Heute in den Feuilletons

Lernen Sie Japanisch!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.03.2011. In der FR reagiert der Philosoph Kenichi Mishima recht ungehalten auf einige Japan-Klischees der Feuilletons. Der Tagesspiegel deutet die German Angst als narzisstische Angstlust. Die NZZ lernte in Singapur: Eine trockene Haltung zur Kunst ist in den Tropen nicht möglich. Die SZ staunt: Deutsche Zeitungen florieren dank ihrer Fantasielosigkeit. Die FAZ ist sich uneins über Bernard-Henri Levy.

FR, 21.03.2011

Reichlich unwirsch reagiert der Philosoph Kenichi Mishima auf die Fragen der Interviewerin Christine Pries, die sämtliche Thesen widerspiegeln, die in den letzten Tagen in den Feuilletons zum Atomunfall in Japan breitgetreten wurden. Die Japaner bewahren bewundernswerte Ruhe? Wie "naiv". Die Japaner sind verhältnismäßig unkritisch gegenüber der Atomkraft? "Lernen Sie ... Japanisch! ... Die japanische Diskussionskonstellation ist beinahe dieselbe wie in Deutschland." Ausländische Medien berichteten besser als die japanischen über die Katastrophe? "Das ist ein Ethnozentrismus pur!" (Hier die Laudatio von Jürgen Habermas auf Mishima zur Verleihung Ehrendoktorwürde der FU Berlin)

Judith von Sternburg hält die wichtigsten Ereignisse der Leipziger Buchmesse fest: "Es werden außerordentlich wenige wirklich originelle Reden gehalten, auch wenn noch so viele Berufs- und Gerneleser (schon nach zwei Messetagen der erste Rekord: 62 000) zusammenkommen. Ein Kommunalpolitiker und zwei Schriftstellerinnen haben es diesmal in Leipzig herausgerissen."

Weiteres: Auf der Medienseite berichtet Kathrin König über Vorwürfe gegen die Medien wegen der Skandalberichterstattung im Fall Winnenden. Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Inszenierung der Hebbelschen "Judith" im Deutschen Theater Berlin und eine Aufführung von Anouilhs "Antigone" in Mainz.

Aus den Blogs, 21.03.2011

(Via @textundblog) Aileen Lee, Partner at Kleiner Perkins Caufield & Byers besingt in Techcrunch die Erfolge des Web 2.0 und teilt dann ein kleines und Geheimnis mit, "that's gone unnoticed by most. It's women. Female users are the unsung heroines behind the most engaging, fastest growing, and most valuable consumer internet and e-commerce companies. Especially when it comes to social and shopping, women rule the Internet."

Lesestoff für den Montag: The Daily Beast verlinkt unter dem Hashtag #longreads einige des besten amerikanischen Reportagen über Atomunfälle und Atomkraft in den letzten dreißig Jahren. Linktipps zu Artikeln über Internet- und Medienthemen gibt es bei Medial Digital (hier) und neunetz (hier).
Stichwörter: Atomkraft, Heroin, Behinderte

Tagesspiegel, 21.03.2011

Nachdem Arno Widmann am Samstag ein Loblied auf die German Angst sang, diagnostiziert sein ehemaliger taz-Kollege Klaus Hartung in einem kleinen Essay für den Tagesspiegel eher eine deutsche Unfähigkeit zur Empathie und narzisstische Angstlust: "Es war so, als ob die deutschen Medien gar nicht so sehr das Unglück erfassen wollten, obwohl deutlich war, dass nur ein Bruchteil der Katastrophe überhaupt bekannt geworden war. Es ist wohl doch der erste Akt der Teilhabe und Menschenliebe, dass man nicht wegsieht, vielmehr alles zu begreifen sucht, was geschieht? Aber die Medien und Fernsehnachrichten konzentrierten sich vehement auf die Frage, ob uns in Deutschland auch ein Fall-out drohe."

NZZ, 21.03.2011

Schön warm ist es Samuel Herzog in Singapur geworden, wo er die Biennale für zeitgenössische Kunst besuchte. Eine trockene Haltung zur Kunst ist in den Tropen nicht möglich, weiß er jetzt: "Da die Feuchtigkeit hier alles mit allem verbindet, die Bananenstaude mit dem Schweißfleck unter der Achsel der Kassiererin, die gähnenden Muscheln im Glastank des Aquariums mit dem Dim-Sum-Dunst vor dem Gesicht des Kochs, stehen wir automatisch auch mit der Kunst in einem flüssigen Austausch. Das bedeutet allerdings auch, dass Kunst einen Zweck erfüllen, ihr ein gewisses Maß an Sinn anhaften muss... Wo sie ganz unbestimmt daherkommt, quasi ganz frei und sich selbst genug, wird sie in der Logik dieses Feuchtigkeitssystems automatisch zum Ballast, zu einem unnötig warmen Kleidungsstück, das schon nach wenigen Sekunden fürchterlich kratzt und wie ein Stück fettigen Schinkens auf der Haut klebt."

Weiteres: Joachim Güntner beendet zufrieden die Leipziger Buchmesse. Marc Zitzmann porträtiert Dramatiker, Regisseur und Truppenleiter Joel Pommerat. Barbara Villiger Heilig hat sich Gisela Widmers Stück "Biedermanns.umgezogen" am Luzerner Theater angesehen.

Welt, 21.03.2011

Abgedruckt ist die Geburtstagsrede auf Siegfried Lenz, die Bundespräsident Christian Wulff am Sonntag in Hamburg hielt. Die Jazz-Sängerin Lizz Wright erzählt im Interview, warum Kochen und Gärtnern ihr beim Musikmachen geholfen haben. Ekkehard Kern berichtet über den Betrugsskandal beim Kindersender Kika: 8,2 Millionen Euro soll der Herstellungsleiter unterschlagen haben. Besprochen wird die Ernst-Jandl-Schau im Münchner Literaturhaus.

TAZ, 21.03.2011

Andreas Fanizadeh nimmt von der Leipziger Buchmesse eine Lebensdevise Alfred Grossers mit: "Intellektuell pessimistisch, genetisch aber glücklich." Im zweiten Teil des Textes zeigt sich Dirk Knipphals gar nicht überzeugt vom Leipziger Buchpreis für Clemens Setz: "Bei all seiner Jugendlichkeit passt Clemens J. Setz nämlich sehr gut in einen ziemlich strukturkonservativen Begriff des Literaturbetriebs, auf den sich die Jury - die im Wesentlichen aus Zeit-, SZ- und FAZ-Autoren bestand - geeinigt hat."

Weiteres: Für die Notizen zum Kleistjahr liest Jürgen Berger noch einmal Kleists "Aufruf zur Dreistigkeit", die Schrift "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden". Brigitte Werneburg besucht in New York die vom Goethe Institut in ihrer hippen Galerie Ludlow 38 gezeigte Ausstellung "Waldemar Cordeiro & Franz Mon". Außerdem berichtet Werneburg vom Boykottaufruf des libanesischen Künstler Walid Raad gegen das Guggenheim im despotischen Abu Dhabi.

Auf der Meinungsseite ruft Georg Blume dazu auf, Japan mehr Hilfe zu leisten: "Zugegeben, es ist nicht immer leicht, den Japanern als Westler Ratschläge zu erteilen. Es gibt in Japan Menschen, die ausländischen Rat grundsätzlich ablehnen. Doch heute muss die Welt wissen: Das sind nicht diejenigen, die gerade Japan regieren. Japan hatte in seiner Nachkriegsgeschichte wohl noch nie einen intellektuell und politisch so weltoffenen und selbstkritischen Mann wie Naoto Kan an der Spitze." (Hier noch ein Porträt Kans aus der FAZ vom 4. Juni 2010.)

Und Tom.

SZ, 21.03.2011

Nachdem die amerikanischen Zeitungen mit teilweise grandiosen Netzauftritten ökonomisch scheiterten und die New York Times online - teilweise - wieder zahlbar wird, fragt Jörg Häntzschel auf der Medienseite mit Blick auf die deutsche Fantasielosigkeit im Netz: "Lagen die deutschen Verleger also richtig, die - von Spiegel Online über FAZ und SZ - von Anfang an lieber Parallel-Versionen ihrer Printausgaben im Internet anboten? Ihnen bereitete es wenig Sorge, dass ihre Internet-Auftritte den Wert ihrer Marken nicht gerade steigerte, sie fanden es auch nicht anachronistisch, dass ihre mit Substanz gefüllte Zeitung wie vor 100 Jahren am nächsten Tag im Müll landet - unauffindbar für Google und verschwunden für alle Zeiten." Selbstkritische Töne!

Weitere Artikel: Für den Feuilletonaufmacher liest der Arabisch-Übersetzer Günther Orth einige der zahlreichen Bücher von Gaddafi und zitiert unter anderem folgende Einsicht: "'Frauenärzte sagen, dass Frauen jeden Monat menstruieren, Männer aber nicht. (...) Wenn eine Frau nicht menstruiert, ist sie schwanger', schreibt er. Ah ja." Niklas Hofmann betrachtet einige Reaktionen im japanischen Internet auf die nukleare Katastrophe, unter anderem das Video "Nuclear Boy":



Christopher Schmidt resümiert die Leipziger Buchmesse. Willi Winkler berichtet von der prominent besetzten Feier zum 85. Geburtstag Siegfried Lenz'. Claus Lochbihler unterhält sich mit dem auf Deutschlandtour befindlichen Jazz-Saxophonisten Joe Lovano über seine neue CD und Charlie Parker. Mathias Drobinski berichtet von einer Tutzinger Tagung über Islam in Deutschland, bei der auch der Gottseibeiuns Sarrazin mitdiskutierte, ohne dass es zu Tumulten kam (hier Bernd Buchners Bericht auf evangelisch.de).

Besprochen werden ein Konzert mit Mitsuko Uchida und Mariss Jansons in München, neue DVDs, ein Horvath am Münchner-Volkstheater und Bücher, darunter Kai-Hinrich und Tim Renners "Digital ist besser" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 21.03.2011

Mut zum Widerspruch in der FAZ! Nils Minkmar brachte gestern trotz ironischer Brechungen eine kleine Hommage auf Bernard-Henri Levy, der dazu beigetragen hat, dass Frankreich den Feldzug gegen Libyen initiierte: "Welcher Intellektuelle kann schon von sich sagen, einen Beschluss des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen herbeigeführt zu haben? Und welches Land kann sich rühmen, so einen zu haben?" Jürg Altwegg meint dagegen heute in der heutigen FAZ, dass Levy mit dem Krieg, den er herbeiführen half, nur einige persönliche Schlappen der letzten Monate gutmachen wolle: "Jetzt steht er wie Sarkozy als strahlender Sieger eines Duetts zweier Egomanen, mit Gaddafi in der Rolle des Bösewichts, da und mit der berechtigten Gewissheit, dass es um eine gute Sache geht."

Weitere Artikel: Über das komplette Desinteresse der Leipziger Buchmesse am aktuellen Weltgeschehen klagt Daniel Haas. Julia Voss nimmt erfreut zur Kenntnis, dass Bayern nun bereit scheint zur Restitution von "verfolgungsbedingt entzogener" Kunst. Den russischen Skandal um mit Hilfe von Wladimir Putin, Sharon Stone und anderen eingeworbene, aber beim Empfänger zunächst nicht angekommene Spenden für krebskranke Kinder kommentiert Kerstin Holm. Von einer Münchner Tagung zum Literaten und Metaphysiker Bob Dylan berichtet Edo Reents. Michael Hanfeld und Olaf Sundermeyer schildern die Hintergründe des Kika-Skandals und seine Konsequenzen. Rolf Dobelli erläutert, warum man fürs klarere Denken niemals die Grundverteilung vernachlässigen sollte.

Beprochen werden ein Abend mit Pigor & Eichhorn in Berlin, Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Hebbels "Judith" am Deutschen Theater Berlin, Mei Hong Lins neue Choreografie "Die Brautschminkerin" in Darmstadt und Bücher, darunter eine neue Stadtführerreihe, die mit einem Band Pier Paolo Pasolinis über Rom eröffnet (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).