Heute in den Feuilletons

Liberalistische Verirrung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.10.2010. In der SZ stellt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf klar: die westlichen Werte sind keine christlich-jüdischen Werte. Die Achse des Guten ärgert sich über säuerliche Kommentare der Mainstreammedien zu Mario Vargas Llosa. Hardy Prothmann wendet sich in seinem Blog gegen die Kostenloskultur der Zeitungen. In der FAZ findet der Soziologe Armin Nassehi, dass der Vorwurf des Biologismus gegen Sarrazin durchaus berechtigt ist.

NZZ, 13.10.2010

Samuel Herzog durfte einen Blick ins Amsterdamer Stedelijk-Museum werfen, das nach jahrelanger Umbauphase für die Ausstellung "Taking Place" kurz öffnet, um dann wieder im Januar für Monate zu schließen: "Unter den zwanzig Künstlern der Ausstellung hat Barbara Kruger den spektakulärsten Auftritt. Sie hat Wände und Boden des sogenannten Ehrensaals mit den riesigen Buchstaben von Zitaten ausgekleidet, in denen es größtenteils um Zukunftsbilder geht. Der mächtigste Spruch stammt von George Orwell und lautet: 'If you want a picture of the future, imagine a boot stomping on a human face for ever'."

Weiteres: Thomas Baltensweiler schreibt zum Tod der Sopranistin Joan Sutherland. Besprochen werden eine Ausstellung des britischen Architekten John Pawson im Design-Museum in London, Michael Steiners Verfilmung der berühmten "Sennentuntschi"-Sage, Peter Geimers Studie über "Bilder aus Versehen" und Rafael Yglesias' Roman "Glückliche Ehe" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 13.10.2010

Gemeldet wird online der diesjährige Booker-Preisträger: "Mit seinem Buch 'The Finkler Question' schlug der 68-jährige Autor Howard Jacobson am Dienstagabend in London unter anderem den Favoriten Tom McCarthy und den zweifachen Booker-Preis-Gewinner Peter Carey aus dem Rennen um den britischen Literaturpreis, der mit 50.000 Pfund (60.000 Euro) dotiert ist." Hier ein Link zu Jacobsons Kolumnen im Independent, hier ein Interview mit dem Autor und Komiker, der sich selbst gern als "jüdische Jane Austen" bezeichnet.

Im Print setzt die FR ihre Sonderberichterstattung vom Soziologentag in Frankfurt fort. Nach der gestrigen Einführungsrede druckt sie heute den Eröffnungsvortrag von Peter L. Berger, der immerhin ein Thema hat: Die Pfingstbewegung. Stefan Schickhaus schreibt zum Tod der Marathon-Sopranistin Joan Sutherland.

Besprochen werden Hermann Schmidt-Rahmers offenbar schön skandalöse Inszenierung von Elfriede Jelineks Stück "Rechnitz", die Ausstellung "Kraftwerk Religion" im Dresdner Hygienemuseum und Michael Köhlmeiers Roman "Madalyn" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 13.10.2010

(via Peter Glaser) Ein sehr schönes Bild von Model und Accessoire. Das Spiel dazu heißt: Such die Katze.

Von Katy Derbyshire erfahren wir, dass die EU einen eigenen Literaturpreis hat, der in diesem Jahr an Iris Hanika für ihren Roman "Das Eigentliche" verliehen wurde. Derbyshire freut sich für die Autorin, mit der EU ist sie eher unzufrieden: "My problem with the prize is its lack of visibility. Although it's supported by all kinds of writerly associations, it has a strange reek of unsexiness about it, perhaps because of the 'European Union' in the title."

Und falls auch niemand mitbekommen hat, wer den Preis der diesjährigen Hotlist der Independent-Verlage bekomment hat: Es war Ulrike Almut Sandig für ihren Erzählband "Flamingos", lesen wir ebenfalls bei Derbyshire.

In der Achse des Guten ärgert sich Marko Martin über die "altväterlich scheltenden Urteile" in NZZ, taz und SZ, die Mario Vargas Llosa "Rechtsruck" und "Marktliberalismus" vorwarfen. Was will der Mann denn so schlimmes? "Legalisierte kleine und größere Straßenmärkte statt staatlich-autoritärer Verbote: Eines seiner Programme aus dem Präsidentschaftswahlkampf von 1990, der eben nicht auf Wohltaten für die Reichen, die natürlichen Verbündeten der Staatsbürokratie, zugeschnitten war, sondern auf ökonomische Teilhabe der Ärmsten setzte. Vargas Llosas Ideen ähnelten damit den Vorstellungen seines peruanischen Landsmannes, des Ökonomen Hernando de Soto, der dem ... zerissenem Lateinamerika eine Art Graswurzel-Kapitalismus empfiehlt."

(via Carta) Hardy Prothmann entwickelt in seinem Blog sehr konkrete Vorstellungen davon, was "Kostenloskultur" eigentlich wirklich ist und findet sie vor allem bei den Zeitungsverlagen, die Leute entlassen, weil das die einzige unternehmerische Idee ist, die sie haben. "Gleichzeitig wird immer mehr 'kostenloses' Material verwendet, um es in Geld umzuwandeln. Die angeblich 'journalistischen' Leistungen sind oft nur noch kaschierte PR, Recherchen und Kontrolle finden kaum noch statt, freie Mitarbeiter und auch fest angestellte werden ausgebeutet. Das ist die wahre 'Kostenloskultur', über die man reden sollte. Über die Mär der angeblichen 'Qualität'. Über Verlage, die kostenloses Material verwenden, um dieses kostenpflichtig zu veräußern."

Bei BoingBoing erzählt Sean Bonner von der jungen Jemenitin Amira Al Sharif, die gerade in Amerika einen Kurs am International Center of Photography besucht und ein Projekt begonnen hat, in dem sie amerikanische und jemenitische Frauen um die Zwanzig miteinander vergleicht. Auf ihrer Kickstarter-Seite erklärt sie das: "How do they dress? What are their relationships like with their families, boyfriends, colleagues? In what ways are we similar? And in which ways are we different? I believe my project is important because there are so many misunderstandings between our societies these days." Mehr in ihrem sehr fröhlichen Video.

(via open culture) Letzten Dezember starb der 22-jährige Richard Davis bei einem Verkehrsunfall. Sein Halbbruder Darrell Armstead, ein prominenter Turfdancer, hat ihm zusammen mit seiner Crew ein wunderbares Denkmal gesetzt. Und wir erfahren zum ersten mal, was Turfdance ist:



Tagesspiegel, 13.10.2010

Jüdisch-christlich? So einfach ist das nicht, meint die Philosophin Almut Shulamit Bruckstein Coruh: "Nein, es gab keine jüdisch-christliche Tradition, sie ist eine Erfindung der europäischen Moderne und ein Lieblingskind der traumatisierten Deutschen. Jüdisch-christlich ist eine Konstruktion, geprägt von einer Genese des Fortschritts, die in der Reformation und in der Französischen Revolution gipfelt."

TAZ, 13.10.2010

Im Aufmacher liest Wolfgang Gast Wolfgang Kraushaars Buch "Verena Becker und der Verfassungsschutz" (Auszug im Perlentaucher) und findet die Fragen und Thesen des Autors zu Beckers Kontakten mit dem Verfassungsschutz durchaus plausibel. Franziska Buhre stellt den New Yorker Jazzpianisten Vijay Iyer vor, der gerade durch Deutschland tourt.

Besprochen werden außerdem Philipp Stölzls Film "Goethe!" (mehr hier) und Ai Weiweis Installation "Sunflower Seeds" in London.

Auf der Meinungsseite entsorgt der Schriftsteller Ilija Trojanow seine Kollegin Thea Dorn als "Eva Hermann des Feuilletons" (und was ist er, der Karl-Heinz Köpcke der islamischen Mystik?). Auf tazzwei erklärt die kopftuchtragende Kolumnistin Kübra Yücel, warum sie sich durch das Denkkonzept der Nationalität eingeengt fühlt.

Und Tom.

Welt, 13.10.2010

Im Interview behauptet der Soziologe Heinz Bude, die Soziologie sei sehr wichtig für gesellschaftliche Debatten, kann aber nicht so recht erklären, warum. Manuel Brug schreibt den Nachruf auf Joan Sutherland. Besprochen wird ein Biopic über Serge Gainsbourg.

SZ, 13.10.2010

Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf warnt die Kulturalisten von rechts und links im Gespräch mit Johan Schloemann. Die (in der SZ meist in Anführungszeichen gesteckten) westlichen Werte sind nicht einfach Ausdruck einer "christlich-jüdischen Kultur": "Der moderne Verfassungsstaat, und speziell der Rechtsstaat in Deutschland, ist weithin gegen die Kirchen durchgesetzt worden. So wurde etwa noch weit bis in die fünfziger Jahre in den Diskursen beider großen Kirchen der Begriff 'Menschenrechte' eher kritisch gesehen, als liberalistische Verirrung des modernen Menschen."

Weitere Artikel: Für den Aufmacher liest Gerhard Matzig eine Studie der Zeitschrift Das Haus über das Verhältnis von Bauherren und Architekten. Alexander Menden sichtet die Werke der diesjährigen Kandidaten für den Turner-Preis (mehr hier). Für die Reihe "Schulen der Kunst" besucht Barbara Gärtner die Kunsthochschule der traurigen Stadt Braunschweig. Andrian Kreye gratuliert dem Jazzsaxophonisten Pharoah Sanders zum Siebzigsten. Doris Kuhn gratuliert dem Regisseur Klaus Lemke zum Siebzigsten. Jena Malte Fischer schreibt zum Tod der Sopranistin Joan Sutherland.

Besprochen werden Samuel Maoz' Film "Lebanon" (mehr hier), eine Werkschau des Rimini Protokolls in Heidelberg, das Oratorium 'Hinter der Mauer' des Librettisten Christian Lehnert und des palästinensischen Komponisten Samir Odeh-Tamimi, das den Tod Peter Fechters an der Berliner Mauer zum Hintergrund hat, und Bücher, darunter Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 13.10.2010

Geradezu als Allegorie russischer Zustände begreift Kerstin Holm die Restaurierung der Verklärungskathedrale auf der Onegasee-Insel Kischi. Viel günstiger käme der denkmalgerechte Wiederaufbau, zum Einsatz kommt nun aber eine teurere Technik, die die Teile Stück für Stück restauriert: "Das Lifting hat für die Tourismusindustrie den Vorteil, dass die Mumie der Kirche kontinuierlich bewundert werden kann. Außerdem zirkulieren bei dieser Restaurierung mehr Mittel in amtlichen Kanälen, das Ziel rückt in nebelhafte Ferne. Und sollte das Projekt misslingen, kann niemand zur Verantwortung gezogen werden. Das macht die schicksalhafte Denkmalsinstandsetzung auch zum Sinnbild der russischen Reformen." Holm führt das im Fortgang des Artikels an Beispielen aus.

Weitere Artikel: Leicht gekürzt, aber immer noch endlos lang abgedruckt wird Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenbergs Rede zum 3. Oktober, in der es um alles mögliche, aber auch den demographischen Wandel geht. Noch einmal den Blick des Architekturkenners wirft Dieter Bartetzko Richtung Stuttgarter Bahnhof. In der Glosse staunt Kerstin Holm schon nicht mehr, dass der Lukoil-Vizechef Anatoli Barkow an einem Autounfall mit doppelter Todesfolge wider viele Indizien auch in einer Nachuntersuchung für unschuldig erklärt wurde. Gerhard Rohde schreibt zum Tod der großen Opernsängerin Joan Sutherland. Den Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann verabschiedet Eleonore Büning.

Auf der DVD-Seite schreibt Rüdiger Suchsland über eine Don-Siegel-Retrospektive bei den Filmfestspielen von San Sebastian. Ivo Ritzer ist auf Rick Jacobsons Häckselfilm "Bitch Slap" nicht gut zu sprechen. "Keep Surfing" (mehr), den Dokumentarfilm, der der Legalisierung des Surfens im Münchner Eisbach den Boden bereitete, hat Andreas Platthaus gesehen.

Auf den Geisteswissenschaften-Seiten setzt sich der Soziologe Armin Nassehi noch einmal mit den Thesen Thilo Sarrazins auseinander und warnt davor, "an den biologistischen Argumenten vorbeizulesen. Denn in ihnen wird deutlich, dass Sarrazin nicht an Lösungen interessiert ist, sondern lediglich Ressentiments bedient. Und es sind vor allem die Ressentiments, für die er Beifall bekommt, weniger für die Argumente." Joseph Croitoru weist auf die wachsende Zahl von Moscheepredigerinnen in der Türkei hin.

Besprochen werden die Uraufführung von Nis-Momme Stockmanns Stück "Inga und Lutz" in Braunschweig, Phillip Stölzls "Goethe!"-Film (Hubert Spiegel bleibt eher freundlich, lobt die Schauspieler und hält als Erkenntnis des Films fest: "Auch Goethe war einmal jung") und Bücher, darunter Uwe Wesels "Geschichte des Rechts in Europa" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).