Heute in den Feuilletons

Wichtig für den Journalismus

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.09.2010. Die Welt stellt die junge finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen vor, deren Roman "Fegefeuer" über estnische Kriegstraumata internationale Erfolge feiert. Die NZZ liest eine Studie und stellt fest: Medienjournalismus entspricht den Kriterien des Metiers noch am wenigsten. Die taz greift der Buchmesse vor und liest neue argentinische Romane. Die SZ beschreibt das nepotistische Regime Sarkozys. Die Karikaturistin Molly Norris, die den Draw-Mohammed-Day ausgerufen hatte, ist verschwunden, berichtet die FAZ.

Welt, 21.09.2010

Judith Lang stellt die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen vor, deren Roman "Fegefeuer" von Estlands Traumata erzählt und bereits Proteste der Putinjugend Nashi hervorgerufen hat: "'Fegefeuer" ist inspiriert durch Geschichten, die Oksanen in ihrer Kindheit erzählt bekommen hat, Erzählungen von traumatisierten Frauen und Männern, die sich im Wald versteckten, aber auch Schilderungen von Traditionen des ländlichen Estlands, 'ein Land, das zu verschwinden droht'. Sie hat diese Geschichten in einen Roman übersetzt und ihnen damit eine neue Sprache gegeben, nicht nur, weil ihr Roman über Estland auf finnisch geschrieben wurde. 'In meiner Kindheit", erklärt Oksanen, "benützte man nie das Wort 'Deportation'. Man umschrieb es mit 'die, die weggebracht wurden'.'"

Brigitte Preissler rühmt Joe Saccos Doku-Comic-Reportage "Bosnien": "Wer wirklich wissen will, was auf dem Balkan los war und ist, muss natürlich immer noch selbst hinfahren. Mit Sicherheit aber ist Saccos 'Bosnien' die zweitbeste Informationsquelle, einen noch gelungeneren Doku-Comic über eine Krisenregion kann es danach sicher nicht mehr geben."

Weiteres: Dankwart Guratzsch widmet sich ausführlich dem Streit um Wärmedämmung und Altbauschutz. Manuel Brug meldet in der Randglosse, dass auch auf dem Theater das iPad die Produktpremiere bestanden hat. Mara Delius fällt auf, dass Tycoons in Kalifornien gar keine Anzüge mehr tragen.

NZZ, 21.09.2010

Stephan Russ-Mohl befasst sich auf der Medienseite damit, wie tendenziös Journalisten über das eigene Haus berichten und konstatiert nach der Lektüre von Medienforscher Stefan Weinachts Studie "Medienmarketing im Redaktionellen": "Weinachts Anfangsverdacht, dass viele Redaktionen willfährig Public Relations für das eigene Haus betreiben, bestätigt sich: Der Einfluss von Marketingeffekten sei in besonderem Maße wahrscheinlich, weil in dieser Konstellation ein Medienunternehmen sowohl Quelle sei als auch jene Instanz, welche die Nachricht auswähle und gestalte. Und, schlimmer noch: ARD und ZDF, die als öffentliche Rundfunkanstalten ihren eigenen Qualitätsanspruch so gerne hochhalten und sich ob ihrer angeblich hohen journalistischen Standards belobigen lassen, übertreffen die privaten Anbieter teilweise sogar noch in puncto Selbstbeweihräucherung. Den Konkurrenten hinwiederum, so Weinacht, begegnen viele Redaktionen mit der Schere im Kopf oder mit Häme."

Im Feuilleton: Uwe Justus Wenzel schreibt zum 150. Todestages Arthur Schopenhauers. Joachim Güntner berichtet über die "Renaissance der Massenproteste" in Deutschland. Besprochen werden das Stück "Orpheus descending" von Tennessee Williams am Theater Basel, Molieres "Tartuffe" im Stadttheater Bern und zwei Auftritte der Wiener Philarmoniker beim Lucerne Festival und Bücher, darunter Georgi Markovs Novelle "Das Portrait meines Doppelgängers" und Wolf Lepenies' Portrait von Auguste Comte (Mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 21.09.2010

Nikolaus Bernau stellt das von dem Berliner Architekten Justus Physall erbaute Luftfahrtmuseum in Krakau vor, um dessen Sammlung sich Polen und die Bundesrepublik streiten. Otto A. Böhmer schreibt zum 150. Todestag Schopenhauers.

Besprochen werden Paul Esterhazys Inszenierung von Aribert Reimanns Oper "Lear" in Kassel, Grete Götzes Inszenierung von "Kabale und Liebe" in Mainz und Michael Hagners Buch über den Hauslehrer Andreas Dippold, der 1903 vor Gericht stand, weil er einen Schüler erschlagen hatte (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 21.09.2010

Einer hat's geahnt, schreibt Sven Lemkemeyer zum Einzug der Rechtspopulisten in das schwedische Parlament: "Henning Mankell ließ seine weltweit bekannte Romanfigur schon vor Jahren Brände in schwedischen Flüchtlingsheimen aufklären und die Leichenteile von ermordeten Asylbewerbern einsammeln. Brutale, aber klare Ansagen waren das, an seine Landsleute und an die Welt: Seht her, auch wir haben hier ein großes Problem, auch wir müssen etwas dagegen tun!" Der Leser "lindblom" setzt als Kommentar hinzu: "Nun war das Ganze fiktiv! Die Übergriffe auf Menschen jüdischen Glaubens und der 'Exodus' jüdischer Familien aus Malmö sind jedoch real! Diesbezüglich hat Hr. Mankell noch nicht Stellung genommen."

TAZ, 21.09.2010

Thomas Wörtche stellt argentinische Romane vor und legt dem Leser besonders die Krimis von Rodolfo Walsh ans Herz: "Sie stehen in einem direkten, auch polemisch geführten Dialog mit dem Übervater der argentinischen Literatur, Jorge Luis Borges. Man kann dabei gut erkennen, wie Walsh das dominante Borges'sche Modell des Krimis als hochartistisches und postmodern (meta-)reflektiertes, intellektuelles Rätsel abbaut. Bei Borges, nachzulesen unter anderem in dem gerade bei Hanser erschienenen Essayband 'Ein ewiger Traum', ist Kriminalliteratur in der Nachfolge von Gilbert Keith Chesterton zu denken: als regelgeleitetes Erzählen, bei dem die allzu starke Einmischung von Realitäten - 'Fingerabdrücke, Folter und Denunzierung', wie Borges die 'alltäglichen Wege der polizeilichen Ermittlung' schon 1935 maliziös beschreibt - nicht erwünscht ist."

Weitere Artikel: Silvia Hallensleben berichtet über eine Kölner Tagung zu Ton im Dokumentarfilm. Unzufrieden betrachtet Julia Grosse in London von ihrem Fitness-Studio aus das Wachsen des "Strata Tower". Und Susanne Messmer hofft, dass Liao Yiwu bei seinen nächsten Auftritten in Deutschland ein interessanteres Publikum hat.

Besprochen werden Luk Percevals "Hamlet"-Inszenierung am Thalia Theater in Hamburg und der Band "Südafrikanische Fotografie 1950-2010" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 21.09.2010

Einen reichlich unkritischen Abend brachte das Berliner Literaturfestival über den islamistischen Fernsehpredigker Yussuf al-Qaradawi, schreibt Christoph Spielberger auf der Achse des Guten: "Er gilt einer Gruppe von Islamwissenschaftlern, darunter der Lehrstuhlinhaberin an der Freien Universität Berlin, Gudrun Krämer, sowie Bettina Gräf vom Zentrum Moderner Orient Berlin als der 'Global Mufti' und als der Gelehrte der neuen Medien (Gräf in einem weiteren Buch: 'Medien-Fatwas@Yussuf al-Qaradawi'). War wenigstens die Wissenschaft bereit, den ganzen Qaradawi zu zeigen? Nach dieser Veranstaltung muss man leider sagen: Nein. Denn, so hieß es, man sei an das Phänomen Qaradawi ganz wissenschaftlich herangegangen, man wolle ihn verstehen, ohne ihn zu kritisieren, man habe deswegen kein politjournalistisches Buch über ihn geschrieben, denn davon gebe es, so Krämer, schon genug."

Thomas Knüwer ärgert sich über den Sexismus der FAS. Deren Spanien-Korrespondent Leo Wieland hatte ausgerechnet in einem Dossier über die Frage, warum so wenig Frauen es in Führungspositionen schaffen, Zapateros "Modepüppchen" (damit sind die sechs Ministerinnen gemeint) als "Boutiquen-Schreck" und "Frau 'Papa-ich-bin-Ministerin'" porträtiert.

Cory Doctorow, gerade auf Deutschland-Tournee, staunt über die feine Ausdifferenzierung der Mülltrennung hierzulande: sogar beim Pinkeln gilt es, das richtige Gefäß zu benutzen.

SZ, 21.09.2010

Johannes Willms, Napoleon-Biograf, schildert den strukturellen Bonapartismus der französischen Republik, der von Sarkozy auf eine absurde Spitze getrieben wird. Und eine der Seiten dieses Bonapartismus ist die Vetternwirtschaft: "Gegen diese Versuchung war, mit Ausnahme von de Gaulle, keiner seiner Nachfolger gefeit. Sarkozy, der sich aufgrund seiner jugendlichen Dynamik den meisten seiner Vorgänger überlegen fühlen mag, hat dieser Versuchung wiederholt und besonders spektakulär nachgegeben. Unvergessen sein Versuch, den eigenen Sohn Jean Sarkozy, der Jurastudent ist, zum gut dotierten Chef eines staatlichen Wirtschaftsunternehmens zu machen."

Weitere Artikel: Der Philosoph Manfred Geier schreibt zum 150. Todestag Arthur Schopenhauers. Marion Gerhard gratuliert dem Historiker Hermann Vinke zum Siebzigsten. Volker Breidecker verfolgte eine Tagung über Pop- und Jazzarchive in Weimar.

Auf der Medienseite berichtet Dirk von Gehlen über einige Neuerungen bei Twitter, die diesen Dienst auch "wichtig für den Journalismus" werden lassen könnten (nun muss sich der Journalismus nur noch darum kümmern, dass er wichtig für Twitter wird!)

Besprochen werden eine Retrospektive des italienischen Architekten Pier Luigi Nervi in Venedig, Molieres "Menschenfeind" an der Berliner Schaubühne, eine Szymanowski-Aufnahme unter Pierre Boulez, die Ausstellung "Amazonen - Geheimnisvolle Kriegerinnen" in Speyer und der von Marie Luise Knott herausgegebene Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Gershom Scholem (Auszug beim Perlentaucher).

FAZ, 21.09.2010

Bekannt wurde die in Seattle lebende Karikaturistin Molly Norris durch eine Mohammed-Karikatur und durch einen "South Park"-inspirierten Aufruf zum Mohammed-Zeichnen. Nach ernst zu nehmenden Todesdrohungen durch den Al-Qaida-Imam Anwar Al Aulaqi ist sie, wie Matthias Rüb berichtet, nun komplett untergetaucht: "Eine Frau dieses Namens hat aufgehört zu existieren. Andernfalls hätte sie mit ihrer Ermordung rechnen müssen.... Man muss den Namen Molly Norris nun in einem Atemzug mit jenen von Theo van Gogh, Lars Vilks und Kurt Westergaard nennen, besser herausschreien. Nur dass es keine Frau mehr gibt, die aus Angst um ihr Leben diesen ihren Namen noch tragen kann."

Wir ergänzen den FAZ-Bericht um die Zeichnung, mit der Norris zum Draw-Mohammed-Day aufrief:



Weitere Artikel: Andreas Kilb hat beim Berliner Literaturfestival den ersten Auslandsauftritt des in seiner Heimat ungedruckten und als Straßenmusiker lebenden chinesischen Schriftstellers Liao Yiwu erlebt. Nach Abschluss der britannischen Papstreise konstatiert Gina Thomas zum einen eine zugunsten Benedikts umgeschlagene Stimmung und resümiert zum anderen innertheologische Diskussionen über den nunmehr seligen Kardinal John Henry Newman. Dirk Schümer berichtet über die Berufung der Sängerin Cecilia Bartoli zur Künstlerischen Leiterin der Salzburger Pfingstfestspiele. In der Glosse mokiert sich Hannes Hintermeier über Druckprobleme der Verlage von Goethe bis Sarrazin. Über eine von der Straßenbahn bedrohte Villa mit musikhistorischer Bedeutung in Stettin informiert Frank Pergande. Elke Heidenreich ist immer noch mit Wagner in China - heute "Siegfried" - und berichtet diesmal über unwürdige Arbeitsbedingungen: "Zu sechst sitzen wir mit vier Laptops in einem winzigen Kellerbüro ohne Fenster, da kann man schon mal Fafner und Fasolt verwechseln." Auf der Medienseite informiert Joseph Croitoru über gewisse Unstimmigkeiten bei der Ausstrahlung einer ägyptischen Fernsehserie über die Muslimbrüder - die zwei letzten Folgen, die sich mit der Ermordung des Bruderschafts-Gründers Hassan al-Banna befassen sollten, wurden aus nicht eindeutig geklärten Gründen nicht ausgestrahlt.

Besprochen werden Luk Percevals Hamburger "Hamlet"-Inszenierung (die Irene Bazinger ziemlich unterkomplex findet), die Eröffnung des Düsseldorfer Ausweichquartiers mit Amelie Niermeyers Inszenierung der "Möwe" (Andreas Rossmann zeigt sich sehr enttäuscht von ganz untschechowschen "Direktheiten"), die Ausstellung "Die Geburt der Romantik" im Pommerschen Landesmuseum Greifswald, Iris Gusners einst verbotener, nun doch noch ins Kino gebrachter DEFA-Film "Die Taube auf dem Dach" und Bücher, darunter zwei neue Studien zu Gustav Meyrink (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Frank Schirrmachers viel diskutierter Artikel aus der FAZ am Sonntag steht jetzt online. Er beschwert sich, dass Angela Merkel das Buch verdammte, bevor es diskutiert werden konnte: "Die gefährlichsten Bücher sind die, die keiner kennt, aber über die jeder eine Meinung hat. Diese Erfahrung prägte das Grundgesetz. Freie Meinungsäußerung, das kann man bei den Müttern und Vätern unseres Grundgesetzes nachlesen, ist nichts wert ohne die Pflicht und die Freiheit zur Unterrichtung." (Und wie war das seinerzeit beim "Tod eines Kritikers"?)