Heute in den Feuilletons

Am Abgrund nervenstark

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.12.2010. In der FR empfiehlt Timothy Garton Ash etwas weniger Hysterie und Dogmatismus und etwas mehr Pragmatismus in der Integrationsdebatte. Die FAZ guckt zum 150. Geburtstag auf Italien und findet: immer noch die fidelste Suite im europäischen Haus. Die taz lernt einiges über Onlinebanking beim Kongress des Chaos Computer Clubs.

Aus den Blogs, 30.12.2010

Bestürzt lesen wir, dass der unvergleichliche Dennis Dutton tot ist. Der Philosoph und Gründer von Arts and Letters Daily, der immer wieder gegen den intellektuellen Mainstream bürstete, starb in den Weihnachtstagen im Alter von 66 Jahren an Krebs. In seinem Nachruf im New Yorker schreibt zum Beispiel Blake Eskin: "Through Arts & Letters Daily, Denis helped prove that the Web could be a platform not only for fast-paced celebrity gossip and pictures of cute animals but for long and serious writing and the exchange of complex ideas." Es trauern aber auch die LA Times, Slate oder 3Quarksdaily. Auf Ted Talk gibt es seinen Vortrag zu Schönheit und Evolution.

Thomas von der Osten-Sacken zitiert aus einem Kommentar des ARD-Journalisten Ulrich Pick zu den beiden Journalisten Marcus Hellwig und Jens Koch, die im Iran gegen alles Völkerrecht festgehalten werden: "Die Reise der beiden deutschen Reporter in den Iran war ein Unterfangen, bei dem bewusst mit dem Feuer gespielt wurde. Kein erfahrener Journalist fährt in die Islamische Republik, um dort ohne Pressevisum und Akkreditierung - sozusagen auf Schleichwegen - eine Geschichte zu recherchieren, die weltweit für Empörung gesorgt und das dortige Regime einmal mehr in Misskredit gebracht hat." Kommentar Osten-Sacken: "Damit erklärt Kollege Pick dankenswerterweise gleich erstmal über die Arbeitsgrundlage seiner Anstalt auf: immer mit Touristenvisum und ganz legal! Dass guter Journalismus nicht so funktionieren kann, wenn es um Folterstaaten wie den Iran geht, wen kümmert's."

NZZ, 30.12.2010

Stefan Dornuf erinnert an den Schriftsteller Paul Bowles, der vor hundert Jahren geboren wurde. Besprochen werden eine Ausstellung ägyptischer Totenbücher im British Museum in London, ein Bildband der Fotografin Leah Gordon über den Karneval von Jacmel in Haiti.

Für die Filmseite gibt Susanne Ostwald eine Vorschau auf das mit Mike Leighs "Another Year" beginnende Kinojahr 2011. Bettina Spoerri hat sich Tom Tykwers Beziehungsfilm "Drei" und dessen Schweizer Counterpart, Barbara Kulcsars "Zu zweit", angesehen. Online hat Christian Jungen eine Liste der zehn besten Filme des Jahres zusammengestellt, zu denen er neben "Gainsbourg" von Joann Sfar und "Des hommes et des dieux" von Xavier Beauvois übrigens auch "Die Fremde" von Feo Aladag zählt.

FR, 30.12.2010

Die Vorstellung, Europa könnte rassistisch werden, findet Timothy Garton Ash leicht hysterisch. Aber etwas mehr tun könnte man in Sachen Integration schon, meint er im Interview: "Die Lage ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. In Großbritannien zum Beispiel ist die kulturelle, die bildungspolitische Integration deutlich schwächer als in Frankreich. Dafür aber gibt es weniger Rassismus auf dem Arbeitsmarkt. Abdelaziz bekommt in Großbritannien seine Vorstellungsgespräche. Wir sollten uns umschauen in Europa und uns aus Amsterdam, London, Paris usw. das jeweils beste herausnehmen. Es gibt kein System, das man pauschal übernehmen könnte."

Weiteres: Werner Girgert erzählt, wie knapp Istanbul daran vorbeigeschrammt ist, im Kulturhauptstadtjahr den Welterbestatus einzubüßen. Besprochen werden Stephen Frears Filmkomödie "Immer Drama um Tamara", Frederick Wisemans Dokumentarfilm "La Danse - Das Ballett der Pariser Oper" und Birger Priddats Buch "Kleingeld" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 30.12.2010

Paul Badde besucht Pompeji, das durch Misswirtschaft und Dauerregen zuletzt arg in Mitleidenschaft gezogen wurde. Vom Musikexpress wird ein Interview mit dem Elektropop-Duo The Hurts übernommen, die voriges Jahr noch auf dem Arbeitsamt herumhingen und in diesem Band des Jahres wurden. Und Tilma Krause widmet Paul Bowles eine Hommage, der heute hundert Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden Massy Tadjedins Kammerspiel "Last Night" und Ari Libskers Dokumentation "Pornografie und Holocaust" über die seltsame israelische Mode der "Stalag"-Hefte in den sechziger Jahren.

TAZ, 30.12.2010

Meike Laaf berichtet über den 27. Kongress des Chaos Computer Clubs, auf dem unter dem Motto "We come in Peace" mehr Nerd-Lobbyismus gefordert und mit Hacks vornehmlich auf Sicherheitslücken aufmerksam gemacht wurde: "Wer jetzt noch SMS zur Authentifizierung für Onlinebanking nutzt, hat den Knall noch nicht gehört."

Weitere Artikel: Christian Werthschulte erklärt uns das ehemalige Underground-Genre Dubstep, das es inzwischen in die Charts geschafft hat, und stellt CDs unter anderem von Darkstar, Addison Groove und Ramadanman vor.

Besprochen werden Ari Libskers Dokumentarfilm "Pornografie & Holocaust" über die Geschichte der Stalag-Hefte, Stephen Frears' Film "Immer Drama um Tamara", Johnnie Tos Film "Vengeance" mit Johnny Hallyday und Sylvie Testud auf DVD und zwei Bücher, in denen die Provinz zum Thema wird: Moritz von Uslars Recherche "Deutschboden" und Andreas Maiers Roman "Das Zimmer" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

FAZ, 30.12.2010

Italien feiert mit Beginn des neuen Jahres seinen 150. Nationalstaatsgeburtstag. Allerdings nicht sehr laut, eher skeptisch, stellt Dirk Schümer fest. Überhaupt sei nationaler Überschwang nie so recht die Sache dieses Staats gewesen: "Ist der starke Staat nach hegelschem Muster vielleicht trotz aller Sehnsüchte gar keine Option für die Zukunft? Ist stattdessen gar das unverwüstlich vor sich hin kränkelnde Italien ein Modell? Im Ausland weiß man bei aller Häme: Italien ist im europäischen Haus immer noch die fidelste und am schönsten möblierte Suite mit exquisiter Kochnische. Und es kam, am Abgrund nervenstark geworden, bisher durch jede Krise achtbar hindurch."

Weitere Artikel: Der Klimaforscher Anders Levermann erklärt, dass vermutlich sogar der aktuelle Winter Folge der Klimaerwärmung ist - und er prognostiziert, dass es zur für 2200 vorhergesagten globalen Temperaturerhöhung um acht Grad sicher nicht kommen wird, weil die Weltgesellschaft vorher zusammenbricht. Im Prinzip freut sich Andreas Platthaus über den Boom der Comics, die jetzt Graphic Novel heißen, findet aber, dass nicht alles Gold ist, was da derzeit glänzt. Sachlich falsch scheint in der Glosse Thomas Ewald der Begriff des "Ferienkommunismus", mit dem ein Festival in Lärz für sich wirbt. Paul Ingendaay erinnert zu dessen 100. Geburtstag an den Schriftsteller Paul Bowles. Zum Tod des Kunst- und Architekturhistorikers J. A. Schmoll gen. Eisenwert schreibt Dieter Bartetzko. Auf der Medienseite schreibt Jürgen Kaube knapp zum Tod des Arts & Letters Daily-Gründers Denis Dutton. Auf der Kinoseite gibt es eine Sammlung unvergesslicher Filmmomente des so gut wie vergangenen Jahres. 

Besprochen werden eine Rodney-Graham-Retrospektive in der Hamburger Kunsthalle, eine Neueinspielung der Vivaldi-Oper "Ercole sul Termodonte", und Bücher, darunter Cesar Airas Roman "Gespenster" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 30.12.2010

Kurz vor Beginn des Kleist-Jahrs 2011 denkt Jens Bisky über das Verhältnis von Heinrich von Kleist, Heiner Müller, DDR und manches andere nach. Für gründlich gescheitert hält Catrin Lorch den Umbau eines alten Industriegebäudes zum Kulturzentrum namens U in Dortmund. Auf der Kinoseite sammeln SZ-Kritiker ihre "Magic Moments" sowie Lust- und Frustfilme des Jahres. Karl Otmar von Aretin schreibt zum Tod des SZ-Journalisten Albert Wucher. Auf der Medienseite porträtiert Claudia Tieschky den Arte-Gründer Jerome Clement, der nach zwanzig Jahren seinen Abschied vom Sender nimmt.

Besprochen werden Ari Libskers Film "Pornografie und Holocaust" (mehr), Frederick Wisemans Dokumentarfilm "La danse" (mehr), und Bücher, darunter die beiden neuen Enzensberger-Bücher (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 30.12.2010

Im Feuilleton untersucht Michael Maar das Verhältnis zwischen Heinrich und Thomas Mann. Abgedruckt ist der offene Brief des iranischen Filmregisseurs Rafi Pitts an Ahmadinedschad wegen des Urteils gegen Jafar Panahi. Gegen das Urteil erhebt sich inzwischen auch internationaler Protest, berichtet Christoph Siemes. E. L. Doctorow, dessen Roman "Homer & Langley" gerade auf Deutsch erschienen ist, sagt im Interview: "Es passiert mir immer wieder, dass sich ein Buch aus einem Satz entwickelt. Ich schreibe, um herauszufinden, was hinter dem Satz steht." Jens Jessen liest neue Biografien über Cicero und Augustus und entdeckt dabei deutliche Parallelen zur Gegenwart. Florian Illies will sich im Aufmacher nicht entspannen, weil das nur für neue Leistungen optimieren soll. Die Fußballhelden der Gegenwart haben damit kein Problem, meint Peter Kümmel. Alfred Brendel gibt im Interview eine Callas-würdige Antwort auf die Frage, ob er nach seinem Rückzug nicht einen Niedergang der Orchesterkultur befürchtet: "Es werden sich schon ein paar große Komponisten und einige Interpreten finden, die die Musik weiterführen." Und auf der "Glauben und Zweifeln"-Seite hält Christoph Hein eine Neujahrsansprache an die Jugend.

Besprochen werden die Verfilmung von Allen Ginsbergs Gedicht "the Howl" durch Rob Epstein und Jeffrey Friedman mit James Franco in der Hauptrolle (Detlef Kuhlbrodt reagiert darauf mit einem: ja, aber...), die Ausstellung des Malers Eberhard Havekost in der Dresdner Kunsthalle im Lipsiusbau, die Ausstellung "Von Carl Andre bis Gregor Schneider. Dorothee und Konrad Fischer: Archiv einer Haltung" im Museum Kurhaus Kleve, Matthias Hartmanns Inszenierung von "Was ihr wollt" am Wiener Burgtheater und Bücher, darunter Colm Toibins Roman "Brooklyn" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf den vorderen Seiten porträtiert Özlem Topcu die türkische Schriftstellerin Pinar Selek, die aus der Türkei fliehen musste, um einer erneuten Verhaftung zu entgehen (mehr hier). Das Dossier ist Jean Ziegler gewidmet, der träumt: "Ich bin ein weißer Neger". Ein Bericht über die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Julian Assange steht über einer Anzeige für VW, in der Karl Lagerfeld erklärt: "Endlich mal ein Model, das keine Zicken macht."