Heute in den Feuilletons

Der Voyeur kann gar nicht anders

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.07.2010. In der Zeit erklärt der Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins, Roger Willemsen, warum er gern mit den Taliban zusammenarbeitet. In der FAZ plädiert David Grossman für ein Waffenstillstandsgebot Israels an Hamas. Alle Feuilletons dienen der Wahrheitsfindung über Fritz Teufel. Wie explosiv müssen Witze gewesen sein, die Zehntausende in den Gulag brachten? fragt Gerd Koenen in Spiegel Online.

Spiegel Online, 08.07.2010

Gerd Koenen liest Ben Lewis' Studie "Das komische Manifest - Kommunismus und Satire, 1917 - 1989" fürchtet aber, dass selbst beim Sturz des Kommunismus "die korrodierende Macht des Humors bei diesem Weltereignis noch kaum recht gewürdigt worden ist. Sicherlich war es eine emphatische Übertreibung, als George Orwell einst sagte, 'Jeder Witz ist eine kleine Revolution'. Schön wär's. Dennoch muss man erst mal erklären, warum Zehn- oder Hunderttausende für nichts als einen saftigen Witz oder Mutterfluch wegen 'antisowjetischer Propaganda' in die Lager geschickt worden sind."

Aus den Blogs, 08.07.2010

Charles Simic liest für das Blog der New York Review of Books Robert K. Elder's Buch "Last Words of the Executed" über die letzten Worte amerikanischer Delinquenten vor der Hinrichtung. ein Beispiel: "'Don?t worry about me. I'm okay. They are not shooting me for deserting the United States Army - thousands of guys have done that. They're shooting me for bread I stole when I was 12 years old.' (Edward Donald 'Eddie' Slovik,? convicted of desertion in northeastern France and executed on January 31, 1945.) "

Im selben Blog fragt Daniel Wilkinson: "Can the Internet Bring Change to Cuba?" Und immerhin: "There are more than 100 unauthorized bloggers in Cuba, including at least two dozen that are openly critical of the government."

Die Sparpolitik der westlichen Regierungen, die in Wirklichkeit eine Schuldenpolitik ist, stimmt den Blogger Ronnie Grob in Carta ein bisschen apokalyptisch: "Am Schluss guckt dann wieder die schwäbische Hausfrau aus dem Fenster, die ihre Spätzle noch selber macht und nicht über ihre Verhältnisse lebt. Und winkt. Das Problem ist: Die schwäbische Hausfrau hat längst graue Haare und ein künstliches Gelenk. Ihr Mann ist im Pflegeheim. Ihre Kinder sind dem Rentenalter nahe. Und die Enkel wohnen in Berlin, wollen nicht heiraten und kriegen nur Verträge auf Zeit."

TAZ, 08.07.2010

"Clown mit Schrotflinte" überschreibt Manfred Kriener seinen Nachruf auf den Kommunarden und Spaßguerillo Fritz Teufel, der am Dienstag im Alter von 67 Jahren starb. Von ihm bleibe das "Bild eines zutiefst friedfertigen, witzigen, wenn auch zuletzt etwas bitter gewordenen schwäbischen Moralisten mit weichem Herz."

Weitere Artikel: Im Kulturteil berichtet Tobias Nolte über eine Demo am Rand der Eröffnung der Berliner Modewoche, die auf die Arbeitsbedingungen in Niedriglohnländern und die ökologischen Folgen der Modeindustrie aufmerksam machte. In tazzwei berichtet Steffen Grimberg von der Berliner Voraufführung der Arte-Dokumentation "Licht - Raum - Zeit" über den Künstler Olafur Eliasson.

Besprochen werden Florian Eichingers Debütfilm "Bergfest" über eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung, eine Retrospektive des skulpturalen Frühwerks von Alfred Hrdlicka im Wiener Belvedere, die DVD des fünften "Predator"-Films von Nimrod Antal und zwei Bücher über den Filmemacher Romuald Karmakar von Tobias Ebbrecht sowie Olaf Möller und Michael Omasta (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr.)

Und Tom.

FR, 08.07.2010

Für die Medienseite besuchte Klaus Raab die Redaktion des Fußballhefts 11 Freunde, bei dem Gruner und Jahr jetzt mit 51 Prozent "das Sagen hat". Für Chefredakteur Philipp Köster kein Problem, solange man inhaltlich übereinstimmt: "'Ich glaube', antwortet Köster, 'dass die Leute ein romantisches Bild von Unabhängigkeit haben. Es ist ein Irrglaube, dass man als kleiner Verlag dem Druck von Anzeigenkunden besser gewachsen wäre.'"

Außerdem: "Todernst ist tot. Konnte man lernen von ihm", erklärt Arno Widmann im Nachruf auf Fritz Teufel. Besprochen werden Nicole Holofceners "sophisticated comedy" "Please Give", Nimrod Antals Film "Predators", Percy und Felix Adlons Film "Mahler auf der Couch" (Jürgen Otten ärgert sich über die "totale Trivialisierung" der Personen), eine Ausstellung über den Weg zur Einheit im Deutschen Historischen Museum und Aufführungen beim Festival Theater der Welt.

Welt, 08.07.2010

Hans-Joachim Müller erzählt, wie der neue Kustos des Städel, Felix Krämer, höchstselbst im Depot des Museums ein bisher völlig unbekanntes Kirchner-Gemälde entdeckte, dessen Leinwand überdies auf beiden Seiten bemalt ist - auf der Rückseite mit "einem ziemlich schamlosen Akt, die Beine weit geöffnet, der Voyeur kann gar nicht anders, er schaut unmittelbar aufs Geschlecht". Niemand weiß, wem das Gemälde, das auf einer Versteigerung eine zweistellige Millionensumme erzielen würde, gehört.

Besprochen werden Filme, darunter Percy und Felix Adlons Groteske "Mahler auf der Couch" (mehr hier), und eine CD von Janell Monae.

Auf der Magazinseite schreibt Richard Herzinger den Nachruf auf Fritz Teufel: "Fritz Teufel schwor dem bewaffenten Kampf letztlich ab, weil er seiner Selbstverwirklichung nichts mehr brachte. Damit steht er emblematisch für eine Generation vormals militanter Linker, die vor der letzten Konsequenz ihrer rücksichtslosen Hypermoral zum Glück zurückschreckte. Allerdings war es gerade jenes Prinzip narzistischer Selbstermächtigung im Namen grenzenloser Selbstfindung gewesen, die sie überhaupt erst in den Strudel voHass und Gewalt geführt hatte."

NZZ, 08.07.2010

Gabriele Detterer besucht im neuen Nationalmuseum für Kunst und Architektur der Gegenwart in Rom eine Ausstellung, die den Baukünstler Luigi Moretti rehabilitieren will, der lange unter dem Ruf des "unerträglichen Konformismus" und der "reaktionären Intellektualität" stand. Von ihm stammt zum Beispiel dieser Ozeandampfer im urbanen Meer in Mailand. Lilo Weber schreibt zum 70. Geburtstag des Choreografen Heinz Spoerli. Marianne Zelger-Vogt verabschiedete den verstorbenen Opernsänger Cesare Siepi.

Die Filmseite widmet sich Daniel Monzons Gefängnisthriller "Celda 211" und der vierte Teil der großen Oger-Saga "Shrek Forever After". Außerdem besprochen werden Marie N'Diayes Roman "Drei starke Frauen" und Richard Prices New-York-Krimi "Cash" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Freitag, 08.07.2010

Michael Jäger begibt sich auf die Suche nach einem linken Begriff der Menschenrechte: "Menschenrechte können eine linke Utopie sein, die heute schwer als solche sichtbar zu machen ist, weil sie allzu oft im Zerrspiegel westlicher Interessen erscheint. Doch wenn das so ist, kann darauf nur mit der Verdeutlichung der linken Utopie geantwortet werden: damit man den Unterschied zu imperialistischen Überlagerungen erkennt und für die Utopie entschieden praktisch eintreten kann."

Jungle World, 08.07.2010

"Kommunistisch ist es nach heute vorherrschender Meinung, noch im Schlimmsten das Gute, noch im größten Schwachsinn eine Idee und noch in der Wiederholung des Immergleichen den revolutionären Funken zu halluzinieren", resümiert Magnus Klaue den Berliner Kommunismus-Kongress. Besonders unangenehm ist ihm aufgestoßen, wie Alain Badiou (und mit ihm Cecile Winter und Slavoj Zizek) versuchen, dem christlichen Antijudaismus eine progressive Funktion im Kampf um den Universalismus zuschreiben: "Einig sind sich alle drei in der Überzeugung, dass die vor allem von der Kritischen Theorie, aber etwa auch von Jean-Paul Sartre vertretene Ansicht, wonach die Auseinandersetzung mit dem antisemitischen Wahn selbst das Apriori jedes Kommunismus sei, im Namen der 'Idee des Kommunismus' selbst endlich verabschiedet werden müsse. Nur in diesem Zusammenhang ist die absurde Rehabilitierung des Christentums, die Badiou und Zizek betreiben und die selbst konformistischen Kulturlinken eigentlich ein Greuel sein müsste, angemessen zu verstehen."

Zeit, 08.07.2010

Roger Willemsen fordert ein Ende des Krieges in Afghanistan, Angst vor den Taliban hat er jedenfalls nicht, wie er zu Protokoll gibt. Es war auch nicht alles schlecht, was die gemacht haben! Außerdem möchte er als Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins anmerken, dass eben dieser in Deutschland ansässige Verein "seit über 15 Jahren ohne die geringste staatliche Hilfe Schulen baut, in denen Mädchen unterrichtet und in die Universität geschickt werden. Es unterrichten auch mehrheitlich Frauen dort, und das seit Jahren, und die Taliban, die vermeintlich keinen Mädchenunterricht zulassen, haben von 103 Schulen in der Provinz Kundus nur drei geschlossen, sie haben aber verlangt, dass Mädchen nur von Lehrerinnen unterrichtet würden, um Übergriffe durch die traumatisierten Männer zu verhindern. Die größte Gefahr, die unsere Schule in Kundus überstand, war ein Querschläger der US-Truppen, der das Dach zerstörte."

Die Taliban sorgten auch für Rechtssicherheit (mehr hier). Unser Foto zeigt eine Hinrichtung aus dem Jahr 1999:





Peter Kümmel beklagt die "reflexive Impotenz" des zeitgenössischen Theaters, das Verschwinden des Augenblick und den Verlust der Figur. "Eine Standardsituation im Theater sieht so aus: Fünf oder zehn Schauspieler verwalten gemeinsam ein Stück, einen Text, zu Neudeutsch eine Textfläche. Das ist so als nähme sich ein Callcenter des Stücks an."

Weitere Artikel: In der Randglosse deutet Adam Soboczynski den "asketischen Wahn" der Anti-Raucher-Lobby als "introvertierte Lust", wie er sie sonst nur von Priestern kennt. Axel Estein besucht den philippinischen Filmemacher Brillante Mendoza, dessen neuer Film "Lola" (mehr hier) nächste Woche in die Kinos kommt. Diedrich Diederichsen singt eine Hymne auf Tina Feys "durchgeknallte" Fernsehserie "30 Rock".

Besprochen werden das Berliner Konzert von Prince, "einem der besten Musiker des Planeten", die von John Bock kuratierte und laut Tobias Timm "sensationell lustige" Ausstellung "FischGrätenMelkStand" in Berlins Temporärer Kunsthalle sowie das Festival Theater der Welt mit einer Aufführung von Carl Heinrich Grauns Oper "Montezuma" in Mühlheim und Bücher, darunter Katarina Baders "Jureks Erben", in dem die junge Historikerin die Geschichte des polnischen Auschwitz-Überlebenden Jurek Hronowski erzählt, der einsam und qualvoll in seiner Warschauer Wohnung starb (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 08.07.2010

Aus Anlass der Münchner Staatsopernkrise schildert Reinhard J. Brembeck die ziemlich absolutistische Macht der Theater- und vor allem Opernintendanten. Alexander Menden war in der Londoner Serpentine Gallery picknicken mit dem Stararchitekten Jean Nouvel. Nach drei Jahren zieht Alexander Kissler eine vorsichtig positive erste Bilanz der Wiedereinführung der Alten Messe. Einen Vortrag in München, bei dem der Germanist Ernst Osterkamp was vom Pferd erzählte, hat Johan Schloemann besucht. Auf der Literaturseite wird eine Hommage der Schriftstellerin Brigitte Kronauer an Wilhelm Raabe vorabgedruckt.

Besprochen werden das Prince-Konzert in Berlin, ein Abend mit "Konzert und Proust in der Bäderanstalt" von Bad Oeynhausen, M.I.A.'s neues Album "Maya" (Jens-Christian Rabe umreißt dabei auch - und nicht ohne Sympathie - die Polit-Pop-Position der Künstlerin), die "Roy Lichtenstein"-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig, die Ausstellung "Wien im Film - Stadtbilder aus 100 Jahren" im Wien-Museum, neu anlaufende Filme, darunter Jaco van Dormaels Comeback "Mr. Nobody" und Ricky Gervais' Komödie "Lügen macht erfinderisch" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 08.07.2010

Der israelische Schriftsteller David Grossman, der in diesem Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhält, plädiert für ein Waffenstillstandsangebot Israels an die Hamas. Unabhängig von Erfolg oder Misserfolg sei das eine für Israel wichtige Sache: "Mehr als auf die Vorschläge als solche möchte ich die Aufmerksamkeit auf die dahinterstehenden Motive lenken, auf das Gefühl nämlich, dass Israel seit mehreren Jahren in einer Lähmung gefangen ist, die dem Land zunehmend den Schwung nimmt, so dass schließlich jeder, der Augen im Kopf hat, die Apathie und Hilflosigkeit und selbst das Dahinschwinden eines gesunden Selbsterhaltungstriebs zur Kenntnis nehmen muss. Das ist die eigentliche Gefahr für Israel, und sie ist weitaus zerstörerischer als alle von der Hamas ausgehenden Gefahren."

Weitere Artikel: Gerhard Rohde hat keinen Zweifel, wer die Schuld an den Problemen trägt, vor denen die Münchner Staatsoper mit dem Abschied Kent Naganos steht: "Die kümmerlichste Figur in dem jeweiligen Quiproquo geben dabei die verantwortlichen Kulturpolitiker ab." Christian Geyer kritisiert das jüngste BGH-Urteil zur Präimplantationsdiagnostik, weil es der "Selektion" Tür und Tor öffne. In der Glosse geißelt Jürgen Kaube allfällige "Bereicherungsinteressen" der "Obertanen". Einen recht ungnädigen Nachruf auf Fritz Teufel hat Lorenz Jäger verfasst. Über die Entdeckung eines unbekannten Doppelgemäldes von Ernst Ludwig Kirchner im Depot des Städel-Museums informiert Konstanze Crüwell. In Köln ist im Rahmen verzweifelter Sparversuche gerade (und nicht zum ersten Mal), wie Andreas Rossmann berichtet, die Kunst- und Museumsbibliothek in Gefahr. Das Filmfestival im sizilianischen Taormina hat Marco Schmidt besucht. Viktor Otto schreibt zum Tod der Tucholsky-Herausgeberin Antje Bonitz. Auf der Medienseite porträtiert Hannes Hintermeier Roger Köppel, den schwer umstrittenen Chef der Schweizer Weltwoche.

Besprochen werden Boris Jacobys Inszenierung von Lessings "Philotas" am Berliner Ensemble, der Abend "Choreografen stellen sich vor", bei dem sich das Stuttgarter Ballett für Wiebke Hüster als bestens geführt erwies, zwei Ausstellungen zur Burg in Berlin und Nürnberg, Einspielungen von Johann Sebastian Bachs Solo-Partiten von Viktoria Mullova und Isabelle Faust, Jaco van Dormaels Film "Mr. Nobody" (mehr) und Bücher, darunter Aleksandar Hemons Band mit Erzählungen "Liebe und Hindernisse" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).