Heute in den Feuilletons

Freier Platz in den Synapsen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.09.2010. In der FAZ sieht Ali Sethi, wie pakistanische Kampfjets gerettet werden, während pakistanische Bauern ertrinken. Die taz berichtet blutige Einzelheiten über den Drogenkrieg in Mexiko. Der Tagesspiegel geht ganz in Thilo Sarrazin auf. In der FR erzählt Karl Schlögel, wie er mit den Toten spricht.

FR, 01.09.2010

Wie schreibt man über Geschichte? Zum Beispiel, indem man sich auf Augenhöhe mit den historischen Personen begibt, meint der Historiker Karl Schlögel im Interview: "Dazu gehört sehr viel, dazu gehört Kompetenz, also wenn ich mit diesem Toten rede, dann muss ich mich in der Zeit auskennen, muss die Begriffe, die in dieser Zeit vorherrschend waren, kennen; ich kann da nicht als ahnungsloser Mensch auftreten, wenn ich ihm gerecht werden will. Die Anstrengung ist eine des Zugehens, des sich Hineinarbeitens in diesen Anderen und seine Welt. Mit Empathie allein ist es nicht getan, sondern es geht um geschichtliches Wissen und kommunikative Kompetenz. Ich habe keine Ambitionen gegenüber diesem Anderen, ich möchte ihm nichts beibringen. Mein Ziel ist eigentlich eine gemeinsame Sprache mit dem Anderen zu finden."

Weiteres: Daniel Kothenschulte annonciert das Filmfestival von Venedig, das heute abend mit Darren Aronofskys Ballettfilm "Black Swan" eröffnet wird. Robert Kaltenbrunner empfindet getrübte Freude über die städtebauliche Renaissance der Innenstädte, denn jetzt gibt es andere "Problemzonen". Besprochen wird eine Ausstellung zu Goethes Farbenlehre im Goethe-Nationalmuseum in Weimar.

Tagesspiegel, 01.09.2010

Der heutige Tagesspiegel ist praktisch eine Sarrazin-Ausgabe geworden. Im Kulturteil äußern sich Feridun Zaimoglu, Hilal Sezgin, Zafer Senocak, Micha Brumlik, Mark Terkessidis (die Sarrazin allesamt für einen Rassisten halten) und Hamed Abdel-Samad. Letzterer schreibt: "Alle Versäumnisse, Hoffnungen und Vorwürfe haben nun eine Adresse: Superman Sarrazin. Alle, die die Integrationsmisere zu verantworten haben, können sich nun auf die Schulter klopfen und sich gegen den Buhmann verbünden. Aber Sarrazin ist lediglich ein Ausdruck davon, dass wir ein Problem haben. Er ist der Überbringer der Botschaft, dass bei uns eine verkrampfte Streitkultur herrscht. Es fehlt eine Atmosphäre, in der ehrliche Kritik zulässig ist und die frei ist von Stimmungsmache, Apologetik und Überempfindlichkeit. Meine bescheidene arabische Intelligenz sagt mir, dass Sarrazin harmloser ist, als was die Medienlandschaft aus ihm machen will. Er kann das Land weder spalten noch heilen."

Mehr Artikel zu Sarrazin auf der Titelseite (hier), in den "Fragen des Tages" (hier), auf der Meinungsseite (hier), auf der Medienseite (hier) und im Wissensteil (hier). Und wem das noch nicht reicht: mehr Links zu Sarrazin in deutschen Medien findet man bei der Achse des Guten.

TAZ, 01.09.2010

Auf den Tagesthemenseiten berichtet Anne Huffschmid nach der Verhaftung des Kartellbosses Edgar Valdez über den Drogenkrieg in Mexiko, der besonders heftig in der Grenzstadt Ciudad Juarez geführt wird: "Allein 2009 wurden im Umkreis der Stadt 2.635 Menschen im Zusammenhang mit dem sogenannten Drogenkrieg ermordet - in einer Stadt mit weniger als anderthalb Millionen Einwohnern. Und das Morden nimmt exponentiell zu: Im Vorjahr waren es 'nur' 1.600, im Jahr davor gerade mal 318. Dahinter steht ein brutaler Verteilungskampf zwischen den Drogenkartellen, die sich in schnell wechselnden Allianzen die lukrativsten Plazas, die Schmuggelrouten und Umschlagplätze, streitig machen. Für Entsetzen sorgt nicht nur der rasante Anstieg, sondern auch die ungeheure Brutalisierung des Mordens. Tote werden demonstrativ an Brücken gehängt, Leichenteile mit der Post verschickt, abgeschlagene Köpfe in Diskotheken geworfen."

Im Feuilleton erzählt Benno Schirrmeister von der überschwänglichen Freude im Oberharz, mit dem Wasserwirtschaftssystem Weltkulturerbe geworden zu sein: "'Bestätigt zu bekommen, dass man auf Augenhöhe mit den Pyramiden von Gizeh steht', sagt Bernhard Reuter, Landrat von Osterode, 'das war Balsam für die geschundene Seele der Harzer.'" Cristina Nord gibt einen Ausblick auf die heute abend eröffnenden Filmfestspiele von Venedig. Besprochen wird Günter Grass' Erzählung "Grimms Wörter". Für die tazwwei trifft sich Cigdem Akyol mit Kim Jon Ryul, einst treuer Anhänger des nordkoreanischen Regimes, der später seine Ermordung vortäuschte, untertauchte und jetzt anklagt. '

Auf der Meinungsseite beschwert sich Robert Misik über die den Hype der Medien um Thilo Sarrazin: "Wieso muss so ein Machwerk über Spiegel und Bild verbreitet und in Talk-Shows wie Beckmann oder 'Hart aber fair' popularisiert werden? Wieso erfährt ein derart krauser Kopf die Ehre, auf zwei Zeit-Seiten interviewt zu werden?" (Nur gut, dass es so viele taz-Kommentare gibt!)

Und Tom.

NZZ, 01.09.2010

Brigitte Kramer erinnert an den argentinischen Schriftsteller Rodolfo Walsh, der vor 33 Jahren aufgrund seiner Veröffentlichungen gegen die Militärdiktatur ermordet wurde. Zwei seiner Werke erscheinen anlässlich der Frankfurter Buchmesse nun auf Deutsch, "Das Massaker von San Martin" und "Die Augen des Verräters". Susanne Ostwald blickt auf die Filmfestspiele in Venedig, die heute abend eröffnet werden. Dieses Jahr stehe Quentin Tarantino der Jury vor, und auch das Programm warte mit großen Namen auf, wie zum Beispiel Darren Aronofsky ("Black Swan"), Julian Schnabel ("Miral") oder Sofia Coppola ("Somewhere").

Weiteres: Besprochen werden der Auftritt des Gewandhausorchester Leipzig unter Riccardo Chailly beim Lucerne Festival, mehrere Kinderbücher (zum Beispiel dieses hier) und eine Studie von Uwe Jochum, "Geschichte der abendländischen Bibliotheken" (Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 01.09.2010

Wieland Freund feiert im Aufmacher die Eloge des amerikanischen Autors Tom McCarthys auf Herges "Tim und Struppi". Eckhard Fuhr sieht die gerade ausgezeichneten Projekte kultureller Bildung auch im Zusammenhang mit Thilo Sarrazin: Das Land schaffe sich nicht ab, sondern erfinde sich immer wieder neu. Daniel Sundermann schreibt die Aufregung um Jonathan Franzens neuen Roman "Freedom" fort. Gerhard Midding erinnert daran, welche Filmproduktionen dank der britischen Filmförderung entstanden sind, die Kulturminister Jeremy Hunt abschaffen will (mehr hier).

SZ, 01.09.2010

In einem etwas sprunghaften Interview deutet der französische Philosoph Michel Serres an, warum wir heute in revolutionären Zeiten leben - vergleichbar nur mit der Renaissance und der Antike im 5. Jahrhundert vor Christus. (Serres hielt vor einem Monat einen Vortrag in Berlin, über den viel berichtet wurde: Hier ein Porträt Serres' in der Wiener Zeitung, hier ein Interview mit Serres im Deutschlandradio, sehr interessant auch ein Interview mit ihm aus dem Jahr 2001 bei Telepolis. Da sagte er: "Sie müssen keine Angst haben, wenn die pessimistischen Philosophen Ihnen heute sagen: ah, mit der Einführung dieser und jener neuen Technologie wird der Mensch diese und jene Fähigkeiten verlieren. Antworten Sie ihnen mit Nein! Denn im präziseren Sinn ist die Befreiung von der erdrückenden Pflicht, diese oder jene Sache tun zu müssen, ein Gewinn. Wir haben wieder Platz, wahrscheinlich sogar freien Platz in den Synapsen des Gehirns, der für gänzlich neue Funktionen zur Verfügung steht, transzendentere als die früheren.")

Kritisch betrachtet Thomas Steinfeld Thilo Sarrazins Vorschläge zur staatlichen Optimierung des Volkskörpers. Ist das nicht typisch sozialdemokratisch? Auch die schwedischen Sozialdemokraten Alva und Gunnar Myrdal überlegten in den 30er Jahren, wie eine Verbesserung des "Volksmaterials" zu erreichen sei, schreibt Steinfeld und rudert dann zurück: "In der letzten Konsequenz allerdings unterscheiden sich Thilo Sarrazin und das Ehepaar Myrdal: Er will, dass sich solche Entwicklungen mit Hilfe von Sozialtechnik 'auswachsen'. Die beiden Schweden hingegen plädieren auch für die Zwangssterilisierung."

Weitere Artikel: Christoph Türcke erinnert an den "Antimodernisteneid", den Papst Pius X. vor 100 Jahren allen Geistlichen abforderte. Roland Huschke besucht Darren Aronofsky, dessen Ballett-Film "Black Swan" die Filmfestspiele in Venedig eröffnen wird. Christine Dössel resümiert Jürgen Flimms "eher glücklose" Zeit als Intendant der Salzburger Festspiele. Für die Reihe "Schule der Kunst" besucht Laura Weissmüller den Fachbereich Industriedesign an der Berliner Universität der Künste und stellt fest, dass die Studenten dort auch einige Überlebensstrategien lernen. Peter Münch schildert einen hitzig geführten Streit über eine Petition von mehr als 50 israelischen Theaterschaffenden, die sich weigern, in jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland aufzutreten (mehr dazu in der Jerusalem Post). Lothar Müller schreibt zum Tod der Medientheoretikerin und Juristin Cornelia Vismann.

Für die Seite 3 besucht Hilmar Klute den ehemaligen Redakteur Hans Stilett, der sich nach der Pensionierung hingesetzt und Montaignes "Essais" übersetzt hat (erschienen 1998 bei Eichborn, demnächst auch als Taschenbuch bei dtv).

Besprochen werden Sebastian Sterns Filmkomödie "Die Hummel", einige CDs und Bücher, darunter Stephan Wackwitz' Essayband "Fifth Avenue. Spaziergänge durch das letzte Jahrhundert" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 01.09.2010

Aus der New York Times druckt die FAZ eine Reportage des Schriftstellers Ali Sethi aus Pakistan nach. Er erlebte mit eigenen Augen, dass, um Kampfjets vor dem Wasser zu retten, ein ganzer Landstrich geflutet wurde - was natürlich Dutzende von Toten zur Folge hatte. Sethi resümiert: "In diesem Land ertrinken Bauern in Reisfeldern, die ihnen nicht gehören, Lehmdörfer versinken in den Fluten, damit etwas weniger entbehrliche Städte gerettet werden, und Dörfer sterben neben Luftwaffenstützpunkten, auf denen die modernsten Kampfjets der Welt stehen. Ein solches Land braucht mehr als nur Hilfe. Es hat Anspruch auf Wiedergutmachung durch all jene, die die Herren im Land sind."

Weitere Artikel: In der Glosse schildert Kerstin Holm die Hintergründe des Selbstmords eines russischen Weltkriegsveteranen. Auf der Medienseite fasst Karen Krüger die recht zurückhaltenden Reaktionen türkischer Medien auf Thilo Sarrazins Thesen zusammen. Michael Hanfeld weist auf die heute Nacht in der ARD laufende Dokumentation "Hart und herzlich" über eine türkische Lehrerin hin, die an einer Schule in Gelsenkirchen auf verlorenem Posten scheint. ("'Du Christ' ist ein gängiges Schimpfwort.") Auf der Geisteswissenschafts-Seite porträtiert Anja-Rosa Thöming den Komponisten Marc-Antoine Charpentier, der unter Ludwig XIV. tätig war. Und auf der DVD-Seite werden neun wichtige angelsächsische Fernsehserien kurz vorgestellt, von "In Treatment" bis "Mad Men".

Besprochen werden die Ausstellung "Le arti di Piranesi" in Venedig, Radu Judes Filmsatire "The Happiest Girl in the World" (mehr) und Bücher, darunter Maria Angels Angladas Roman "Die Violine von Auschwitz" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).