Heute in den Feuilletons

Das Allerprivateste wird zum Ereignis

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2011. Foreign Policy jubelt  über Tunesiens Revolution, bei der erstmals in der arabischen Geschichte ein arabischer Diktator vom Volk gestürzt wurde. In der taz erzählt Willi Winkler, wie der Schweizer Nazi Francois Genoud mit Hilfe von Carlos und der PFLP seinen antisemitischen Kampf fortsetzte. Die SZ freut sich über die winzigen Figuren des  Künstlers Slinkachu. Die FAZ meldet, dass Peking das Wort Zivilgesellschaft verboten hat. Die NZZ feiert den größenwahnsinnigen Humanismus der Wikipedia. Update: In The Atlantic wirft Jonathan Lethem der Wikipedia tödliche Pedanterie vor.

Weitere Medien, 15.01.2011

Ethan Zuckerman feiert in Foreign Policy Tunesiens Revolution als einen bedeutenden Moment in der arabischen Geschichte: "Es scheint, dass wir das Seltenste aller Phänomene erlebt haben: eine Revolte des Volkes, die einen arabischen Diktator stürzt. Zuschauer in der gesamten arabischen Welt haben vor Al Dschasira geklebt, das über die Proteste sehr nah berichtet hat. Viele Staaten in der Region leiden unter den gleichen Probleme - Arbeitslosigkeit, langsames Wachstum, korrupte Regierungen, alternde Diktatoren -, die auch die Tunesier auf die Straßen gebracht haben. Auch in Algerien und Jordanien protestieren die Menschen auf den Straßen und fordern Jobs und erschwingliche Lebensmittel." Und auch wenn die Revolution in Tunesien keine Twitter-Revolution gewesen sei, haben das Internet und die sozialen Medien eine wichtige Rolle gespielt, zum Beispiel auch der Blogger Astrubal, der Pandoras Büchse öffnete, als er über die Shopping-Trips der First Lady in Europa ein Video gepostet hatte (steht jetzt bei Daily motion).

Auch Slate.fr untersucht, welche Rolle das Internet bei den Protesten und der Selbstorganisation der Menschen gespielt hat.

Update. In The Atlantic will Autor Jonathan Lethem der Wikipedia nicht zum zehnten Geburtstag gratulieren. Der Grund: Die ständige Überarbeitung der Artikel treibt den Einträgen jeden Saft und Geschmack aus: "In many ways Wikipedia has narrowed the vibrant chaos of the internet just as badly as Google or Facebook could ever be accused of doing -- is it a greater or lesser crime to do so not in the name of secretive and profitable corporate imperatives but under the grand banner of 'crowdsourcing'? With all respect to the noble volunteer army, I call it death by pedantry."

TAZ, 15.01.2011

Andreas Fanizadeh unterhält sich mit Willi Winkler über dessen Biografie des äußerst schillernden Schweizers Francois Genoud, Hitler-Verehrer, Unterstützers des Antikolonialismus, Finanzier von Carlos und des palästinensischen Terrorismus: "Genoud war überall ein Außenseiter: ein Nazi, aber kein Deutscher; ein Schweizer, aber ohne rechte Vaterlandsliebe; ein Bankier, aber einer, der offensichtlich Geld gewaschen hat; ein Terrorhelfer, der aber selber keine Bomben legte. Er träumte davon, Räuberhauptmann zu sein, hat es aber als vernünftiger Schweizer anderen überlassen, die Räubereien zu begehen. Genoud war geprägt vom Antisemitismus der 1920er und 1930er Jahre. Die armen verfolgten Palästinenser und PFLP-Chef Wadi Haddad kamen ihm wie gerufen. Mit ihnen konnte er den Kampf gegen die Juden fortsetzen."

Detlef Kuhlbrodt verbrachte einen melancholischen Spätherbst und Winter mit Wohnungssuchen in Berlin: "Die Tage vergingen, aus Herbst wurde Winter. Tagsüber war ich guter Dinge - ein neuer Lebensabschnitt würde nun bald beginnen, abends wurde ich oft richtig panisch und träumte drei Buchstaben: OFW. Eine Freundin schrieb: 'Wohnen wird überbewertet', ich antwortete: 'Wohnen ist was für Warmduscher'."

Weitere Artikel: Michael Bartsch war vor Ort, als Großes sich in Dresden tat: "Deutscher Sarrazin-Lesungsrekord, 12 Euro Eintritt, 2.500 Menschen." Zum selben Thema stellt Ulrich Gutmair (sich als) Walter vor, Durchschnittsleser von "Deutschland schafft sich ab". In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne fragt Doris Akrap nach der Bedeutung vom Himmel fallender Vögel.

Besprochen werden Roger Michells Komödie "Morning Glory", und Bücher, darunter William Boyds Biografie des erfundenen Künstlers "Nat Tate" und einen Sammelband zur Gesellschaftskritik in der Fernsehserie "Buffy the Vampire Slayer" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 15.01.2011

Urs Hafer gratuliert den "größenwahnsinnigen Humanisten" von der Wikipedia zum zehnjährigen Bestehen: "Als wahr gilt nicht länger, was eine - staatliche, kirchliche - Autorität als wahr deklariert, sondern worauf sich die Autoren im 'herrschaftsfreien Diskurs' einigen (sofern sie sich nicht, was immer wieder vorkommt, im Streit verzetteln). Das Wissen eines jeden zählt, neues Wissen kann das alte sogleich ersetzen; Dogmen haben es schwer."

Barbara Lehmann stellt das weißrussische "Freie Theater" vor, das seit fünf Jahren unter der Leitung von Natalja Koljada und Nikolai Chalesin im Minsker Untergrund operiert und derzeit in New York für Solidarität mit der weißrussischen Opposition wirbt: "Natalja Koljada wirft den deutschen und polnischen Außenministern vor, Lukaschenko vor den weißrussischen Wahlen den Rücken gestärkt zu haben. Auf diese Weise, betont sie mehrfach, war das rücksichtslose Vorgehen gegen die Oppositionellen erst möglich."

Weitere Artikel: Peter Hagmann besucht das unter Marek Janowski wieder aufgeblühte Orchestre de la Suisse Romande in Genf. Ihren digitalen Alltag beschreibt heute die New-Yorker-Redakteurin Mary Hawthorne.

In Literatur und Kunst schreibt Lorenzo Bellettini über die beiden Fin-de-siecle-Autoren Arthur Schnitzler und Jakob Wassermann. Georg Imdahl untersucht den Erfolg von Großausstellungen.

Besprochen werden die große Napoleon-Schau in der Bonner Kunsthalle, und Bücher, darunter Neues von und über Peter Handke, der Sammelband "Rhetorik des Sichtbaren", Mario Fortunatos Roman "Unschuldige Tage im Krieg", Erick Hackls Erzählung aus der Mitte "Familie Salzmann" sowie Silvina Ocampos und Adolfo Bioy Casares' Kriminalroman "Der Hass der Liebenden" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 15.01.2011

In der Literarischen Welt werden auf einer Doppelseite Briefe von Helmuth James und Freya von Moltke vorabgedruckt, die gerade bei Beck erscheinen. Der George-Biograf Thomas Karlauf feiert sie als ein großes Zeugnis deutscher Briefliteratur: "Stellenweise beängstigend unheimlich ist der fast telepathische Gleichklang dieser Briefe. Das Dritte Reich schrumpft auf ein Nichts, das Allerprivateste wird zum Ereignis."

Außerdem in der Literarischen Welt: Michael Kleeberg bespricht John Udikes Roman "Die Tränen meines Vaters" Ruth Klüger schreibt über Isabel Allendes neuen Roman "Die Insel unter dem Meer". Fritz J. Raddatz liest die Briefe Albert Vigoleis Thelens.

Im Feuilleton wundert sich Sascha Lehnartz über die reichlich maue Reaktion französischer Intellektueller und Politiker auf die Demokratiebewegung in Tunesien (das "Indignez-vous" spart man sich halt für die Rente mit 62 auf). Manuel Brug freut sich, das die amerikanische TV-Serie "Glee" über eine College-Musical-Truppe nun auch nach Deutschland kommt - der Pilotfilm läuft morgen auf RTL. Alan Posener trifft Dani Levy in einem Berliner Grillhaus

Und Henryk M. Broder stellt die dänische Aktivistin und Malerin Nadia Plesner vor, die sich von Picassos "Guernica" zu einem Monumentalgemälde namens "Darfurnica" hat inspirieren lassen - bekannt wurde sie, weil sie auf ihren Gemälden in kritischer Absicht auch ab und zu Louis-Vuitton-Taschen zeigt, wofür der Konzern LVMH sie mit drakonischen Urheberrechtsklagen traktierte. Und der Kampf geht weiter: "In der Mitte von Darfurnica erkennt man einen kleinen schwarzen Jungen mit einem Hund im rechten Arm und einer nachgemachten Louis-Vuitton-Tasche in der linken. Mal schauen, wie lange es dauern wird, bis sich Louis Vuitton wieder bei Nadia Plesner meldet. Diesmal hoffentlich mit einer nennenswerten Spende für Darfur."

FR, 15.01.2011

Mely Kiyak beklagt die äußerst unzureichende Repräsentation von Migranten in den einschlägigen Sammlungen der zeithistorischen Museen: "Was bleibt, wenn niemand erzählt? Die Schilderung des Lebens der Gastarbeiter und ihrer Nachkommen ist zum von Denunziation geprägten Diskurs verkommen, in dem die bloße Behauptung kultureller Vielfalt als Provokation empfunden wird. Wie sollen sich die Kinder der Gastarbeiter in Deutschland als Deutsche verorten, wenn sie aus der deutschen Geschichtsschreibung herausdividiert werden?"

Weitere Artikel: Brigitte Fehrle fordert die Grünen auf, zu ihren Wurzeln als Dorfpartei zurückzukehren und die ihnen zuwachsende neue Verantwortung anzunehmen. In einer "Times Mager" schreibt Sylvia Staude über Mord, Gewalt, Hinrichtung in viktorianischen und anderen Zeiten.

Besprochen werden ein Konzert von La Brass Banda in Offenbach, Stephan Kimmigs Frankfurter Inszenierung von Artur Schnitzlers "Liebelei", das in Berlin uraufgeführte Udo-Lindenberg-Musical "Hinterm Horizont", ein Frankfurter Konzert der Academy of St. Martin in the Fields unter Neville Marriner mit Berlioz und Mozarts C-Dur-Klavierkonzert KV 503 mit Martin Helmchen als Solisten, in einem essensmoralischen Schwerpunkt John Laymans und Rob Guillorys Comic "Chew - Bulle mit Biss" und Karen Duves Buch zum selben Thema "Anständig essen", außerdem noch John Updikes letzte Erzählungen "Die Tränen meines Vaters" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 15.01.2011

Alex Rühle taucht mit Hilfe zweier Bücher in das junge Phänomen der Street Art und freut sich besonders an den winzigen Figuren des Künstlers Slinkachu (Bilder), die dieser aufstellt um sie zu fotografieren und dann alleine lässt: "Ein Miniatur-Superman beim Fischen, in einer kleinen Pfütze, ein Mann, der auf eine im Vergleich zu ihm monstergroße Hummel ein Gewehr anlegt, ein winziger Skateboardfahrer, der aus einer Orangenschale eine steile Halfpipe macht.

Weitere Artikel: Der britische Journalist Martin Jacques, der auch schon als Gastprofessor in Peking lehrte, hält es für fatal, dass der Westen China stets nur mit westlichen Augen betrachtet. Andrian Kreye erkennt in der Wikipedia, die ihren zehnten Geburtstag feiert, eine crowdgesourcte Kraft, die Gutes will und Wissen schafft. Zur Eröffnung des neuen großen Kabarett-Veranstaltungsorts "Stadtsaal" in Wien fragt Matthias Waha nach dem Stand des posthaderschen Kabaretts in und aus Österreich. Alexander Menden begrüßt Katharina Fritschs "Hahn" auf dem Kunstsockel des Trafalgar Square. Die Bayerischen Filmpreise für Hannelore Elsner, Tom Tykwer et. al. meldet Fritz Göttler. Jörg Häntzschel schreibt zum Tod der Theatermacherin Ellen Stewart, in deren "La MaMa Experimental Theater Club" die Karrieren von Robert De Niro, Al Pacino und anderen ihren Ausgang nahmen.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende warnt Petra Steinberger die Babyboomer davor, den Generationenvertrag aufzukündigen. Harald Hordych recherchiert zu Menschen, die aus der Großstadt in ihre Heimatdörfer und -Kleinstädte zurückgekehrt sind. Auf der Gegenwart-Seite gehts ums Duzen und Siezen in Zeiten bis ins höhere Alter verlängerter Jugend. Auf der Historien-Seite erinnert Joachim Käppner an die blutigen Seiten des Kommunismus. Marie Pohl unterhält sich mit Hollywoodstar Jake Gyllenhaal über Geschmack und seine Vorliebe für die deutsche Wurst: "Bratwurst, Bockwurst, Knackwurst. Aber am liebsten mag ich Weißwurst."

Besprochen werden Stephan Kimmigs Frankfurter Inszenierung von Schnitzlers "Liebelei", Bettina Ehrhardts Porträtfilm "Kent Nagano. Montreal Symphony" und Bücher, darunter zwei Bände zur Street Art und Georges-Arthur Goldschmidts Kafka-Annäherung "Meist wohnt der den man sucht nebenan" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 15.01.2011

Im Streit um Goethes Einstellung zum Islam erinnert der Literaturprofessor Wolfgang Frühwald daran, dass es sich biem "Divan" um "Dichtung, nicht Wahrheit" handelt, und schließt: "Natürlich hat Goethe - der geschworene Gegner des Krieges - um die Problematik der Ausbreitung eines Glaubens durch Feuer und Schwert gewusst, er hat Mohammed, den Propheten, mit Napoleon verglichen und ihn trotzdem mit großem Respekt behandelt."

Weiteres: Daniel Haas schafft es nicht wirklich, den Erfolg der derzeitigen Bestseller von Tommy Jaud, Dora Heldt und Kerstin Gier zu erklären. Mark Siemons meldet in der Randspalte, dass Chinas Machthaber das Wort "Zivilgesellschaft" verboten haben, immerhin noch nicht die Sache selbst. Jürgen Dollase erklärt die konkrete Kochkunst des Massimo Bottura. Auf der Medienseite beobachtet Ralph Martin, dass in den USA Chöre groß in Mode gekommen sind. Friederike Haupt unterhält sich mit Versehrten des Dschungelcamps.

Besprochen werden Stephan Kimmigs Inszenierung von Schnitzlers "Liebelei" im Schauspiel Frankfurt, das Udo-Lindenberg-Musical "Hinterm Horizont" in Berlin, eine Retrospektive für Albert Anker im Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten in Winterthur, ein Album der Songwriterin Anna Calvi sowie Marc-Andre Hamelins Einspielung von "12 Etuden in allen Molltonarten". Und Bücher, darunter Peter Kurzecks frei erzähltes Hörbuch "Mein wildes Herz", William Gaddis' Roman "JR" und Nicole Krauss' Roman "Das große Haus" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In Bilder und Zeiten beschreibt Dieter Bartetzko, wie beim Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt vorgegangen wird und welche Rolle dabei Spolien spielen. Werner Spies erinnert an die Künstlerin Luise Straus, in Dadaistenkreisen auch unter dem Künstlernamen Armada von Duldgedalzen bekannt. Und Marco Schmidt hat sich (im September) mit Senta Berger beim Filmfestival von San Sebastian unterhalten.

In der Frankfurter Anthologie stellt Dieter Lamping Erich Kästners Gedichte "Lessing" vor:

"Das, was er schrieb, war manchmal Dichtung,
doch um zu dichten schrieb er nie.
Es gab kein Ziel. Er fand die Richtung..."