Heute in den Feuilletons

Unermüdlich durchpermutiert

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2010. Antiliberaler Geist, jakobinischer Feminismus, fanatischer Rationalismus: Alice Schwarzers Buch gegen das Kopftuch führt zu starken Intoleranzen in der FAZ. Außerdem führt die FAZ mit dem Computervirus stuxnet einen Erstschlag gegen den Iran. Hat sich eigentlich was geändert?, fragt Charles Simic im Blog der New York Review of Books nach Lektüre einer Zeitung von 1990. Berliner Zeitung und Tagesspiegel resümieren das Berliner Musikfest mit seinem Boulez-Schwerpunkt. Und Oskar Roehlers "Jud Süß"-Film kommt gar nicht gut an.

Aus den Blogs, 22.09.2010

Der Dichter Charles Simic hat aufgeräumt und dabei eine New York Times aus dem Jahr 1990 gefunden. Die Schlagzeilen könnten von heute sein, meint er in einem sehr bitteren Kommentar in der New York Review of Books. Vor allem was den Niedergang der amerikanischen Arbeiterklasse angeht: "Präsident Obamas Labor Day Vorschlag, 50 Milliarden Dollar zu investieren, um Jobs zu schaffen und Straßen, Bahnlinien und Flughäfen auszubessern, klingt gut, aber es würde mich überraschen, wenn er wirklich in die Tat umgesetzt würde. Eine politische Klasse, deren Ehrgeiz momentan darin besteht, amerikanische Arbeiter um ihre Pensionen, Arbeitslosenversicherung und Sozialversicherungen zu bringen, während sie ihnen zugleich einredet, dass der sinnlose Krieg, für den sie bisher 3 Billionen Dollar ausgegeben haben, nichts mit unserer nationalen Ökonomie zu tun habe, wird diesen Arbeitern bestimmt nicht helfen. Die großen Massen sind dafür genauso verantwortlich. Ohne historisches Gedächtnis, ohne Verständnis dafür, was ihnen angetan wird, akzeptieren sie ohne Protest den Anstieg der Einkommensunterschiede und die zunehmende Verarmung, sie lassen sich leicht von Spezialinteressen und den prinzipienlosen Opportunisten manipulieren, die in ihrem Wahlkreis kandidieren.""

Jessa Crispin ist in Budapest und leicht verwirrt: "Because it is like 'Metropole' out there. Who knew that book was a guide on how to survive a spontaneous train trip to Budapest?" (Hm, wurde Ferenc Karinthys Buch "Metropole" jemals ins Deutsche übersetzt? Das ZVAB liefert jedenfalls keine Ergebnisse.)

Und hier noch ein kleines philosophisches Rätsel aus Bakersfield für den Mittwoch morgen - gefunden bei A fool in the forest.

NZZ, 22.09.2010

In einer Ausstellung zu Herta Müller im Berliner Literaturhaus hat Roman Bucheli zwar viel über die Freundschaft zwischen Müller und Oskar Pastior gelernt. Die inoffizielle Mitarbeit Pastiors bei der Securitate gehe jedoch nur untergründig aus den ausgestellten Dokumenten hervor: "Auch aus Pastiors Nachlass finden sich zahlreiche Dokumente, darunter erhält nun eines eine geradezu gespenstische Aktualität: Unter dem Titel 'Versuchte Rekonstruktion' schreibt Pastior auf einem Notizblatt von 1992, das in einer Vitrine ausliegt: 'In meinen Securitate-Akten könnte Aufschluss zu finden sein: - wann (1964? 65? 66?) ich in Bukarest [. . .] zum ersten Verhör verschleppt wurde [. . .]; - ob ich ein Protokoll oder eine Erklärung 'Staatsfeindliches aus meinem Tätigkeitsbereich zu melden', unterschrieben habe; - wann und wie oft man mich nachher zu Verhör und Berichterstattung zitiert hat [. . .]' Damit war im Grunde bereits alles gesagt. Dem Ausstellungsbesucher erschließt sich die dramatische Bedeutung dieser kryptischen Zeilen jedoch erst im Licht der neuen Kenntnisse."

Weitere Artikel: Jürgen Tietz hat den neuen, vom Baseler Architekturbüro Diener & Diener entworfenen Ausstellungsflügel des Naturkundemuseums von Berlin besichtigt. Andrea Köhler berichtet, dass das Wall Street Journal ab diesem Monat eine eigene Book-Review veröffentlicht. Cecilia Bartoli wird ab 2012 Leiterin der Salzburger Pfingstfestspiele, meldet Marianne Zelger-Vogt.

Besprochen werden zwei Inszenierungen in Hamburg und Berlin - Luk Percevals "Hamlet" am Thalia Theater und Ivo van Hoves "Der Menschenfeind" an der Schaubühne - und Bücher, darunter der erste Band von Siegfried Unselds Chroniken, "Chronik 1970" und Andrej Longos Erzählungen "Zehn" (Mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 22.09.2010

Christina Weiss unterhält sich mit dem Komponisten Jens Joneleit über dessen neue, für Daniel Barenboim komponierte Oper "Metanoia" und den Einsatz von Live-Elektronik bei der Aufführung: "Die Elektronik erweitert die akustischen Spektren des Liveorchesters, mischt sich in Echtzeit im Raum dazu. Die Zuhörer sollen die Klangerweiterung erfahren, sie aber nicht als Elektronik identifizieren. Wir arbeiten auch mit klanglichen Paradoxien, zum Beispiel haben wir einen Klangtrichter entwickelt, der den Klang, der sich weiter ausbreitet und größer wird, kleiner werden lässt, je weiter er sich ausbreitet und schließlich verschluckt. Es wird immer erkennbar sein, wo der Klang herkommt. Ich spiele mit der Verräumlichung nicht, um den Raum erkennbar zu machen, sondern nutze ihn einfach als erweitertes großes Musikinstrument."

Außerdem: Hannes Stein trauert um den Rheinischen Merkur, den die Deutschen Bischöfe zum Jahresende aufgeben wollen. Außerdem schickt Stein einen Brief aus Brooklyn. Uwe Wittstock porträtiert Andreas Maier als "Heimatschriftsteller". Auf der Seite 3 schreibt Andreas Rosenfelder über Oskar Roehlers Film "Jud Süss - Film ohne Gewissen". Dazu gibt es ein Interview mit dem Drehbuchautor Klaus Richter.

Und: die Welt würdigt mit drei großen Fotos den Verfassungspatriotismus, den Lady Gaga in einer Rede gegen die Diskriminierung homosexueller Soldaten bewiesen hat. Hier die Rede:


Berliner Zeitung, 22.09.2010

Einen sehr kritischen, aber nicht lieblosen Artikel hat Peter Uehling über Pierre Boulez geschrieben, der beim Musikfest in Berlin stark präsent war: mit seinen Kompositionen und in Person, als Dirigent. Boulez' höhepunktloses "deutsches Strukturdenken" und die "nordkoreanische Linientreue zum Fortschritt" findet Uehling oft langweilig. Aber im Alter scheinen sich diese Züge etwas abzuschleifen: "In 'Derive 2' für elf Instrumente gibt es zumindest unter der Leitung Barenboims gegen Ende der knapp einstündigen Fassung von 2006 eine Passage, in der die unermüdlich durchpermutierten Arabesken für einen Moment innehalten und die Instrumente solistisch zu singen beginnen, unter anderem auch wieder das Horn, das in 'Pli selon pli' die Worte vom Tod begleitete: Diese Momente bricht Boulez immer wieder ab, fast in einer Art Selbstzensur, auf dass die Musik nicht zu eindringlich werde. Die Passage hat bei aller Schizophrenie etwas rührendes, als wage sich im Alter doch noch etwas Persönliches aus der Musik heraus."

FR, 22.09.2010

K. Erik Franzen unterhält sich mit der Künstlerin Michaela Melian, die im Internet unter dem Titel Memoryloops im Auftrag der Stadt München das erste digitale Mahnmal für den Holocaust gestaltet hat. Sie kombiniert dort stimmen von Zeugen, Tätern und Opfern: "Man soll beim Auswählen der Tonspuren nicht wissen, was einen erwartet. Die Position des Sprechenden wird erst durch genaues Zuhören erkennbar. Ich habe oft auch keine exakte Komposition angeboten und nur wenige Collagen produziert. Ich möchte, dass die Erinnerungswege vom Hörer gebaut werden."

Harry Nutt empfiehlt in "Times mager" "gesteigertes Medienbewusstsein" als "schwache aber unentbehrliche Antwort" auf religiös begründete Morddrohungen gegen Zeichner von Mohammedkarikaturen.

Besprochen werden eine "Möwe" in Düsseldorf, Oskar Roehlers "Jud Süß"-Schmonzette ("Lachen über Hitler? In der Kunst ist das durchaus möglich. Aber Tränen für seine Helfer?", fragt entgeistert Daniel Kothenschulte), die Stücke des Saisonauftakts in Basel und Zürich ud Bücher, darunter ein Tagebuchband von Jose Saramago.

Tagesspiegel, 22.09.2010

So viel steht nach dem Musikfest für Jörg Königsdorf fest: Pierre Boulez hat das Zeug zum Klassiker. Erschlossen hat sich ihm dies vor allem bei der Aufführung einer Komposition aus den späten Fünfzigern, den "Structures pour deux pianos" mit dem Pariser Ensemble Intercontemporain und den Pianisten Hideko Nagano und Sebastien Vichard: "Dass gerade dieses Stück der Angelpunkt ist, von dem aus sich der junge Wilde Boulez, der die europäische Musikszene der Nachkriegszeit schockierte, genauso erschließt wie der spätere Schöpfer wohltönender, virtuos instrumentierter Orchesterwerke. Beides ist in den 'Structures': Aus dem Bassregister seines Flügels holt Vichard immer wieder die blockhaft kantigen, schroffen Akkorde, die abweisend, zornig und verzweifelt zugleich klingen - jenes Wüten gegen die eigene Einsamkeit, das als emotionaler Grundton die beiden ersten Klaviersonaten durchzieht. Aber dann öffnet sich in den leuchtenden Diskantfarben, die Hideko Nagano beisteuert, der Raum zum schönen Klang, zur heilen musikalischen Welt jenseits aller selbstquälerischen Seelennöte.""

TAZ, 22.09.2010

Barbara Behrendt beobachtet die beiden Theaterfotografen Mara Eggert und Arno Declair bei der Arbeit. Ingo Arend besucht eine Ausstellung zum brasilianischen Neokonkretismus, "Das Verlangen nach Form", in der Berliner Akademie der Künste. Als heißestes Ding aus Chicago preist Julian Weber Juke Music, zu der man auch tanzen kann, was dann Juke Dancing heißt.

Auf der Medienseite erzählt Steffen Grimberg, dass der Rheinische Merkur nun als Minibeilage bei der Zeit unterkommt, als "Schatzkästlein geistiger und geistlicher Inhalte". In der tazzwei berichtet Jan Kahlcke, wie das Hamburger Abendblatt über Ole von Beust herfällt.

Und Tom.
Stichwörter: Akademie der Künste, Chicago

SZ, 22.09.2010

Hans-Peter Kunisch hat in Berlin den 97-jährigen slowenischen Schriftsteller Boris Pahor getroffen, den "heimlichen Star" des Literaturfestivals: "1913 als Sohn eines slowenischen k.u.k. Polizeifotografen und einer Köchin in Triest geboren, hat er viele Bücher geschrieben, die sehr triestinisch anmuten: nahe an einfachen Leuten, ihrer Stadt und Landschaft. Alle zusammen scheinen eine Einheit zu bilden, die immer wieder durch politische Wirren gestört wird. Wie lebt es sich als Angehöriger der slowenischen Minderheit in Triest? 'Ach', antwortet Pahor, 'immer wieder diese Frage nach der 'Minderheit'? Mir ist wichtiger zu sagen, dass vor dem Ersten Weltkrieg überhaupt nicht von Minderheit gesprochen wurde. Wir waren ein Bevölkerungsteil wie alle anderen. In Lubljana gab es damals weniger Slowenen als in Triest.'"

Weiteres: Gleich zwei Artikel befassen sich mit Ernst Jüngers "Kriegstagebuch". Für Lothar Müller ist es "das als Sachlichkeit maskierte Triumphgeheul des Überlebenden"; Kurt Kister empfiehlt Nils Fabianssons "Begleitbuch" zu den "Stahlgewittern" als "eine Art militärischer Reiseführer durch Jüngers vier Kriegsjahre". Thomas Steinfeld liest schwedische Kommentare zu den Wahlergebnissen und erkennt in den fremdenfeindlichen Schwedendemokraten die Erben der Sozialdemokratie. Jeanne Rubner berichtet von Aufregung in Lyon um einen neugotischen Wasserspeier, den die Jeunes Identitaires nicht christlich-französisch genug finden. Fritz Göttler schreibt zum Siebzigsten der Schauspielerin Anna Karina.

Auf der Medienseite meldet Hans Hoff, dass der Rheinische Merkur als eigenständiges katholisches Wochenblatt ein- und als Beilage in der Zeit aufgehen wird.

Besprochen werden zwei Ausstellungen zu den Fotopionieren Eadweard Muybridge und Camille Silvy in Londons Tate Britain, Stefan Puchers Inszenierung von Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" in Zürichs Schiffbauhalle, Ryan Murphys Selbstfindungsdrama "Eat Pray Love" mit Julia Roberts, Günter de Bruyns Sammlung von preußischen Schicksalen "Die Zeit der schweren Not" und Roberto Ampueros Roman "Der Fall Neruda" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 22.09.2010

Neulich hatte Patrick Bahners in umständlich-akademischer Parallelenziehung Necla Kelek als den Treitschke des 21. Jahrhunderts entlarvt, nun löst Alice Schwarzers gerade erschienenes Buch gegen das Kopftuch eine wahre Schaumfontäne bei ihm aus: "Der antiliberale Geist des jakobinischen Feminismus manifestiert sich bei Alice Schwarzer auch im Stil. Ständig begegnet die islamkritische Standardwendung von der falschen oder falsch verstandenen Toleranz. Das eigene Verständnis ist natürlich das richtige. Fremd ist diesem fanatischen Rationalismus, dass zur Meinungsfreiheit das Experimentieren gehört, dass sich oft erst aus der Debatte, im Zuge von Rechtsstreitigkeiten und in der Praxis herausstellt, was eine freie Gesellschaft dulden kann und will."

Im Aufmacher erzählt Frank Rieger die Geschichte eines besonders raffinierten Computervirus namens stuxnet, das offenbar von westlichen Geheimdiensten konstruiert wurde, um iranische Atomanalagen zu sabotieren. "stuxnet wird wohl als erste offensichtlich von einem Nationalstaat eingesetzte Cyberwaffe in die Geschichte eingehen. Einer der Gesprächspartner beschrieb Qualität und Aufwand der Erstellung des Trojaners mit den Worten: 'So etwas bauen große Staaten zusammen, wenn die Alternative bei einem Misserfolg wäre, einen Krieg anzufangen.'"

Für Andreas Kilb hat Oskar Roehlers Film über den Film "Jud Süß" (mehr hier) der perfiden Perfektion des Naziwerks nichts als Rat- und Harmlosigkeit entgegenzusetzen. Andreas Platthaus fürchtet um die Zukunft der Wiener Akademie der Bildenden Künste. Jürg Altwegg befasst sich in der Zeitschriftenschau mit Schweizer Befindlichkeiten. Auf der Medienseite wird gemeldet, dass dem Kultusteil der Zeit jetzt noch der Rheinische Merkur beigelegt wird.

Besprochen werden Konzerte des Musikfests Berlin.