Heute in den Feuilletons

Reproduktion romantisierender Vorstellungen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2010. Tony Judt ist tot: (Fast) alle Zeitungen bringen ausführliche Nachrufe. Wir verlinken auf die wichtigsten Artikel von der New York Review of Books bis zur Jerusalem Post. In der taz meint Lars Rensmann: Israelkritiker sollten auch die Palästinenser endlich mal als handelnde Subjekte wahrnehmen. In der FAZ schildert der Schriftsteller Abbas Khider sehr eindringlich die Zensurpolitik in Ägypten. Die SZ besucht ein Gewächshaus auf einem Dach im Wedding, das nur duch einen Anker am Wegfliegen gehindert wird.

TAZ, 09.08.2010

Auf der Meinungsseite nimmt der Politologe Lars Rensmann in Antwort auf die Kommentare von Daniel Bax (hier) und Armin Pfahl-Traughber (hier) den Orientalismus einiger Israelkritiker aufs Korn: "Manche Linke spielen den islamistischen Antisemitismus jedoch herunter. Sie schauen weg, wenn islamistische 'Märtyrer' judenfeindliche Gesänge anstimmen oder einem Gewaltkult frönen, und fühlen sich selbst dann noch moralisch überlegen, wenn sie mit türkischen Rechtsradikalen in einem Boot sitzen. Dies kündet von einem 'verdrehten Orientalismus' unter postkolonialen Vorzeichen, der die Leiden der Palästinenser instrumentalisiert. In Reproduktion romantisierender Vorstellungen vom 'edlen Wilden' erscheinen die Palästinenser als grundsätzlich gut und immer als Opfer, nicht aber als handelnde Subjekte mit eigenen Ideen und eigener Verantwortung."

Im Kulturteil erzählt der Belgier Christophe Szpajdel, wie er zum bekanntesten Schriftdesigner der Metal-Szene wurde: "Das erste Logo, das ich für eine Band gemacht habe, war 1990 für Disgrace aus Finnland. Ihre Musik war super, aber sie hatten ein Logo in Times New Roman. Eine stinknormale Schrift! Jede Band kann so ein Logo haben! Also habe ich ihnen ein neues angeboten. Sie mochten es und haben es für ihr zweites Demo verwendet."

Weiteres: Regine Müller berichtet vom Theaterfestival in Epidaurus. Philipp Goll hörte in Berlin einer ziemlich absurd anmutenden Diskussion über die Universität und die Studentenstreiks 2009 zu. Besprochen werden Bücher, nämlich Stig Dagermans Roman "Schwedische Hochzeitsnacht" und Ole Frahms Untersuchung der "Sprache des Comics" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 09.08.2010

Gleich zwei Nachrufe bringt der Guardian zu Tony Judt. Geoffrey Wheatcroft feiert (neben anderen Lebensleistungen) sein Engagement gegen Israel. Peter Kellner schreibt (unter dem gleichen Link): "To those who did not know him well, Tony Judt was a bundle of contradictions: an idealist who could be scathingly critical of those who shared his ideals; a Jew, immensely proud of his heritage, who came to be hated by many Zionists; a very European social democrat who preferred to live in America."

Für Europa lehnte Tony Judt die Idee der Aufgabe von Nationalstaaten ab, heißt es im Nachruf der Jerusalem Post: "Judt was extremely pessimistic about attempts to create a politically homogeneous Europe devoid of borders and cultural distinctions. For Israel, by contrast, the time has come to 'move on,' to 'think the unthinkable,' to replace the Jewish state with 'a single, integrated, bi-national state of Jews and Arabs,' in his vision. For Judt, European particularism was an undeniable fact, but the Jewish variety was outdated." Hier außerdem der ausführliche Nachruf in der New York Times.

Die New York Review of Books, Judts hauptsächlicher Publikationsort, präsentiert ein ganzes Dossier. Hier kann man auch seinen höchst umstrittenen Essay "Israel: The Alternative" nachlesen.

NZZ, 09.08.2010

Brigitte Kramer besichtigt in Santiago de Compostela die neue von Peter Eisenman entworfene Cidade da Cultura de Galicia: "Die Achsen werfen sich hier auf, dort ziehen sie sich zusammen und schaffen so bald aufgeblähte, bald geschrumpfte Räume. Eisenman nennt sie eine 'Mischung aus Zeit, Raum und Bedeutung'."

Marc Zitzmann besucht Jean Cocteaus Haus in Milly-la-Foret. Thomas Schacher berichtet vom Festival der Zukunft in Ernen. Und schließlich wird noch eine Rede des künftigen Intendanten der Müncher Kammerspiele, Johan Simons, abgedruckt, in der dieser von niederländischen und deutschen Theatertraditionen spricht.

FR, 09.08.2010

Flutkatastrophe in der FR: Christian Thomas protokolliert ausufernd, wie er Samstagabend vor dem Fernseher Hochwasser-Nachrichten über sich ergehen ließ. In der Reihe zur Willensfreiheit erklärt heute der in Zürich Philosophie lehrende Lutz Wingert, wie die Neurowissenschaften Erkenntnisse anderer Disziplinen über Bord werfen: indem sie ihnen den wissenschaftlichen Rang absprechen. In seinem Nachruf auf Tony Judt schreibt Arno Widmann anerkennend: Er war für die "Kritik im Handgemenge".

Besprochen wird Nino Haratischwilis Debütroman "Juja" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 09.08.2010

Franziska Augstein würdigt Tony Judt als aufrechten Sozialdemokraten und schildert voller Bewunderung seinen Kampf gegen die schreckliche Lou-Gehrig-Krankheit. Seine Meisterschaft als Autor lag vor allem in den Porträts großer Intellektueller, meint sie: Sie "zeigen sein Können in Vollendung: Sie sind lehrreich, unterhaltsam, prägnant."

Laura Weißmüller stellt einige der seltenen Beispiele neuen Bauens in Berlin vor, zum Beispiel ein schlichtes und preisgünstiges Gewächshaus (Bilder), das der Architekt Christof Mayer einem jungen Paar auf das Dach eines Weddinger Hauses stellte: "Sein Wegfliegen verhindert ein Anker aus Stahlbeton. Wenn es regnet, müssen die jungen Hausherren lauter sprechen - das Wasser trommelt dann dröhnend auf das Dach. Und wo der Laptop aufgeklappt wird, bestimmt der jeweilige Sonnenstand."

Weitere Artikel: Niklas Hofmann will in den "Nachrichten aus dem Netz" nicht an Googles Dementi in Sachen Netzneutralität glauben. Nachgedruckt wird ein New Yorker-Essay Malcolm Gladwells über die Frage, ob Genies immer Wunderkinder sein müssen, der einem heute bei Campus erscheinenden Buch entnommen ist (hier eine Auswahl seiner Essays auf Englisch).

Besprochen werden eine Ausstellung über über die Kleidung der "der mit 174 cm Körpergröße und Schuhgröße 41 gar nicht so zierlichen" (so Gustav Seibt) Königen Luise in Schloss und Dorfkirche Paretz bei Potsdam, Mahler-Konzert mit Valery Gergiev und dem "World Orchestra for Peace" in Salzburg, und Bücher, darunter ein Erzählband der Schauspielerin Franka Potente (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 09.08.2010

Der Schriftsteller Abbas Khider berichtet von schweren Repressionen gegen Journalisten und Blogger in Irak und Ägypten: "Ägyptische Aktivisten beschuldigen zwei Polizisten, [im Juli 2010] den jungen Khaled Said in Alexandria auf offener Straße totgeprügelt zu haben. Der offiziellen Schilderung zufolge sei er an einem Beutel mit Drogen erstickt, den er voller Panik geschluckt habe, um ihn vor den Polizisten zu verstecken, die ihn filzen wollten. Augenzeugen hingegen berichteten, dass zwei Polizisten in Zivil das Internet Cafe betraten, in dem sich Said zu diesem Zeitpunkt aufhielt, und nach seinem Ausweis verlangten. Als er sich weigerte, schlugen sie ihn vor den Augen der Cafebesucher, bis er sich kaum noch rührte, und schleppten ihn mit sich. Angeblich war er gerade damit beschäftigt, ein Video hochzuladen, das einen Handel zwischen Polizisten und einigen Drogendealern zeigt." In Karim El-Gawharys taz-Blog "Arabesken" wird der Fall im übrigen genau beobachtet.

Weitere Artikel: Der Interviewer als Wirbelsturm: Erstmals auf Deutsch druckt die FAZ Mark Twains Essay "Warum ich keine Interviews mag", der erst kürzlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde (hier Scans des Manuskripts und ein Abdruck der Originalfassung). Jordan Mejias liest amerikanische Zeitschriften zur bevorstehenden Machtübernahme der Frauen. Zum 50. Geburtstag der Figur Jim Knopf hat Julia Voss einen bislang unbekannten Brief von Michael Ende an eine Schülerin gelesen. Lorenz Jäger würdigt in seinem Nachruf das antizionistische Engagement des Historikers Tony Judt.

Besprochen werden das Berliner Jugendorchesterfestival Young Euro Classic, die im Netz veröffentlichten Fotocollagen von Sergej Larenkow (der, wie Andreas Kilb mitteilt, kein Profi, sondern hauptberuflich Seelotse in Sankt Petersburg ist), zwei Ausstellungen in Den Haag und Vitry-Sur-Seine mit Arbeiten der Künstlerin Jorinde Voigt und Bücher, darunter die machttheoretische Studie "Der Google-Komplex" des Kulturwissenschaftlers Theo Röhle (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).