Heute in den Feuilletons

Schon wahnsinnige Dithyramben

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2010. Die NZZ findet: Eine offene Gesellschaft soll vermummten Frauen mit einer Portion Gleichgültigkeit begegnen. Laut Welt ist Sri Lanka den Russen für ihr Engagement gegen Menschenrechte sehr dankbar. Die FAZ schildert bei einem Glas Wein, wie bei Wolfgang Rihm die musikalische Ebene ungehindert herbeifließt. Die taz besingt die Renaissance des Harris Tweeds.

NZZ, 19.07.2010

Uwe Justus Wenzel resümiert wohlwollend Martha Nussbaums Essay gegen das Burkaverbot aus der New York Times, gibt etwas Sartre dazu und schließt: "Wem das wiederum zu unbehaglich, zu metaphysisch oder zu anstrengend erscheint, der könnte immerhin noch lebenspraktisch darauf hinweisen, dass es im öffentlichen Raum offener und also toleranter Gesellschaften zumindest auch darauf ankomme, den Differenzen des In-Erscheinung-Tretens der Menschen mit einer gewissen Portion Indifferenz zu begegnen."

Weitere Artikel: Karl-Markus Gauß schickt eine Reportage aus dem burgundischen Beaune, wo er einem sehr dramatischen Grimassierer begegnete. Sieglinde Geisel besichtigt Berlins neu entwickeltes Stadtviertel am Alten Schlachthof und kann melden, dass es für einen Münchner keine Strafe mehr sei, wenn er nach Berlin versetzt wird." Und Marc Zitzmann ließ sich auf dem Festival d'Aix-en-Provence vom "Geist des Suchens und Versuchens" umwehen.

Aus den Blogs, 19.07.2010

Der deutsche Orthopädiechic erlebt nach Birkenstock und Dr.Scholl ein drittes Wunder, berichtet Jessica Grose in Slate: Sandalen von Wörishofer. Hier ein besonders prächtiges Exemplar getragen von der hinreißenden Maggie Gyllenhaal.

Paidcontent.org berichtet über erste Zahlen des Bezahl-Modells in Rupert Murdochs Londoner Times. Demnach haben sich 150.000 Lreser registriert und 15.000 bezahlen seitdem ein Online-Abo. Angeblich ist der Konzern über diese Zahlen enttäuscht. Robert Andrews kommentiert in paidcontent.org: "If true, this suggests that 12 percent of Times Online?s pre-wall daily audience created an account during the first-month-free period, then a tenth of them have paid."
Stichwörter: Birkenstock, Murdoch, Rupert

Welt, 19.07.2010

Roger Willemsen plaudert über Stummfilme (im Berliner Babylon wird gerade eine Stummfilm-Reihe gezeigt) und sagt über Buster Keaton: "Der hat kurz vor seinem Tod noch 'Film' gedreht, ohne Dialoge und Musik nach einem Drehbuch von Samuel Beckett. Es gibt Fotos, da sehen sich die beiden fassungslos an und halten sich für einen Irrtum der Natur." Stimmt zwar nicht, aber die Fotos vom Set - hier und hier - sind trotzdem toll.

Außerdem: In der Leitglosse erzählt Marko Martin, wie es dazu kam, dass "spontane Demonstranten" im sri-lankischen Colombo Blumen vor der russischen Botschaft niederlegten - "ein Dank an Moskau, das sich entschieden engagiert gegen die Einrichtung einer neuen UN-Kommission zu Ahndung [von] Menschenrechtsverletzungen". Uwe Wittstock berichtet über eine Marbacher Tagung über "Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik". Luise von Preußen wird gerade "zur Ikone einer neuen Bürgerlichkeit", meint Eckhard Fuhr.

Besprochen werden der Comic "Greek Street", die Ausstellung "Bunte Götter" im Pergamonmuseum und einige CDs u.a. mit einem Ballett des mexikanischen Komponisten Silvestre Revueltas.

Hier eine Aufnahme von Revueltas' "Sensemaya" mit dem Orquesta Sinfonica de la Juventud Venezolana Simon Bolivar unter der Leitung von Gustavo Dudamel:


FR, 19.07.2010

Auf den vorderen Seiten schreibt Arno Widmann zur Gründung des Zentralrats der Juden heute vor sechzig Jahren. In seinem Vorstand saß neben Heinz Galinski und Hendrik George van Dam auch Philipp Auerbach. 1951 wurde dem Auschwitzüberlebenden der Prozess gemacht: "Unter anderem wegen Amtsunterschlagung, Veruntreuung, Erpressung und Betrug. Richter Josef Mulzer war ehemaliger Oberkriegsgerichtsrat. Ein Beisitzer war ehemaliges SA-Mitglied. Der weitere Beisitzer, der Vorsitzende, die Staatsanwälte und der psychiatrische Sachverständige waren ehemalige NSDAP-Mitglieder. Der bayerische Justizminister Josef Müller (CSU), der beliebte 'Ochsensepp', höhnte Auerbach 'den König der Juden'. Auerbach wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und 2700 Mark Geldstrafe verurteilt."

Weiteres: In der von der Hirnfoschung angestoßenen Diskussion um das Prinzip der Schuld im Strafrecht erklärt der Strafrechtler Klaus Lüdersen im Interview, dass er erst mal gern Beweise für die Nichtexistenz des Ichs sehen würde, bevor er über die Schuldfrage debattiert. Rolf Spinnler berichtet von einer Tagung zu "Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik" im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Als Warnung für alle will Judith von Sternburg Times mager den peinlichen Fall Orlando Figes verstanden wissen, der nun zugegab, bei Amazon negative Kritiken über seine Kollegen selbst verfasst zu haben, und dafür jetzt Schadensersatz zahlt.

Besprochen werden Aufführungen der Wormser Nibelungen-Festspiele und Matthias Schultheiss' Comic "Die Reise mit Bill".

TAZ, 19.07.2010

Nach Jahren des Niedergangs lebt die Tweedproduktion wieder auf, berichtet Jan-Frederik Bandel, der sich darüber mit Brian Wilson unterhalten hat. "Wilson, von 1987 bis 2005 Abgeordneter der Labour-Partei im Parlament, gründete Ende 2007 Harris Tweed Hebrides, um der Misere abzuhelfen: Finanziert vom Energieriesen Vitol, dessen Präsidenten Wilson bei einem Dinner mit Fidel Castro kennengelernt hatte, übernahm die neue Firma eine Stoffmühle in Shawbost auf Lewis und jede Menge Aufträge. Schließlich hatte Haggas den Handel für ein gutes Jahr komplett stillgelegt. 'Jetzt sind wir unglaublich beschäftigt. Die Weber arbeiten pausenlos, und unser größtes Problem ist es, Nachwuchs zu finden und auszubilden, um die Zahl der Weber zu halten. Wir haben 120 Weber, die für uns arbeiten. Sie tun dies zu Hause und selbständig.'"

Besprochen werden die Ausstellung "Goodbye London" in der Berliner NGBK, die Ingo-Maurer-Ausstellung im Berliner Bauhaus-Archiv und das "zauberhafte" Theaterprojekt "Big Bang" von Philippe Quesne auf Kampnagel Hamburg.

Und Tom.

FAZ, 19.07.2010

Julia Spinola geht Essen mit Wolfgang Rihm. Man spricht über Rihms jüngste Komposition "Dionysos", beruhend auf Nietzsches schon wahnsinnigen Dithyramben, die in Salzburg zur Uraufführung kommt. Man spricht über das Apollinische und das Dionysische. Der Wein mundet. Der Künstler berichtet. "Jeden Morgen stürmt der Komponist zum Schreibtisch, um zu schauen, wie es weitergeht. 'Die musikalische Ebene fließt ungehindert herbei' und wird unmittelbar in Partitur überführt. Szene für Szene wird sogleich dem Verlag zum Druck geschickt. Das Libretto hat Rihm sich selbst geschrieben, jedoch nur Worte der Vorlage von Nietzsche verwendet. Nicht ohne Stolz stellt er fest, dass es sich liest wie eine 'absurde Dichtung irgendwo zwischen Ezra Pound und Karl Valentin'".

Weitere Artikel: Joseph Hanimann sichtet Vorschläge zum Pariser Stadtumbau, von einer vollautomatischen Metro über die Verclusterung nach Schwerpunktbereichen bis hin zum Hinweis, Paris liege doch praktisch am Meer und solle das nutzen. Eine offenbar gar nicht langweilige Marbacher Tagung zum Thema "Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik Deutschland (1949 bis 2009)" hat Oliver Jungen besucht. In der Glosse teilt Dirk Schümer mit, dass das Museum in Dordrecht Freiwillige gefunden hat, die sich Kunstwerke für immer und ewig auf die Haut tätowieren lassen und während des Museumsumbaus so auch der Öffentlichkeit präsentieren. Matthias Grünzig bewundert die gelungene Theatersanierung in Eisenhüttenstadt. Ingeborg Harms liest in deutschen Zeitschriften unter anderem über die Krise des Mannes und die Martialfeministin Valerie Solanas.

Wie Wassili Wereschtschagins Schlachtgemälde mit Roosevelt "Sturm des San-Juan-Hügels" in ein Hotel in Kalifornien gelangt ist, weiß Kerstin Holm zu berichten. Hannes Hintermeier blickt voraus auf das für den Winter avisierte, vom Schriftsteller Ilja Trojanow kuratierte, sehr groß gedachte Literaturfest München. Lisa Zeitz porträtiert die New Yorker Galerieleiterin Hildegard Bachert. Geburtstagsglückwünsche gehen an den Verleger und Carl-Schmitt-Schüler Gerd Giesler (70) und die Schauspielerin Vera Tschechowa (70)

Besprochen werden die Ausstellung "Chic aus Bonn und Ostberlin" im Thüringer Museum für Volkskunde in Erfurt, und Bücher, darunter Hubert Damischs Lacan-inspirierte kunstgeschichtliche Studie "Der Ursprung der Perspektive" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 19.07.2010

Für die Medienseite hat Andrian Kreye ein Pool-Interview mit dem Wikileaks-Gründer Julian Assange besucht, der auch über den neuen Presseschutzhafen in Island spricht. Immer mehr Verleger suchen nach einem sicheren Ort für ihre Produktion, erklärt Assange. "Wir wussten, dass es einen Markt für die Umsiedelung von Verlegern geben würde. Das spiegelt auch die schwedischen Erfahrungen, eine größere Anzahl von Verlegern ist ja schon nach Stockholm geflohen. Wir zum Beispiel, die American Homeowners Association, die in den USA von verschiedenen Firmen verklagt wird, bis hin zu tschetschenischen Nachrichtenorganisationen, sowie das Rick Ross Institute, eine Organisation, die den Missbrauch in religiösen Gruppen und Kulten aufdeckt und von ihnen verklagt wird. Malaysia Today wird in Singapur und den USA verlegt. Es handelt sich da wirklich um einen neuen Typus Flüchtling."

Im Aufmacher diagnostiziert Johan Schloemann eine Erosion des politischen Konservatismus in Deutschland. Alexander Menden meldet, dass der Historiker Orlando Figes, der sich durch die Verrisse von Kollegenbüchern auf den Seiten von Amazon gründlich blamierte, den Verrissenen nun Entschädigung zahlen will. Camilo Jimenez erzählt, dass nicht wenige mexikanische Musiker sich mit der Drogenmafia gemein machen, die sie in Liedern des "narcocorrido" verherrlichen - aber auch dies Geschäft ist nicht ohne Risiko wie der Tod des Sängers Sergio Vega im Kugelhagel belegt. Dokumentiert wird eine Rede des Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste Dieter Borchmeyer, der die stiefmütterliche Behandlung der Akademie durch die bayerische Kulturpolitik beklagt. Burkhard Müller besucht das neu eröffnete Ägyptische Museum der Universität Leipzig. In den "Nachrichten aus dem Netz" stellt Franziska Schwarz Bildsuchmaschinen wie TinEye (hier) und Gazopa (hier) vor. Egbert Tholl unterhält sich mit dem ungarischen Regisseur Balazs Kovalik, der gerade bei der Budapester Oper geschasst wurde und weitere Entlassungen kritischer Kräfte durch die neue rechte Regierung in Ungarn fürchtet. Auf der Literaturseite fragt sich Klaus Englert, ob Jacques Derrida, der heute achtzig Jahre alt geworden wäre, das Fegefeuer, in das seine Werke jetzt eingetreten sind, überleben wird.

Besprochen werden Gioacchino Rossinis "Il viaggio a Reims" in Baden-Baden, neue DVDs, Stücke des Kaltstart-Festivals in Hamburg und Bücher, darunter Comics der "Sandman"-Serie.