Heute in den Feuilletons

Mit pfeifendem F

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2011. Die taz empört sich über die Kuratoren der Kunstbiennale von Sharjah, die sich von Einschränkungen der Kunstfreiheit auch noch beflügelt sehen. Die Welt erzählt vom Sturz der Charity-Ikone Greg Mortenson. Die FAZ berichtet von heftigen Gefechten zwischen Frankreichs Intellektuellen um den Krieg in Libyen. In der FR freut sich Jurko Prochasko über die Befreiung der Ukrainer vom Stigma der Ungeschicktkeit. Der SZ wird vor den Bildern Jean Simeon Chardins ganz religiös zumute. Die NZZ empfiehlt dringend, Gamal al-Ghitanis großen Roman 'Seini Barakat" zu lesen. Und damit wünschen wir schöne Ostern!

Welt, 23.04.2011

Ansgar Graw erzählt die Geschichte des Bestsellerautors Greg Mortenson, der in den USA für sein Schulprojekt in Afghanistan verehrt wird (Obama spendete ihm 100.000 Dollar aus seinem Nobel-Geld) und der nach einer Recherche des bekannten Reporters Jon Krakauer, die als Stand Alone fürs Kindle publiziert wurde, offenbar seine Geschichte fälschte und in die eigene Tasche wirtschaftete. "Inzwischen ermittelt ein Staatsanwalt. Auf Mortenson und (seine Organisation) CAI könnten Steuerforderungen von 23 Millionen Dollar zukommen, wenn der karitative Anspruch des Vereins widerlegt würde." Einen höchst informativen Artikel zur Affäre mit vielen Links gibt's in The Daily Beast.

Weitere Artikel: Stefan Koldehoff bedauert sehr, dass der Dresdner Museumschef Martin Roth, der die Aufklärungsausstellung in Peking mit organisierte und durch seine Kritik an der chinesischen Staatsgeisel Ai Weiwei von sich reden machte, ans Londoner Victoria & Albert-Museum abberufen wurde. Richard Kämmerlings macht sich in der Leitglosse nach Amazons Einführung des Kindle auf den deutschen Markt Sorgen um den deutschen Buchhandel. Peter Beddies unterhält sich mit dem Regisseur des Tschernobyl-Films "An einem Samstag", Alexander Mindadze. Manuel Brug sieht die Pleite des Philadelphia Orchestras als Symptom des Niedergangs des amerikanischen Finanzierungssystems für Orchester (das übrigens auch an den exorbitanten Gehältern der Musiker scheitert). Richard Kämmerlings geht mit Hannelore Schlaffer essen. Johnny Erling berichtet, dass eine monumentale Konfuzius-Plastik, die erst vor ein paar Monaten auf dem Platz des Himmlischen Friedens aufgestellt wurde, über Nacht verschwunden ist.

In der Literarischen Welt gibt Martin Mosebach sieben Antworten auf die Frage "Was ist guter Geschmack". Henryk Broder beobachtet in seiner Kolumne eine immer größere Fähigkeit der Deutschen zu trauern (zumindest wenn es um Knut und verlorene Endspiele geht). Auf zwei Seiten werden Kochbücher besprochen (nämlich hier und hier).

NZZ, 23.04.2011

Hartmut Fähndrich gibt in Literatur und Kunst einen Überblick über die moderne ägyptische Literatur, deren Themen seirt Jahrzehnten "Korruption, Repression und Depression" sind: "Eine der scharfsichtigsten und gleichzeitig gespenstischsten Visionen von den Mechanismen der Repression und ihren Auswirkungen auf die Bevölkerung stammt aus dem Jahre 1974, vier Jahre nach Nassers Tod und noch während Sadats glanzvoller Anfangsjahre: Gamal al-Ghitanis 'Seini Barakat. Diener des Sultans - Freund des Volkes'. Es ist ein Roman - angesiedelt im Ägypten des beginnenden 16. Jahrhunderts - über einen Polizeistaat mit einem höchst effizienten Geheimdienst, in dem selbstverständlich Inhaftierung, Kerker, Tortur als wesentlicher Teil der Herrschaft eine prominente Rolle spielen. Diese Übergriffe sind aber nur Höhepunkt und vorläufiger Abschluss der Kontrolle über die Bürger. Denn mittels Bespitzelung, Einschüchterung, Indienstnahme beginnt die geistige und psychische Zermürbung und Zerstörung eines Individuums schon lange vor dessen Eintritt ins Gefängnis."

Und Fakhri Saleh betont, dass nicht die westliche Romantradition allein das Maß aller literarischen Dinge ist: "Machfus ist kein Balzac und auch kein Galsworthy, Zola oder Thomas Mann. Machfus ist in der arabischen Tradition verwurzelt, und sein Stil verflicht die Feinheiten des Arabischen mit europäischen Einflüssen."

Weiteres: Brijinder Goswamy erzählt von den indischen Künstlern, deren Werke demnächst im Museum Rietberg in Zürich ausgestellt werden. Bernd Roeck eruiert die Lage der Geisteswissenschaften in Zeiten knapper Kassen.

Im Kulturteil berichtet Miriam Ronzoni frustriert, dass die italienische Frauenbewegung gegen Berlusconi schon wieder zum Erliegen kommt. Steffen Richter erinnert an den italienischen Karl May, dem "Sandokan"-Erfinder Emilio Salgari, der sich vor hundert Jahren - "Von seinen Verlegern ausgepresst, sozial isoliert und zunehmend erblindet - das Leben nahm. Hoo Nam Seelman berichtet, dass Frankreich geraubtes Kulturgut an Korea als Dauerleihgabe zurückgibt.

Besprochen werden eine große Schau des englischen Ästhetizismus im Victoria & Albert Museum in London, Salman Rushdies Roman "Luka und das Lebensfeuer", Maria Teresa Andruettos Roman "Wer war Eva Mondino?" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 23.04.2011

Der ukrainische Germanist Jurko Prochasko denkt über Tschernobyl und die Folgen nach und erklärt, warum das Unglück von Fukushima wenigstens für sein Land durchaus erfreuliche Seiten hat: "Paradoxerweise wirkt die japanische Tragödie in der Ukraine unter anderem auch als große Erleichterung - waren wir doch jahrelang vom Stigma der Ungeschicktheit geplagt. Weil es sonst nirgends einen Unfall von solch einem Ausmaß gegeben hatte,war er für diese unter Minderwertigkeitsgefühlen schwerst leidende Nation wie eine weitere Bestätigung der eigenen Nichtigkeit. Und nun das hochentwickelte Japan, für viele der Inbegriff der modernen technologischen Zivilisation schlechthin."

Weitere Artikel: Über das politische Engegament heutiger Schriftsteller schreibt Thomas Wagner, der zum Thema auch ein Buch verfasst hat. Den Scharmützeln zwischen Mario Vargas Llosa und der argentinischen Präsidentin Cristina Kirchner widmet Judith von Sternburg eine Times Mager.

Besprochen werden ein Abend des Nederlands Dans Theater mit Choreografien von Jiri Kylian und Alexander Ekman, eine Neuinszenierung des Musicals "Grease", die in der Alten Oper Station macht, Ina Annett Keppels Inszenierung von Alan Ayckbourns Stück "Glückliche Zeiten" am Staatstheater in Darmstadt, Yael Naims Album "She Was a Boy" und Bücher, darunter Dietmar Süß' Studie "Tod aus der Luft" und Jost Gebers Schrift- und Klang-Retrospektive "FMP - Im Rückblick" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 23.04.2011

Scharf kritisiert Brigitte Werneburg Haig Aivazian und Rasha Salti, die Kuratoren der Kunstbiennale in Sharjah in den Arabischen Emiraten, weil sie trotz ihrer Solidarisierung mit dem aus politischen Gründen entlassenen Künstlerischen Direktor der Biennale Jack Persekian die Einschränkung der Kunstfreiheit akzeptieren: "Die Kuratoren rechtfertigen sich, diese Restriktionen akzeptiert zu haben. Sie hätten in ihnen 'einen fruchtbaren Ausgangspunkt, keine hemmende Vorgabe' gesehen. Diese Äußerungen sind so skandalös wie die Intervention des Scheichs selbst. Kein Kurator darf die grundlegende Bedingung der zeitgenössischen Kunst - dass sie frei sein muss - zu einer je nach Situation verhandelbaren Angelegenheit erklären."

Weitere Artikel: Rene Martens unterhält sich mit der Philosophin Bettina Stangneth über ihr Buch "Eichmann vor Jerusalem". Über die mögliche Wiederbelebung der Friedensbewegung sinniert Martin Kaul. Auf den vorderen Seiten schreibt Dominic Johnson zum Tod der Kriegsfotografen Tim Hetherington und Chris Hondros - dazu gibt es ihre letzten Bilder aus dem libyischen Misrata. 

Besprochen werden das neue Attwenger-Album "Flux", die Comeback-Platten von Paul Simon und Robbie Robertson (mit Simons jüngstem Werk kann Detlef Diederichsen dabei gut leben, mit Robbie Robertsons eher nicht), und Bücher, darunter Nino Anticos Comic "Coney Island Baby" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 23.04.2011

Irgendwie - wenngleich etwas antizyklisch - religiös wird es Manfred Schwarz beim Rundgang durch die Prado-Ausstellung mit den Werken Jean Simeon Chardins zumute: "Es ist dies das erste Mal überhaupt, dass sein Werk in Spanien zu sehen ist, und umso größer ist hier deshalb die Neugier auf ihn. Streift man derzeit durch die immens gefüllten, aber bemerkenswert stillen Ausstellungssäle, so kommt es einem mitunter fast vor, als würden die Spanier mit ihren Augen die Bilder bis auf den letzten Pinselstrich auskosten wollen. So wie sich die Gläubigen noch einmal an den erlesensten Leckereien erlaben, bevor am nächsten Morgen die bittere Fastenzeit beginnt."

Weitere Artikel: Der Übersetzer und Germanist Mustafa Al-Slaiman erklärt das Bild, das der Islam vom Propheten Jesus und vom Christentum hat. Mit der Star-Sopranistin Anna Netrebko unterhält sich Egbert Tholl unter anderem über das angenehm Einschläfernde der Barockoper. In seiner Kairo-Kolumne erfährt Khalid al-Khamissi von einem Taxifahrer, dass sich Hosni Mubarak an die Macht zurückputschen wollte. Wenig Überzeugendes sah Christine Dössel bei der Verleihung des Europäischen Theaterpreises in St. Petersburg. (Dafür weiß sie - es waren hunderte auf einem Flecken versammelt - nun mehr über Theaterkritiker: "Sie sind tendenziell schlecht gelaunt, tendenziell schlecht gekleidet, generell eher unfreundlich und nörgeln immerzu. Kein Klischee!") Jsl. kommentiert kurz die Eröffnung des deutschen Kindle-Shops (hier) mit bereits 25000 verfügbaren Büchern des deutschen Sprachraums als bedeutsamen "Wechsel von Beschreibstoffen". Doris Kuhn gratulieren an einem festtagreichen Osterwochenende dem Schauspieler Werner Enke ("Zur Sache, Schätzchen!"), Fritz Göttler dem französischen Regisseur Bertrand Tavernier , Barbara Gärtner dem Maler Markus Lüpertz jeweils zum Siebzigsten und Astrid Mania der Malerin Bridget Riley zum Achtzigsten.

In der SZ am Wochenende unterhält sich Peter Littger mit der Queen-Vertrauten Pamela Hicks übers Heiraten. Auf der Historienseite stellt Joachim Käppner deutsche Freiheitshelden der USA vor.

Besprochen werden die Aufführung der John-Neumeier-Choreografie "Illusionen - wie Schwanensee" durch das Bayerische Staatsballett, Christopher Morris' Islamisten-Komödie "Four Lions" und Bücher, darunter Matthias Zschokkes Mail-Konvolut "Lieber Niels" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 23.04.2011

Jürg Altwegg berichtet in einem etwas verächtlichen Ton vom Streit der französischen Intellektuellen um den Krieg in Libyen, aufflammte, als Claude Lanzmann seine Haltung revidierte und Bernard-Henri Levy eine "Infantilisierung der Politik" vorwarf: "Seine Antwort auf Lanzmann im Monde bestätigt dessen Eindruck: Jetzt spielt sich der Philosoph und 'Phrasendrescher' auch noch als militärischer und strategischer Experte auf und schwärmt von den schnellen Fortschritten der Rebellen. Lanzmann wirft er Fahnenflucht vor: 'Es geht ihm alles zu lange, und er sucht das Weite.' Zur öffentlichen Niedermachung schickte er seinem treuen Adlatus Gilles Hertzog an die Front: Lanzmann habe seine Vergangenheit in der Resistance verraten und sich selbst verleugnet. Hertzog reiht Lanzmann ein ins Lager der 'Pontius Pilatus, der Münchner, der ewigen Nichtinterventionisten' - es ist die insinuierte Vorstufe der Kollaboration."

Weiteres: Dieter Bartetzko besichtigt in Pompeji und Herculaneum die Spuren jahrzehntelanger Vernachlässigung sowie die "aktuellen Schändungen Pompejis im Namen des Profits". Tomasz Kurianowicz begleitet Herta Müller auf Lesereise durch die baltischen Länder: "Gerührt und ergriffen ist man von der Eindringlichkeit ihrer Sprache: wie sie das lebensrettende Wort 'Kartoffel' ausspricht - kurz und mit pfeifendem F." Jürgen Dollase testet in "Raubs Landgasthof" die Vereinigung von Haute Cuisine und Regiobalküche. Frank Lübberding porträtiert auf der letzten Seite den frühen Atomkritiker Holger Strohm.

In Bilder und Zeiten erzählt Andreas Platthaus, wie der Street Artist Stefan Strumbel im badischen Dorf Goldscheuer am Rhein die Kirche "Maria, Hilfe der Christen" neu gestaltet. Ulrich von Bülow folgt folgt den Spuren, die Heideggers Jahrhundertwerk "Sein und Zeit" in der deutschen Nachkriegsphilosophie hinterlassen hat. Irene Bazinger unterhält sich mit der Schauspielerin Edith Clever über deren Rückzug vom Theater.

Besprochen werden Simon Rattles und Gustavo Dudamels Konzerte bei den Salzburger Osterfestspielen, eine Ausstellung zu Joos van Cleve im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen, Jurek Beckers "Jakob der Lügner" im Heidelberger Theaterkino sowie mehrere Neueinspielungen von Bachs Passionen (die aber laut Eleonore Büning auch nicht besser sind als die alten). Und Bücher, darunter John Burnsides Gedichte "Versuch über das Licht", Sebastian Mattmüllers Lesung von Beat Sterchis Roman "Blösch", das mittelalterliche "Buch der 24 Philosophen" und "Ali Baba und vierzig Räuber" in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß aus dem 18. Jahrhundert (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In der Frankfurter Anthologie stellt Sandra Kerschbaumer Kurt Tucholskys Gedicht "Ideal und Wirklichkeit" vor:

In stiller Nacht und monogamen Betten
denkst du dir aus, was dir am Leben fehlt..."