiewirtschaft: "Und schließlich, wenn unsere Gesellschaft neu strukturiert und in lokale Ökonomien aufgeteilt würde, so dass ein Salatkopf nicht im Durchschnitt 1500 Kilometer transportiert würde, bevor er auf den Markt kommt, wenn die Menschen wieder lokal zu leben und zu arbeiten begännen und untereinander durch vermaschte Netze verbunden wären, sänken auch die Energiekosten für den Transport und die Kostensteigerung pro Einheit sauberer Energie fiele um eine Größenordnung geringer aus." (Neu strukturiert von wem? Einem brillanten Informatiker mit dem Sendungsbewusstsein einer Claudia Roth?)

Weitere Artikel: Paul Ingendaay zitiert einen Publico-Artikel Mario Vargas-Llosas gegen Sprachverhunzungen des Spanischen per SMS und Twitter, der ihm geharnischte Proteste in den Online-Kommentarspalten einbrachte. Frank Schirrmacher schreibt den Nachruf auf Teofila Reich-Ranicki, die im Alter von 91 Jahren gestorben ist. Joseph Croitoru verweist auf eine Erklärung palästinensischer Intellektueller, die sich gegen Vereinnahmungsversuche des taumelnden syrischen Regimes verwahren. Jürgen Dollase beklagt in seiner Gastrokolumne eine mangelnde Offenheit von Spitzenköchen gegenüber dem breiten Publikum. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften zu Fragen der Bildung und des kulturellen Kapitals. Auf der Medienseite notiert Michael Hanfeld, dass das ZDF wegen allzu langsamer Simultanübersetzung das gestrige Ja-Wort Kates und Williams verpasste. Annonciert wird dort auch der neueste "Tatort" aus Münster. Für die letzte Seite erzählt Judith Lembke von der Tortur einer traditionellen Hochzeit in Nigeria.

Besprochen werden die John-Constable-Austellung in Stuttgart und CDs, darunter Lieder aus Slowenien, Lieder von Liszt, türkische Klaviermusik, ein Album von den Love Inks, ein weiteres von den Bright Eyes.

Für Bilder und Zeiten hat Dirk Schümer den chaotischen und doch boomenden und keineswegs hoffnungslosen Kosovo besucht. Klaus Harpprecht erzählt die Liebesgeschichte zwischen Arletty und einem Wehrmachtsoffizier, die der Karriere der Schauspielerin nach dem Krieg schweren Schaden zufügte (es handelt sich um einen Vorabdruck aus einem Buch Harpprechts zum Thema). Don Alfonso erzählt, wie er in den achtziger Jahren, als noch Zollgrenzen existierten, ein Rennrad über die italienische Grenze schmuggelte. Auf der letzten Seite unterhält sich Rose-Maria Gropp mit Cat Stevens alias Yusuf Islam (nein, keine Frage zu seinen Äußerungen über Rushdie).

Für die Frankfurter Anthologie liest Jan Süselbeck ein Gedicht von Peter Hacks - "Klosteridyll:

Es sprach ein Mönch zu seiner Nonne:
Komm her, du meine Herzenswonne,
Ich bin noch jung, du bist noch schön,
Laß uns geschwind zu Bette gehn..."