Heute in den Feuilletons

Hervorbringung von Einfachheiten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.08.2010. In Slate schildert Christopher Hitchens die Reaktion Hugo Chavez' auf die Knochen von Simon Bolivar. Jeremy Bernstein erzählt im Blog der New York Review of Books, wie er Duke Ellingtons Trompeter an Nat King Cole vermitteln wollte. Die Inszenierung der Salzburger "Lulu" kam nicht so gut: Die Beurteilung des Dirigenten hing offenbar ab von der Platzierung des Kritikers: Manche sprechen von Transparenz, manche von Intransparenz.

FR, 03.08.2010

Der Schriftsteller Jan Wagner hat Fernando Pessoas im Frühjahr auf Deutsch erschienene Schrift "Genie und Wahnsinn" gelesen. An Pessoas elitärem Dünkel stört er sich schon sehr, aber hingerissen haben ihn die Passagen über das Genie, die "große Schlaflosigkeit", die "höhere Helligkeit", die auch Pessoa nicht nur aus sich selbst schöpfte: "Die schiere Menge an Angelesenem droht hier und da sogar die originellen, die boshaften, die geschliffenen Partien zu erdrücken, obwohl Pessoa selbst sein schöpferisches Ideal so einprägsam formuliert: 'Der geniale Mensch ist einfach nur der Schöpfer einer neuen Einfachheit. Man mag es annehmen: Es ist so. Das Erschaffen von Komplexitäten steht in der mentalen Kraft von irgendeinem Individuum (ausgestattet mit einem Stückchen Gehirn). Jedoch ist die Hervorbringung von Einfachheiten kompliziert.'"

Weiteres: "Spannende Bühnenaktion mit unbefangen rauen Effekten" hat Hans-Klaus Jungheinrich in Vera Nemirovas Salzburger "Lulu"-Inszenierung genossen. Jürgen Otten gratuliert dem Faure Quartett zu seinem 15-jährigen Bestehen. In Times mager seufzt Harry Nutt noch einmal: "Armes Duisburg." Besprochen wird Jan-Pieter Barbians Studie "Literaturpolitik im NS-Staat" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite darf heute Peter Münder vor Israel warnen, Anlass ist ihm ein seit drei Jahren existierendes konservatives Gratisblatt: "Linksliberale Kritiker sehen jetzt die Pressefreiheit in Gefahr, weil sich das Blatt als Benjamin 'Bibi' Netanjahus propagandistisches Sprachrohr versteht."

Aus den Blogs, 03.08.2010

Christopher Hitchens schildert in Slate, wie Hugo Chavez neulich das Skelett Simon Bolivars exhumieren ließ und später ausrief: "I had some doubts, but after seeing his remains, my heart said, 'Yes, it is me.' Hitchens' Kommentar: "Not since North Korean media declared Kim Jong-il to be the reincarnation of Kim Il Sung has there been such a blatant attempt to create a necrocracy, or perhaps mausolocracy, in which a living claimant assumes the fleshly mantle of the departed." Eine genauere Beschreibung der Szene findet sich auch in der Washington Post.

Jeremy Bernstein erzählt im Blog der New York Review of Books sehr hübsch, wie er sich in seiner Jugend mit Musikern des Duke Ellington Orchestras anfreundete, darunter dem Trompeter William Alonzo "Cat" Anderson: "Cat and I became good friends, and one day he told me that he wanted to start his own band but did not have the money. I had an idea. Nat 'King' Cole was performing at one of the Broadway theaters. I said that I would go and talk to him about it. Of course I had never met Cole but I had a lot more audacity than I have now. I went to the theater and actually spoke to Cole in his dressing room. I just walked in. He must have wondered what a white high school kid was doing there but he heard me out and then said no."

Die Washington Post hat Newsweek an den 91-jährigen Millionär Sidney Harman verkauft. David Kaplan kommentiert in paidcontent.org: "Harman is treating his new property as a philanthropic venture. Essentially, he sees his 'primary responsibility' as building a succession plan for Newsweek, which involves leaving it either to his heirs or to an outside owner after he passes away. Even if the Harman heirs-there are four children and three grandchildren-were media geniuses, they would have a tough time figuring out how to reverse the magazine's fortunes."

NZZ, 03.08.2010

In einer Randglosse widmet sich Uwe Justus Wenzel den Restlaufzeiten deutscher AKWs. Besprochen werden die Inszenierung von Alban Bergs "Lulu" von Vera Nemirova ("sehr respektable Arbeit", meint Peter Hagmann) und Bücher, nämlich Alexander von Villers Briefe eines Unbekannten, Gedichte des iranisch-deutschen Lyrikers Said, Siri Hustvedts Roman "Die Zitternde Frau" und Valeria Parrellas Roman "Zeit des Wartens" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 03.08.2010

In der Reihe "Der Leser, das unbekannte Wesen" tröstet Wolf Lepenies die Branche mit launigen Anekdoten über die Geschichte der Zeitung, zum Beispiel mit dieser über den britischen Faschistenführer Oswald Mosley, der bei seinem Publikum nicht allzu viel Erfolg hatte: "Wie er einem Parteifreund schrieb, störte es ihn nicht, dass politische Gegner ihn in Wahlversammlungen mit Obst und Gemüse bewarfen. Aus der Fassung brachten ihn seine Gegner, als sie in den Wahlversammlungen die ersten Reihen besetzten und anfingen, Zeitung zu lesen, sobald der Faschistenführer zu sprechen anfing. Nicht auszudenken, wie die deutsche Geschichte verlaufen wäre, hätten vor 1933 bei den Auftritten Adolf Hitlers die Menschen demonstrativ Zeitung gelesen."

Außerdem: Andreas Rosenfelder freut sich über Woody Allens Wunsch, einen Film in Deutschland zu drehen. Und Manuel Brug ist nicht einmal über die Leistung des Dirigenten Marc Albrecht bei der Salzburger "Lulu" wirklich froh: "In dem weitläufigen Ambiente verschwimmen alle zarten Instrumentierungsdetails."

TAZ, 03.08.2010

Micha Brumlik stellt drei Bücher zum Nahostkonflikt vor. Brigitte Werneburg blättert durch das "Modebuch Berlin". Susanne Knaul erzählt von der geplanten Öffnung des "Cinema Jenin" in Dschenin/Westjordanland. Ilija Trojanow warnt vor einem Zusammenwirken von Google und Geheimdiensten. Frauke Böger konfrontiert Bastian Finke, Leiter der Beratungsstelle für Opfer homophober Gewalt Maneo, streng mit Rassismusvorwürfen gegen seine Beratungsstelle, weil Maneo es wagt, nach der ethnischen Herkunft von Angreifern auf Homosexuelle zu fragen.

Besprochen werden eine Ausstellung des fotografischen Frühwerks von Nobuyoshi Araki in den Hamburger Deichtorhallen und Stephan Wackwitz' Essayband "Fifth Avenue" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 03.08.2010

Der Münchner Palliativmediziner Gian Domenico Borasio plädiert im Aufmacher zwar nicht für aktive Sterbehilfe, wie sie in den Niederlanden und Belgien praktiziert wird, aber doch für die Möglichkeit eines assistierten Suizids, der die Ärzte nicht mehr zwingt wegzusehen, wenn unheilbar Kranke ihr Leiden beenden wollen. Gustav Seibt besucht die Weimarer Ausstellung über Goethes Farbenlehre. Fritz Göttler gratuliert Martin Sheen zum Siebzigsten, Andrian Kreye dem Freejazz-Musiker Roscoe Mitchell zum ebensovielten. Till Briegleb zieht eine Zwischenbilanz der IBA 2013 in Hamburg. Kristina Maidt-Zinke unterhält sich mit dem Dirigenten Alessandro De Marchi, der die Festwochen für Alte Musik in Innsbruck übernimmt.

Besprochen werden außerdem die Bayreuther "Götterdämmerung" unter Christian Thielemann, Alban Bergs 'Lulu' in der Regie von Vera Nemirova mit den Bildern von Daniel Richter (mehr als die Regie begeistert Wolfgang Schreiber die Arbeit der Wiener Philharmoniker unter Marc Albrecht: "Die 'schillernd' aufgefächerte Partitur bekommt somit eine Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, fast Unbeschwertheit, die man dem Stück noch immer kaum zutraut") und Bücher, darunter Karl-Heinz Götterts Biografie der deutschen Sprache.

FAZ, 03.08.2010

Sehr gut gefallen hat Kerstin Kröger die Eröffnungsausstellung des neuen Kunsthauses Arter in Istanbul. Entdeckt hat sie dabei die Videoarbeiten des in Finnland lebenden Exil-Irakers Adel Abidin: "In seinem Video "Foam" fragt Adel Abidin nach der Wesensart der Fundamentalisten: "Nach der Tradition, wie Friseurlehrlinge in Abidins Heimat ihr Handwerk lernen, bestreicht ein kleiner Junge einen schwarzen Luftballon fast zärtlich mit weißem Rasierschaum, so dass ein üppiger Vollbart entsteht, zieht dann mit einem Messer den Schaum vorsichtig von der empfindlichen Gummioberfläche ab. Beinahe ist es ihm gelungen, da knallt es, platzt der Luftballon und taucht den Friseurstuhl in blutrote Farbe. Ein neuer schwarzer Luftballon erscheint, ein anderer Junge macht sich ans Werk, wieder wird die Blase platzen, wieder ist der Stuhl am Ende blutrot und leer - es ist eine Endlosschleife aus messerscharfer vorsichtiger Annäherung und mutwilliger Selbstzerstörung." Einen Ausschnitt aus "Foam" (sowie zahlreiche weitere aus Abidins Videos) findet man auf Vimeo.

Weitere Artikel: Mark Siemons wundert sich, dass in China der Marxismus gerade eine Renaissance in Forschung und Journalismus erlebt. Diese allerdings sollte nicht täuschen: Unter dem Begriff, so Siemons, sammeln sich alle möglichen Politikarten, die lediglich ihre Opposition zur westlichen Demokratie eint. Kerstin Holm berichtet von den verheerenden Bränden, die derzeit rund um Moskau wüten und denen schon mehrere Dörfer zum Opfer gefallen sind (The Big Picture verdeutlicht mit einer Fotostrecke die Situation). Sabine Frommel hofft auf dringend benötigte staatliche Unterstützung zur Restauration des Pariser Pantheons, dessen Zustand sich zusehends verschlechtert. "Für juristisch falsch, aber moralisch richtig" hält der Hamburger Juraprofessor Reinhard Merkel das (bislang nur als Pressemitteilung vorliegende) Urteil des Bundesgerichtshof, das die Präimplantationsdiagnostik am Embryo erlaubt.

Besprochen werden die Aufführung von Alban Bergs Oper "Lulu" bei den Salzburger Festspiele und Bücher, darunter Heinrich Deterings "Der Antichrist und der Gekreuzigte" über Friedrich Nietzsches letzte Texte und Briefe (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).