Heute in den Feuilletons

Ich befinde mich in Gefahr

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2011. In der FR schildert Ai Weiweis Mitarbeiterin Liu Yanping die Umstände, unter denen der Künstler verhaftet wurde. Alle Zeitungen berichten außerdem von der Berliner Diskussion zur Aufklärungsausstellung, auf der Bernd Neumann den Dresdener Museumschef und Ober-Appeaser Martin Roth scharf kritisierte. Der Tagesspiegel erinnert den deutschen Kulturbetrieb daran, dass er öffentlich gefördert wird, damit die Kunst frei ist. Die taz berichtet, wie China Hongkongs Filmindustrie stranguliert. Die FAZ untersucht Vor- und Nachteile einer Kulturwertmarke. Und die Zeit versucht zu verkraften, dass Neukölln jetzt genauso hip sein soll wie Kreuzberg.

FR, 28.04.2011

Liu Yanping, eine enge Mitarbeiterin Ai Weiweis, schildert in einem bewegenden Text, wie der chinesische Künstler - sie nennt ihn den Heiligen Ai - von seinen Vertrauten Abschied nahm: "Am 2. April, einen Tag bevor Ai nach Hongkong reisen wollte, saßen wir im Hof in der Sonne, und Ai erklärte uns ruhig: 'Ich befinde mich in Gefahr. Aber euch wird nichts Schlimmes passieren.' Ich fragte ihn, ob er wirklich glaube, er könne festgenommen werden. 'In diesem Land gibt es zu wenig verantwortungsbewusste Menschen', antwortete er. An diesem Tag waren wieder ein paar dutzend Studenten zu Besuch gekommen. Ausnahmsweise lud Ai sie zum Mittagessen mit ihm und den anderen Mitarbeitern ein. Nach dem Essen drückte er jeden von ihnen fest an sich. Er wirkte anders als sonst, traurig, als wolle er nicht gehen. Am nächsten Morgen wurde Ai am Pekinger Flughafen verhaftet... Am gleichen Tag wurde Wen Tao, ein freiwilliger Mitarbeiter, von Unbekannten in der Nähe des Studios verschleppt. Fünf Tage später verschwand Ais Buchhalter Hu Mingfen, tags darauf der bei Ai beschäftigte Architekt Liu Zhenggang, und noch einen Tag später Ais Fahrer Zhang Jinsong."

Weiteres: Arno Widmann berichtet zudem von der Berliner Debatte um die Kunst der Aufklärung in China. Auf der Medienseite meldet Peter Münder, dass es jetzt auch eine englischsprachige Cosmopolitan ("Drive Him Crazy") für den arabischen Markt gibt.

Besprochen werden die Doku "Godard trifft Truffaut", Kenneth Branaghs Film "Thor", eine Ausstellung in der Kölner SK-Stiftung Kultur, die bisher kaum bekannte Bilder August Sanders von einer Reise durch Italien zeigt, sowie Franz Overbecks Erinnerungen an Friedrich Nietzsche.

Tagesspiegel, 28.04.2011

Bei der China-Diskussion in der Akademie der Künste hat der deutsche Kunstbetrieb einen erschreckenden Eindruck bei Christiane Peitz hinterlassen: "In der Akademie spürt man das Unbehagen auch der Kulturfunktionäre, sich zu Ai Weiwei verhalten zu müssen. Es begegnet einem selbst bei seiner jetzigen Berliner Galerie Neugerriemschneider, wenn man etwas über deren Aktivitäten wissen will, die über ihre Ai-Weiwei-Ausstellung hinausgehen. Als fürchte der Kunstmarkt, das Geschäft mit diesem Künstler werde verdorben, wenn man allzu laut danach fragt, ob er überhaupt noch lebt. Kultur wird im demokratischen Deutschland öffentlich gefördert, damit sie frei ist... Wer da laviert, hat das Recht auf seinen Posten verwirkt. Von Dresden nach London: Dass Martin Roth zu seinem Karrieresprung ins Victoria and Albert Museum hierzulande durchweg applaudiert wird, ist nach seinen erschreckenden Äußerungen zu Ai Weiwei beschämend für die Kulturnation."

TAZ, 28.04.2011

Tilman Baumgärtel berichtet über das diesjährige Hong Kong Film Festival, auf dem die Probleme der einst potenten Filmindustrie in Hongkong deutlich wurden: Seit die Stadt wieder zu China gehört, wird die Filmbranche durch Kapitalflucht, Zensur und Tabus ausgebremst. "'Den Filmen der Gegenwart ist ihr spezieller Hongkong-Bezug mit chirurgischer Präzision entfernt worden' ... Man produziert für einen transnationalen, panchinesischen Markt Filme, die sowohl in China als auch in der Chinatown San Franciscos ankommen - und das in der Regel eher auf dem Festland als in Hongkong."

Michael Braun unterhält sich mit Norma Rangeri, Chefredakteurin der linken Zeitung Il Manifesto, die im System Berlusconi überlebt und jetzt ihren vierzigsten Geburtstag feiert.

Besprochen werden Geraldine Bajards Thriller "La Lisiere - Am Waldrand", der Dokumentarfilm "Godard trifft Truffaut - Deux de la Vague" von Emmanuel Laurent und Antoine de Baecque, Francis Lawrence' Zirkusfilm "Wasser für die Elefanten" und die CD "Preis dem Todesüberwinder" der Berlinerin Michaela Meise, die geistliche Musik zum Akkordeon singt.

Und Tom.

NZZ, 28.04.2011

Für Jan-Heiner Tück geht die für kommenden Sonntag anstehende Seligsprechung Johannes Paul II. offenbar in Ordnung: "Die französische Ordensschwester Marie Simon-Pierre, die wie Johannes Paul II. an der Parkinson-Krankheit litt, ist der festen Überzeugung, auf dessen Fürsprache von ihrem Leiden geheilt worden zu sein. Ihre Spontanheilung, die von einer unabhängigen Medizinerkommission geprüft und bestätigt worden ist, wurde für die Seligsprechung als Wunder anerkannt. Allerdings sollen die Kontakte des Papstes zu dem nachweislich pädophilen und kriminellen Marcial Maciel, dem Gründer der Legionäre Christi, das Seligsprechungsverfahren verzögert haben."

Weiteres: Gabriele Detterer porträtiert den Landschaftsarchitekten Gilles Clement, der unter anderem die Grünanlage des Pariser Musee du Quai Branly gestaltete und demzufolge wir alle in dem gleichen planetarischen Großgarten leben. Besprochen werden auf der Filmseite Michel Leclercs Tragikomödie "Le nom des gens" und Rodrigo Garcias Familiengeschichten "Mother and Child" sowie Bücher, darunter Aris Fioretos' Auswandererepos "Der letzte Grieche" und Cesarina Vighy autobiografische Recherche "Mein letzter Sommer" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 28.04.2011

Eckhard Fuhr berichtet von der Diskussion in der Berliner Akademie der Künste, auf der sich die Größen der deutschen Kulturpolitik etwas selbstkritisch zur Aufklärungsausstellung in Peking zeigten. Zwei Artikel üben Kritik an den Öffentlich-Rechtlichen: Kai-Hinrich Renner erinnert ARD und ZDF, dass sie mit der überflüssigen Doppelhochzeit keine Quoten machen müssen, weil sie Gebühren bekommen. Ekkehard Kern fragt, warum schon wieder ein Jugendsender auf einem Digitalkanal, also unter Ausschluss der Öffentlichkeit, geplant wird. Manuel Brug unterhält sich mit den beiden Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui und Nasser Martin-Gousset, die beide am Wolfsburger Movimentos Tanzfest teilnehmen. Brug schreibt auch zum Tod des früheren Sony-Chefs und Karajan-Verehrers Norio Ohga.

Besprochen werden der "unfassbar altmodische" Zirkusfilm "Wasser für die Elefanten" und die Dokumentation "Godard trifft Truffaut".

SZ, 28.04.2011

Über die sehr deutlichen Worte von Kulturstaatsminister Bernd Neumann zur Ai-Weiwei-Affäre und deutschen Reaktionen darauf freut sich Stephan Speicher: "Er tadelte die deutschen Unternehmer, die eine Frage nach der Einreiseverweigerung für Spengler ausgebuht hatten und wandte sich auch den Museumsleuten zu: 'Ich habe auch wenig Verständnis dafür, dass im Kommentar eines beteiligten Museumsdirektors' - gemeint war der Dresdner Generaldirektor Martin Roth - 'der Eindruck erweckt wurde, Ai Weiwei habe wegen seiner offensiven Kritik am chinesischen Staat quasi eine Mitschuld an seiner Verhaftung. Eine derart tiefe Verbeugung gegenüber dem chinesischen Staat hat nichts mehr mit Höflichkeit zu tun, das ist anbiedernd und die Verhöhnung eines mutigen und bedeutenden Künstlers.'

Weitere Artikel: Der US-Vorkämpfer der Ökologiebewegung Stewart Brand erklärt im Gespräch, dass Siege der Grünen in Deutschland ihrer Atomfeindlichkeit wegen Niederlagen der Ökologie sind. Zwar nicht für neue "Warnschuss"-Gesetze, aber fürs sofortige Wegsperren des Berliner U-Bahn-Prüglers entdeckt Jens Bisky in seinem Rechtsempfinden gute Gründe. Für nicht mehr als eine "Provinzposse" hält Kai Strittmatter die Entfernung der Köpfe vom türkisch-armenischen Friedensdenkmal in Kars. Fritz Göttler würdigt den indischen Regisseur Satyajit Ray, dem im Münchner Filmmuseum eine Retrospektive gewidmet wird. Alexander Menden schreibt zum Tod der Punk-Musikerin Poly Styrene.

Besprochen werden Installationen von Angela Bulloch in Wolfsburg und Berlin, das neue Fleet-Foxes-Album "Hopelessness Blues", neu anlaufende Filme, darunter Kenneth Branaghs Superhelden-Hammer "Thor" und die Nouvelle-Vague-Doku "Godard trifft Truffaut", sowie Bücher, darunter Salvatore Niffois Sardinien-Roman "Die barfüßige Witwe" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 28.04.2011

Auf der Medienseite kommentiert Thomas Thiel den als Grundstürzung des Urheberrechtssystems gedachten "Kulterwertmark"-Vorschlag des Chaos Computer Clubs mit einer Mischung aus Sympathie und Skepsis: "Die Schutzfristen sollen deutlich verkürzt und die rechtliche Verfolgung privaten Kopierens auf kommerzielle Verstöße beschränkt werden. Was nichts anderes als eine Legalisierung des privaten Filesharings bedeutete. Ungeklärt bleibt bisher auch die Frage, wie es bei kollektiven Werken aussähe... Der Chaos Computer Club hat einen zwiespältigen Vorschlag präsentiert. Er favorisiert einen Kunst- und Kulturbegriff, der zu stark vom romantischen Gedanken des Einzelgenies gefärbt ist, um alle Probleme zu lösen."

Weitere Artikel: Julia Spinola porträtiert den Meisterdirigenten Claudio Abbado als immerzu Gebenden, als unverdrossen Orchestergründenden und nun auch noch als spiritus rector eines geplanten neuen Konzertsaals in Bologna. In einem Kommentar zur SPD-Sache Sarrazin vergleicht Marcus Jauer die Angelegenheit mit einem Versicherungsschadenfall und erkennt doch beträchtliche Differenzen. Camilla Blechen vermeldet, dass Kulturstaatsminister Bernd Neumann sich für Ai Weiwei einsetzt und den Ober-Appeaser Martin Roth - nicht namentlich, aber unverkennbar - scharf kritisiert. In der Diskussion zur Sterbehilfe widersprechen Jörg-Dietrich Hoppe, Volker Lipp und Alfred Simon der Philosophin Petra Gehring und ihrer These, die Neuregelung stelle die Beihilfe zum Selbstmord ins Belieben des Arztes. Die Pläne Karl Lagerfelds zur Kreation eines Buchduftparfums - Name: "Paper Passion" - glossiert Daniel Haas. Ein Rostocker Wohnbauprojekt für die Werft stellt Matthias Grünzig vor. 

Besprochen werden der zweite Teile einer Berliner Reihe "Musik mit Mahler" mit dem MDR Rundfunkchor Leipzig unter Lothar Zagrosek, die Fotografie-Ausstellung "Die Neue Wirklichkeit" in der Pinakothek der Moderne, eine Einspielung von Claudio Monteverdis Marienvesper mit Christina Pluhar und die Nibelungenliedteilvertonung "Klang der Staufer" durch die Capella Antiqua Bambergensis, Pelen Esmers Debütfilm "10 vor 11" und Bücher, darunter Bernhard Sinkels Roman "Augenblick der Ewigkeit" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 28.04.2011

Thomas Groß singt den Kreuzberg-Blues: Auf den Bordsteinen vom Heinrichplatz sitzen nicht mehr die unbrauchbaren Lebenskünstler alten Schlags, sondern schöne, elegante, informierte Menschen, wo früher echte Armut war, herrscht heute "Vintage-Poverty-Style": Es ist eine Identitätskrise, in die das neue Kreuzberg das alte Kreuzberg gestürzt hat, mit allem, was an Befürchtungs- und Widerstandsszenarios dazugehört. Gerade die Eingliederung weiter Teile Neuköllns in einen neu entstandenen Superszenestadtteil stellt einen aus Kreuzberger Sicht unerhörten Vorgang dar, galt Neukölln doch lange als uneinnehmbares Terrain, eine Vorhölle des Restberlinertums, in der die Hundehaufen zum Himmelstanken, arabische Jugendgangs dem Bohemien die Oberhoheit über die Straße streitig machten und Rentner in Feinrippunterhemden ihr Lungenkrebssputum auf die Straße husteten."

Weiteres: Susanne Mayer unterhält sich mit dem britischen Schriftsteller und Marxisten Terry Eagleton über sein neues Buch "Das Böse": "Das Böse entsteht in Menschen, die nicht wirklich leben können. " So richtig weiß die Autorin Monica Ali noch nicht, was sie an Kate Middleton interessant finden wird, will aber am Ball bleiben. Claus Spahn berichtet von der drohenden Pleite des Philadelphia Orchestras. Angela Köckritz sammelt Eindrücke in der Aufklärungsausstellung in Peking. Petra Kipphoff gratuliert dem Dresdner Museumschef Martin Roth zum Wechsel nach London, vergessen ist sein Peking-Desaster.

Besprochen werden die Max-Liebermann-Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle, Ina Christel Johannessens Choreografie "Now She Knows" und Bücher, darunter Hans Falladas zu ganz neuen Erfolgen avancierter Roman "Jeder stirbt für sich allein" und Anita Albus' Proust-Buch "Im Licht der Finsternis" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).