Heute in den Feuilletons

Widerspruchloses von gestern

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.10.2010. Leitkultur ist alles andere als ein Gegenbegriff zu Multikulti, schreibt Richard Herzinger in der Welt. In der FAZ kritisiert Necla Kelek den Religionspolitiker Christian Wulff. Mark Lilla beschreibt für das NYRB-Blog die französischen Herbstkrawalle - und muss dabei an die Tea Party-Bewegung denken. In der FR fragt Ingo Schulze: Wofür ist der Wiederaufbau des Berliner Schlosses das Symptom? Die NZZ berichtet: Auch in Istanbul werden Roma vertrieben - und immer mehr Altstadtviertel werden abgerissen. 

Welt, 22.10.2010

Der meist von CDU-Politikern mit frommer Miene beschworene Begriff der "Leitkultur" ist nur die eine Seite der Medaille, auf deren Rückseite eine fröhliche Multikulti-Ideologie gepflegt wird, schreibt Richard Herzinger in einem glänzenden kleinen Essay. Kulturalismus ist beides und steckt fest in den Hirnen unserer Diskurswächter: "Unproblematisch ist der Multikulturalismus .. auch in seiner gemäßigten Variante nicht. Geht er doch von einem Konzept der 'Kultur' als einer in sich geschlossenen Lebenswelt aus, die den Einzelnen letztlich unwiderruflich präge. Das Individuum erscheint in dieser Sicht nicht in erster Linie als autonomer, in seiner individuellen Entscheidung freier Staatsbürger, sondern als Angehöriger seiner 'Kultur', die seine Persönlichkeit umhülle wie ein unsichtbares kollektives Gewebe. Dieses Konzept der 'Kultur' ... ist eine der folgenschwersten Erfindungen des 19. Jahrhunderts."

Weitere Artikel: In der Leitglosse spottet Hanns-Georg Rodek über den Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, der das durch den Film "The Social Network" von seiner Person geschaffene Profil kaum mehr wird löschen können. Peter Praschl schreibt zum Tod des Penthouse-Erfinders Bob Guccione. Besprochen wird Jörg Harlan Rohleders Roman "Lokalhelden".

NZZ, 22.10.2010

Susanne Landwehr schildert, wie Istanbul einen historischen Bezirk nach dem anderen niederreißen lässt. Jetzt ist das multikulturelle Tarlabasi dran: "Eigentümer und Bewohner fühlen sich verraten. Was ihrem Quartier bevorsteht, können sie in Sulukule in der Nähe der historischen Altstadt Sultanahmet schon heute sehen. Vor 18 Monaten wurden die dort ansässigen Roma vertrieben und weit weg vom Stadtzentrum angesiedelt. Als Entschädigung erhielten sie zwischen 500 und 800 türkische Lira pro Quadratmeter. Der Abrissbagger kam, doch danach tat sich nichts mehr. Jetzt hat die Bezirksregierung die Grundstücke zum Verkauf ausgeschrieben und verlangt rund 2500 Lira pro Quadratmeter."

Weiteres: Brigitte Kramer erklärt die Bedeutung der dieser Tage verliehenen Prinz-von-Asturien-Preise. Besprochen werden Wagners "Götterdämmerung" zum Abschluss der Hamburger "Ring"-Aufführung, ein Monolog nach Fleur Jaeggys Novelle "Die seligen Jahre der Züchtigung" am Piccolo Teatro di Milano, das Projekt "AfroCubism", das Musiker aus Mali und Kuba zusammenbringt.

TAZ, 22.10.2010

In der Debattenreihe um Musikkritik meint die Musikerin Antye Greie, die Kritik brauche ebenso wie die Musik selbst finanzielle und intellektuelle Förderung, und vor allem Frauen sollten sich endlich das männlich dominierte Diskursgewerbe erobern. "Musik ist Kunst und muss als solche diskutiert werden, losgelöst von Industrie und Technologie. Auch wenn keiner mehr dafür bezahlt... Die, die die Kohle machen, müssen für den Content bezahlen, und sei es, dass sie dafür Stiftungen gründen, die spezifisch Musik, Sound Art und Kritik fördern. Die Kapitalisten müssen überzeugt werden, in das Richtige zu investieren. Ich bin erleichtert, dass die Internetseite Myspace an Relevanz verloren hat. Jetzt muss nur noch Facebook sterben! Meldet euch alle wieder ab!"

Weitere Artikel: Julian Weber porträtiert einige Gegner von Stuttgart 21 ganz unterschiedlicher Provenienz: den Unternehmer Ulrich Weitz, den Starkoch Vincent Klink, den Musiker Thorsten Puttenat und die Kuratorin Regina Fasshauer. Klaus Walter schreibt einen Nachruf auf Ari Up, die Sängerin der britischen Frauen-Punkband The Slits. Hier sind sie:



Und Tom.

FR, 22.10.2010

Die FR bringt eine Rede des Schriftstellers Ingo Schulze zur Berliner Schlossfassade, in deren Wiederaufbau er eine fundamentale Verunsicherung erkennt, nämlich "dass wir als Gesellschaft über Wachstumsbestrebungen hinaus kaum noch sagen können, was wir wollen". Und mit Verweis auf Franz Fühmann fragt er: "Woher diese Bereitwilligkeit, 'die Attrappe als das Echte zu nehmen', woher dieser Wunsch, 'keine Mühen für einen Schein zu scheuen, dem das Sein so demonstrativ mangelt'? Und warum begehren wir so gierig 'ein Widerspruchloses von gestern als Ahnherr des Widerspruchlosen von heute und morgen'?"

Auf der Medienseite spürt Klaudia Wick die Angst des Fernsehen, sich künftig an Dominik Grafs heute in der ARD anlaufender Serie "Im Angesicht des Verbrechen" messen lassen zu müssen.

Besprochen werden Stings Konzert in Frankfurt, die Eröffnung der niederländischen Kulturtage in Frankfurt mit Het Nationale Ballet, Felicitas Bruckers "Penthesilea"-Inszenierung am Berliner Maxim Gorki Theater, ein Abend mit dem chinesischen Schriftsteller Liao Yiwu und Christian Adams Studie über Bestseller der NS-Zeit "Lesen unter Hitler" (siehe auch die Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 22.10.2010

Alle Franzosen möchten möglichst früh in Rente gehen, am liebsten gleich nach Eintritt in den Öffentlichen Dienst. Dafür führen sie zur Zeit ihr herbstliches Streik-Ritual auf. Mark Lilla kamen für das NYRB-Blog bei Betrachtung einer rot-weiß-blau-gewandeten linken Demonstrantin in Lyon die seltsamsten Assoziationen: "Watching her I wondered what really distinguished her from an American Tea Party activist in his Colonial Williamsburg faux-revolutionary outfit and three-cornered hat. After his rally at the Washington Mall our musket-bearing friend probably knelt down in prayer with fellow demonstrators, while she, I imagine, bellied up to the bar for a Pernod. But otherwise? They both feel cut out, distrust their leaders, want things to change, and don't want anything to change."

FAZ, 22.10.2010

Scharf geht Necla Kelek mit eigentlich allen Teilen der Rede, die Christian Wulff vor dem türkischen Parlament gehalten hat, ins Gericht. Seinen Satz, dass auch das "Christentum" zur Türkei gehört, findet sie dabei gleich doppelt falsch. Erstens, weil Christen dort - anders als Muslime hierzulande - noch immer diskriminiert würden. Und zweitens passt ihr die ständige Betonung der Religion auch nicht: "Sind wir keine Deutschen, Türken, sondern zuerst Christen, Juden oder Muslime; keine Bürger, sondern Gläubige oder Ungläubige? Ist das die Mission des Pro-Christ-Katholiken Christian Wulff? Wenn die Rückkehr des Glaubens in die Politik die präsidiale Botschaft aus Ankara ist, dann stehen wir vor einem neuen Religionsstreit in unserem Staat. Und der Präsident hat ihn weit hinten in der Türkei in schlichter Rede vom Zaun gebrochen."

Weitere Artikel: Hans Christian Rössler hat Arye Sharuz Shalicar getroffen, den Sprecher der israelischen Armee, der jetzt ein Buch über sein Aufwachsen im Berliner Wedding veröffentlicht hat. Jürg Altwegg schildert, wie sich der Streit um die französische Rentenreform zum "Klassenkampf" ausweitet. Von den Kürzungen im Kulturbereich in der großen britannischen Sparaktion sind, wie Gina Thomas berichtet, kaum die Museen, ebenfalls nicht die Universitäten (jedenfalls die naturwissenschaftlichen Fakultäten), dafür aber viele vom Arts Council (erste Reaktion auf der Website) unterstützte Festivals und Institutionen sehr massiv betroffen. In der Glosse spottet Niklas Maak über den Einfall, ein vom Künstler HA Schult vor rund zwanzig Jahren in Kunstabsicht auf dem Turm des Kölnischen Stadtmuseums geparktes Auto zum TÜV zu schicken. Wie man in Ulm sehr viel geschickter als in Stuttgart Werbung für den riesigen Bahnhofsumbau zu machen verstand, darüber informiert Timo John.

Von den Neue-Musik-Festivals "Zukunftsmusik" (in Stuttgart) und "Tonlagen" (Hellerau) berichtet Gerhard Rohde. Lisa Zeitz begrüßt Constantin Meuniers "Sämann" und Lotte Lasersteins "Abend über Potsdam" im Bestand der Berliner Nationalgalerie. Wolfgang Sandner schreibt zum Tod des Saxofonisten Marion Brown. Auf der Medienseite sind gleich zwei Artikel der heute in der ARD startenden Russenmafia-Serie "Im Angesicht des Verbrechens" gewidmet. Oliver Jungen hat Drehbuchautor Rolf Basedow getroffen und hält eine Fortsetzung des Werks schon jetzt für dringend geraten. Der noch vor Fertigstellung der Serie mit seiner Firma Typhoon in Insolvenz gegangene Marc Conrad schildert seine Sicht der Dinge - und gibt vor allem dem WDR die Schuld. 

Besprochen werden Hans van Manens Choreografie "Without Words" in Amsterdam, die Larry-Clark-Retrospektive in Paris, eine Ausstellung von Frank Nitsche (featuring Yves Netzhammer) im Berliner Haus am Waldsee, der Banksy-Film "Exit Through the Gift Shop" und Bücher, darunter Jürgen Flimms unter dem Titel "Die gestürzte Pyramide" gesammelte Texte zum Theater (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 22.10.2010

Das nun vorgestellte Sparprogramm der britischen Regierung für den Kulturbereich bedeutet, wie Alexander Menden berichtet, einen Schlag ins Kontor vor allem für alle unabhängigen, dezentralen, nichtrepräsentativen Institutionen. Aus Polen berichtet Thomas Urban, dass es mit der Treue des Volks zur katholischen Kirche bei weitem nicht mehr so weit her ist wie einst: Jetzt steht sogar die Gründung einer anitklerikalen Partei bevor. Beim Leipziger Dokumentarfilmfestival hat Martina Knoben ein Porträt des Verlegers Gerhard Steidl gesehen und schwärmt nun von dessen Enthusiasmus für eine resolut analoge Druck- und Buchexistenz. Mit dem Jazzmusiker Charlie Haden unterhält sich Christian Broecking, auch über die mit seinem Quartet West aufgenommene neue Platte "Sophisticated Ladies". Walter de Marias neue Skulptur "Large Red Sphere" am Münchner Türkentor hat Barbara Gärtner in Augenschein genommen. Karl Bruckmaier schreibt zum Tod der deutschen Punkrock-Sängerin Ari Up.

Besprochen werden Martin Schläpfers "Forellenquintett"-Choreografie an der Deutschen Oper am Rhein, zwei Inszenierungen - von Lessings "Miss Sara Sampson" und Nis-Momme Stockmanns "Inga und Lutz" - zum Start der Intendanz Joachim Klements am Braunschweiger Theater (Jürgen Berger ist ganz angetan, aber nicht enthusiasmiert), die Ausstellung "Small Scale Big Change" über Sozialprojekt-Architektur im New Yorker Museum of Modern Art und Bücher, darunter vor allem Giorgio Agambens neues Werk "Herrschaft und Herrlichkeit" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).