Heute in den Feuilletons

Der gestisch verteilte Farbstoff

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.12.2010. Im Freitag kritisiert der Wikileaks-Dissident Daniel Domscheit-Berg die jüngste Veröffentlichungspolitik seines jüngsten Arbeitgebers. In der Zeit stellt er klar, dass ihm zwar Transparenz in der Organisation, aber mehr noch überall sonst fehlt. Würde ein Medium spo angegriffen wie Wikileaks, dann würden die Medien aber laut schreien, meint Neunetz. Mario Vargas-Llosas Nobelpreisrede spaltet die Feuilletons: Der SZ ist sie zu phrasenhaft und nicht links genug. Die FAZ lobt ihre politische Weitsicht. In der Zeit outet die des Zickenkriegs bezichtigte Alice Schwarzer die wahren Meister des Genres. In der taz lässt Ai Weiwei kein gutes Haar an Liu Xiaobo.

Freitag, 09.12.2010

Wikileaks-Aussteiger Daniel Domscheit-Berg kritisiert im Interview die jüngste Veröffentlichungspolitik von Wikileaks: Die Diplomaten-Depeschen "werden eben nicht für alle schrittweise veröffentlicht, sondern Wikileaks hat die Daten einigen Medien vorab exklusiv gegeben. Die haben nun einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den anderen - die natürlich wiederum versuchen, über irgendwelche Kanäle auch an den kompletten Datensatz heranzukommen. So entsteht ein Markt, auf dem die Dateien für Geld gehandelt werden." An seiner grundsätzlichen Solidarität mit Wikileaks lässt Domscheit-Berg aber keinen Zweifel, und er erklärt sein neues Projekt Openleaks.

Für Freitag-Redakteur Lutz Herden ist schon Wikileaks jetzige Veröffentlichungspolitik ein Alptraum: "Wer Afghanistan-Diplomatie mit der Auflage absoluter Transparenz beglückt, kann sie auch gleich lassen. Nur wenn sich Konfliktparteien, aus denen Verhandlungspartner werden sollen, darauf verlassen können, dass Diskretion nicht in Durchstecherei mündet, kann ernsthaft verhandelt werden."

Außerdem: Der heute in Israel lebende Berliner Arye Sharuz Shalicar erzählt im Interview, wie es war, als Jude in einer muslimischen Gang im Wedding groß zu werden (er hat darüber auch ein Buch geschrieben, "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude"). Online lesen dürfen wir ein Porträt der Turner-Preis-Gewinnerin Susan Philipsz, die Besprechung einer Ausstellung zu Goethes Farbenlehre im Nationalmuseum Weimar und Ulrike Baureithels Kommentar zum Stand der Feminismus-Debatte.

Aus den Blogs, 09.12.2010

Warum wird Wikileaks attackiert nicht aber das Medienkonsortium, das die Depeschen ebenfalls veröffentlichte?, fragt Marcel Weiss in einem längeren Essay zur Affäre in Neunetz: "Die Tatsache, dass WikiLeaks aktuell so vehement von allen Seiten angegriffen werden kann und etwa die finanziellen Transaktionsmöglichkeiten abgeschnitten werden können, ist nur möglich, weil nicht die komplette Presse hinter WikiLeaks steht, wie sie hinter einer NYT oder einem Guardian stehen würden, deren Bankkonten plötzlich überall aufgelöst würden."

Die "Winklevoii"-Zwillinge verklagen Facebook schon wieder, meldet Gawker. Sie wollen noch ein bisschen mehrals die 65 Millionen Dollar, die sie schon bekommen haben.
Stichwörter: Facebook, Gawker, Guardian

TAZ, 09.12.2010

In einem Gespräch kritisiert der chinesische Künstler Ai Weiwei das Elitäre mancher Dissidenten und wirft dem inhaftierten Liu Xiaobo, der morgen in Oslo mit dem Friedensnobelpreis geehrt wird, vor, Akademiker wie er sorgten sich nicht um einfache Menschen. "Solche Manifeste kommen selbst aus einer kulturellen Elite, die normalerweise keine Verbindung zum täglichen Überlebenskampf der Menschen hat. Das ist das Problem der Charta 08. Die Gruppe um Liu, welche die Charta 08 verfasste, besteht vor allem aus Akademikern, die sich nicht wirklich darum sorgen, was im schwierigen Alltag der Menschen passiert, wie etwa kürzlich das Großfeuer in Schanghai, das Erdbeben in Sichuan 2008 oder die Bergbauunglücke. Solche Probleme werden nicht allein durch Demokratisierung beseitigt, sondern müssen direkt angegangen werden." Der Sinologe Martin Winter porträtiert den Friedensnobelpreisträger und seine politische Arbeit.

Die Wahrheit hält jede Demokratie aus, meint Ingo Arend im Kulturteil, aber der Umgang mit Wikilieaks-Gründer Julian Assange sei schon eine echte Prüfung: "Beängstigender als der scheinbare 'Geheimnis'-Verrat ist der Umgang mit seinen Urhebern. Amazon kickt Wikileaks vom Server, plötzlich werden, mir nichts, dir nichts, unliebsame Websites gesperrt. Und amerikanische Politiker fordern ernsthaft die Hinrichtung des Gründers der Organisation, Julian Assange. "

Weiteres: Im Kulturteil unterhalten sich Stefan Reinecke und Christian Semler mit dem Historiker Ulrich Herbert, der das Buch "Das Amt und die Vergangenheit" gegen seine Kritiker verteidigt. Micha Brumlik schickt Reisenotizen aus Israel und dem Westjordanland. Tim Caspar Boehme stellt zum Tourstart das Duo Tanlines aus Brooklyn vor, das eine Kombination aus experimentellem Synthie-Pop, Indie-Rock und Ghetto-Tech spielt. Besprochen wird die Retrospektive "Future Beauty" über 30 Jahre japanische Mode in der Londoner Barbican Gallery. Auf der Medienseite beschreibt Benjamin Weber die Auswirkungen der ARD-Programmreform auf Dokumentarfilme.

Und Tom.

Jungle World, 09.12.2010

Oliver Piecha und Thomas von der Osten-Sacken berichten, wie gereizt die Potentaten im Nahen und Mittleren Osten auf die Wikileaks reagieren. "Die Vorfreude darüber, dass Wikileaks nun die 'dunkle Seite' des amerikanischen Imperialismus enthüllen werde, verwandelte sich in den Hauptstädten der Region binnen Stunden in Panik. Es spricht Bände, dass etwa dem in Katar ansässigen Fernsehsender al-Jazeera untersagt wurde, über den Inhalt der Dokumente zu berichten."

Total sozialdemokratisch findet Cord Riechelmann die Kritik am
Manifest "Der kommende Aufstand" vor allem von Johannes Thumfart, dessen Namen zu nennen er sich allerdings weigert. Und Demokratie findet Riechelmann auch nicht so toll: "Es ist nun aber eine Lehre nicht nur der deutschen Geschichte, dass Demokratien weder Cäsaren noch Diktaturen verhindern. Denn wer bekennt sich heute uneingeschränkt zur Demokratie? Zu nennen wären da zum Beispiel solche Hochsympathen wie Jean Marie Le Pen und Silvio Berlusconi." (Hier die Links zur Debatte)

NZZ, 09.12.2010

Der Jesuit Albert Ziegler möchte klargestellt sehen, dass der Papst nicht verbietet und nicht erlaubt, sondern den Willen Gottes "verbindlich auslegt". Uwe Justus Wenzel denkt über die Unsterblichkeit nach und die entsprechenden Sekten des Bio-Engineering.

Besprochen werden auf der Filmseite Jürg Erbs Komödie "Liebling, lass uns scheiden" und Disneys animierter Weihnachtsfilm "Rapunzel", Wagners "Walküre" als Saisonauftakt an der Mailänder Scala, die Erinnerungen der Atatürk-Gefährtin Halide Edip Adivars "Mein Weg durchs Feuer" und Hugo Dittberners Roman "Das See-Vokabularium" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 09.12.2010

Hans-Joachim Müller betrachtet in der Albertina die neuesten Berglandschaften des an sich durch wilde Abstraktion bekannten Herbert Brandl und lernt retrospektiv, dass "stets übersehen worden ist, wie viel die vermeintlich freien Kompositionen dem Landschaftseindruck verdanken, und wie leicht und unmerklich sich der gestisch verteilte Farbstoff wieder in Berge und Täler zurückverwandeln kann".

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings fand Mario Vargas Llosas Nobelpreisrede zwar reichlich phrasenhaft, lobt aber seine kritischen Äußerungen zur Behandlung der Ureinwohner in Laterinamerika. Alan Posener extemportiert aus Anlass der Wikileaks-Debatte über den Typus der Verräters, kommt aber zu dem Ergebnis dass ihm Julian Assange gar nicht zuzurechnen ist. Dankwart Guratzsch empfiehlt das organisatorische Modell der Hamburger Hafencity als Vorbild für die neuen Wohnbauten von "Stuttgart 21". Thomas Kielinger singt ein Loblied auf die britische Presse, die kurz vor der Vergabe der WM-Entscheidungen Korrutionsvorwürfe gegen die Fifa lancierte und damit die Chancen des eigenen Landes maßgeblich schmälerte.

Besprochen werden eine "Walküre" unter Daniel Barenboim an der Scala und Hans Petter Molands Film "Ein Mann von Welt" (mehr hier).

Weitere Medien, 09.12.2010

Der Guardian berichtet von weiteren enthüllten Depeschen. Es geht um Nepotismus in Kenia, Eritreas Diktator und die Rolle des Ölmultis Shell in Nigeria: "The oil giant Shell claimed it had inserted staff into all the main ministries of the Nigerian government, giving it access to politicians' every move in the oil-rich Niger Delta, according to a leaked US diplomatic cable."
Stichwörter: Guardian, Nigeria, Kenia, Niger

FR, 09.12.2010

Peter Michalzik erzählt in der Leitglosse, wie sich die gesamte FR-Kulturfraktion beim betrieblichen Weihnachtsfest am "Kommenden Aufstand" wärmte. Harry Nutt versucht, die bisherige Auswärtige Kulturpolitik Guido Westerwelles zu ergründen - stößt aber nur auf eine private Kunstsammlung des Außenministers, die jetzt in seinen Amtsräumen hängt, und Streichungen beim Goethe-Institut. Stefan Reisner berichtet, dass das Forum Zeitgenössischer Musik in Leipzig tatsächlich einen Kompositions-Wettbewerb zum Thema "Fast Food" ausgeschrieben hat.

Auf der Medienseite meldet Ralf Mielke, dass ein spielsüchtiger Mitarbeiter den öffentlich-rechtlichen Kinderkanal KiKa durch gefälschte Rechnungen um vier Millionen Euro erleichtert hat.

Besprochen werden der Beatles-Film "Nowhere Boy", Artur Beckers Roman "Der Lippenstift meiner Mutter" und Berlioz' "Trojaner" an der Deutschen Oper Berlin.

SZ, 09.12.2010

Anlässlich des Haftbefehls für Julian Assange informiert Thomas Steinfeld über schwedische Rechtsprinzipien zum Thema Vergewaltigung: "Im Jahr 2005 wurden die Sexualverbrechen nämlich juristisch neu gefasst. Seitdem gibt es drei Kategorien für Vergewaltigungen (schwer, mittel, minder schwer), wobei vor allem der Begriff 'Zwang' neu definiert wurde: Als Zwang gilt nun, wenn der Täter sich den hilflosen Zustand seines Opfers zunutze macht, und sei es, dass dieses schliefe. Außerdem wird der Begriff der 'Drohung' so weit gefasst, dass das Opfer sich nicht wehren muss, damit aus einer Belästigung eine Vergewaltigung wird - es reicht aus, wenn eine Drohung empfunden wird. Die Neufassung dieser Paragraphen hat zur Folge, dass die 'sexuelle Nötigung' in Schweden nun als Vergewaltigung gilt."

Alles andere als begeistert zeigt sich Burkhard Müller von Mario Vargas Llosas Nobelpreisrede. Weder die "übertriebene Emphase" noch Llosas politische Haltung überzeugte ihn: "Ausdrücklich noch einmal sagt Vargas Llosa dem Marxismus ab, der Verirrung seiner unreifen Jugend, rühmt die Fortschritte in Lateinamerika und verdammt lediglich die Entwicklung in den linken Ländern Kuba, Venezuela, Bolivien und Nicaragua. Dass in allen von ihnen außer Kuba die Regierung demokratisch gewählt wurde, beirrt ihn nicht; 'lachhafte populistische Pseudodemokratien' nennt er sie."

Weitere Artikel: Gerhard Matzig porträtiert das für energieeffizientes Bauen bekannte deutsche Architekturbüro AS&P (Albert Speer und Partner), das den Stadienbau in Katar engagiert worden ist. Kai Strittmatter meldet, dass der deutsch-türkische Autor Dogan Akhanli zwar nicht freigesprochen, aber aus der Haft entlassen wurde und nach Deutschland ausreisen kann. Auf der Kinoseite erinnert sich der Schriftsteller Wolf Wondratschek, wie er zu seiner Überraschung als Drehbuchautor in den Abspann von Werner Schroeters Film "Regni di Napoli" geriet - Anlass ist eine dem Regisseur gewidmete Werkschau im Pariser Centre Pompidou. Auf der Medienseite schildert Michael Frank die schwere Krise des ORF.

Besprochen werden die "Walküre" an der protestumtosten Mailänder Scala (Egbert Tholl findet Daniel Barenboims Interpretation famos, die des Regisseurs Guy Cassiers aber nicht), zwei vom Hamburger Ballett neu aufgelegte Klassiker von Jerome Robbins, neu anlaufende Filme, darunter Sam Taylor-Woods John-Lennon-Film "Nowhere Boy" und Gareth Edwards "Monster" und Bücher, darunter die erstmals vollständige deutsche Übersetzung von Roland Barthes' "Mythen des Alltags" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 09.12.2010

Die Nobelpreisrede von Mario Vargas Llosa fasst Paul Ingendaay zusammen, der staunt, was darin so alles vorkam, ohne dass sie deshalb wirklich überfrachtet gewesen wäre: "Es ist fraglich, ob schon irgendein bisheriger Literaturnobelpreisträger in seiner Rede so viele Weltübel genannt hat, ohne wie ein Griesgram, Pessimist und Trauerkloß zu wirken. William Faulkner sagte 1949 in seiner sehr kurzen Rede, es gebe keine Probleme des Geistes mehr, sondern nur noch die Frage: 'Wann werde ich in die Luft fliegen?' Da arbeitet Vargas Llosa einen ganz anderen Gefahrenkatalog durch: Diktatur, Militarismus, Holocaust, Genozide allgemein, Vernichtungskriege, Unterdrückung, Staatszensur, religiöser Wahn, Terrorismus."

Weitere Artikel: Der Jurist Peter Rawert warnt davor, sich von einer von Heiner Geißler ins Spiel gebrachten öffentlichen Stiftung für Stuttgart 21 zu viel - oder auch nur einiges - zu versprechen. Für keine gute Idee hält es in der Glosse Andreas Rossmann, das Düsseldorfer Gaslicht durch energieeffizientere Beleuchtungstechniken zu ersetzen. In deutschen Zeitschriften liest Ingeborg Harms unter anderem einen im Wespennest erschienenen Aufsatz von Kenan Malik über die "selbstgemachte westliche Einschüchterung durch islamischen Radikalismus". Von einer Tagung in Esslingen zum Thema kommunales Gedächtnis berichtet Martin Otto.

Besprochen werden der zweite Abend des "Ring" mit Guy Classiers und Daniel Barenboims "Walküre" an der Mailänder Scala (Julia Spinola ist enttäuscht, schreibt aber ohnehin mehr von den Protesten gegen die italienische Opern- und Kulturpolitik), Dominique Schnizers Heidelberger Inszenierung von Eva Rottmanns Stück "Unter dem Dach", eine Ausstellung mit Werken des früh verstorbenen israelischen Künstlers Absalon in den Berliner Kunst-Werken, die Ausstellung "Epic of the Persian Kings" im Fitzwilliam Museum in Cambridge, Silvio Soldinis Film "Was will ich mehr" eine CD-Edition zur Erinnerung an die vor fünfzig Jahren verstorbene Pianistin Clara Haskil, und Bücher, darunter Nina Jäckles kurzer Roman "Sevilla" und der Band "Spuren" mit Material zum Dokumentarregisseur Thomas Heise (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 09.12.2010

Für's Dossier besuchte Stephan Lebert Alice Schwarzer. Die Bestimmheit der Schwarzer ist ihm nicht geheuer. Und was ist mit der ihr immer wieder gern vorgeworfenen Stutenbissigkeit? Darauf Schwarzer: "Nehmen Sie nur das berühmte Foto der drei SPD-Herren Scharping, Schröder und Lafontaine. Na? Was ist davon übrig geblieben? Zickenkrieg?"

Im Feuilleton hätte Evelyn Finger von Wikileaks-Aussteiger Daniel Domscheit-Berg gern etwas Kritisches zu den Enthüllungen gehört. Bekommt sie aber nicht. Ihm fehlt zwar Transparenz in der Organisation, aber mehr noch überall sonst: "Regierungen und Unternehmen halten mehr geheim, als für unsere Gesellschaft gut ist, zumal die Entscheidungen des Einzelnen Einfluss auf immer weitere Teile der Welt haben. Wenn ich Turnschuhe kaufe, ist auch der betroffen, der sie zusammenklebt. Gerade die Geheimnisse der Wirtschaft müssen aufgedeckt werden, damit ich mich richtig verhalten kann. Nehmen Sie die Bankenkrise. Da passierte so viel hinter verschlossenen Türen, das vielleicht verhindert worden wäre, wenn ein paar Sekretärinnen als Whistleblower agiert hätten."

Der Kabarettist Gerhard Polt ist da pessimistischer. In einem Interview zu Papst, Fernsehen und Teufel sagt er: "Wir sind so vernetzt wie nie zuvor, und wir kommunizieren so viel miteinander wie nie zuvor. Andererseits sehe ich überall Menschen, die wie Karpfen aneinander vorbeischwimmen. Ich beobachte eine Verstummung vieler Menschen, auch sich selbst gegenüber."

Weitere Artikel: Evelyn Finger erklärt zudem, was sich Wikileaker ihrer Meinung nach "hinter die Ohren schreiben" sollen. Ijoma Mangold findet, dass die amerikanischen Diplomaten eigentlich nicht allzu schlecht dastehen: "Zynismus sieht anders aus." Tobias Timm fürchtet in der Leitglosse - zu Recht! - dass die Umgebung des Berliner Hauptbahnhofs mit ordinärer Architektur zugemüllt wird. Christof Siemes erkennt im Aufmacher einen neuen Volksliedboom im Land, ist aber irgendwie nicht glücklich damit. Wolfram Goertz erklärt am Beispiel von "Kein schöner Land" (Wiener Sängerknaben, bitte), dass "Kunstcharakter und Popularität des Lieds in der glücklichen Summe von Zutaten begründet" sind. Benjamin Balint sucht das - inzwischen versenkte - Hamburger Mahnmal gegen Faschismus. Thomas E. Schmidt sieht in der neuen Protestkultur ein wichtiges Korrektiv zur Politik. Politische Theoretiker wie Christoph Möllers, Rainer Forst und Claus Leggewie gehen der etwas abstrakt gehaltenen Frage nach, ob der Klimawandel uns zwingen könnte, Freiheitsrechte einzuschränken (Claus Leggewie tröstet: Konsumbeschränkungen können Individuen und Gesellschaften "von den Folgen ihrer Überentwicklung entlasten" - da plädieren wir erstmal für die Halbierung des C4-Gehalts!).

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs hochkarätig besetzte Szenenfolge "Alles nur der Liebe wegen" an den Münchner Kammerspielen, die Ausstellung von Hans Holbeins "Grauer Passion" in der Stuttgarter Staatsgalerie, Xavier Beauvois' Film über "Von Menschen und Göttern" (mehr hier), der die bittere Geschichte französischer Trappistenmönche in Algerien erzählt, und Bücher, darunter Horst Bredekamps "Theorie des Bildakts", Haruki Murakamis Roman "IQ84" und Arno Schmidts Monumentalwerk "Zettel's Traum". Außerdem empfehlen Zeit-Mitarbeiter zu Weihnachten Bücher, meist von anderen Feuilletongrößen, nur vereinzelt auch internationale Literatur.

Im vorderen Teil erzählt der Historiker Christoph Kleßmann, wie man im Ruhrgebiet nach 1871 versuchte, die frisch eingewanderten Polen zu "germanisieren". Zwei Seiten befassen sich mit Wikileaks, ein Aufreger ist aber nur die Bebilderung: Assange, auf der Flucht, wird von einem lächerlichen Bobby mit erhobener Hand gestoppt und abgeführt. Tatsächlich hat er sich selbst gestellt. Aber Grafiker können ja eh nicht lesen.