Heute in den Feuilletons

Die Jakobiner waren nicht zimperlich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.06.2010. Der SZ stockt der Atem angesichts Christa Wolfs revolutionärer Härte. In der NZZ erklärt Uli Sigg, wie das Internet die Reflexe der Herrschenden in China testet. Die FAZ begibt sich auf die Spuren der Armenier in der Türkei. Die taz beleuchtet verödende Darkrooms. In der Welt erzählt Marek Halter von Reinhard Heydrichs Kommando Golem. Und alle verabschieden den Literaturnobelpreisträger, Blogger und Marxisten Jose Saramago.

NZZ, 19.06.2010

In Literatur und Kunst unterhalten sich Andreas Breitenstein und Samuel Herzog mit dem Manager, Diplomaten und Kunstsammler Uli Sigg über Chinas politische Kultur: "Der erste Reflex der Herrschenden ist immer noch, dass in den Medien nicht darüber berichtet werden darf. Sie sagen, sie müssten das zuerst in Ordnung bringen, dann könne man darüber schreiben. Und sie haben weiterhin den Durchgriff in den Medien. Doch funkt ihnen hier das Internet dazwischen - alle wissen sehr schnell alles, etwa kürzlich über einen Pestizidskandal. Das bringt die Behörden unter erhöhten Rechtfertigungsdruck."

Im Feuilleton verabschiedet Thomas Sträter den Schriftsteller, Literaturnobelpreisträgers und großen Ketzer Jose Saramago. Autor Adolf Muschg sieht nur ökonomisches Denken, wo europäische Politik walten müsste ("'Selber schuld', sagte die Ameise zur Grille, 'wenn du im Winter verhungerst, warum hast du im Sommer nur gefiedelt?'"). Joseph Croitoru betont noch einmal, dass die türkische Organisation IHH kein humanitärer, sondern ein antiisraelischer, islamistisch verankerter Verein ist.

Besprochen werden eine Aufführung von Rameaus "Pygmalion" beim Holland Festival, die beiden Londoner Inszenierungen "After the Dance" und "The Late Middle Classes" sowie etliche Lyrik-Anthologien, darunter Wulf Kirstens Edition "Beständig ist das leicht Verletzliche" und Leung Ping-Kwans Band "Von Jade und Holz" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 19.06.2010

Martin Reichert begibt sich auf Expedition in eine sterbende Institution der Schwulen-Kultur. Die Darkrooms nämlich sind längst nicht mehr das, was sie mal waren: "Schwule verabreden sich zwecks körperlichen Austauschs längst über Internet-Communities und haben es kaum mehr nötig, in die Gettos zu gehen. Die einst hermetische Szene hatte sich schon in den Neunzigern geöffnet, Schnittstellen waren entstanden in den Sub- und Nachtkulturen Berlins - das 'Ostgut' etwa, dessen Nachfolgeinstitution 'Berghain' nun Touristen aus der ganzen Welt anzieht. Auch die Darkrooms des 'Berghain' werden bestaunt und besichtigt - und selten genutzt. Und wie ist es im 'Ficken 3000'?"

Weitere Artikel: Kathleen Fietz porträtiert die Fotografin Susanne Krauß und ihre (Lebens)Großbildkamera Imago. Wolfgang Gast war dabei, als Ex-Stasi-Mitarbeiter in Berlin-Lichtenberg das Buch "Fragen an das MfS" vorstellten, Detlef Diederichsen stellt die CD-Reihe "Next Stop ... Soweto" mit Musik aus den südafrikanischen Townships vor. In einer sehr kurzen Kurzgeschichte von Susanne Rehlein geht es um Klagenfurt, Georg Klein und Kaffö. Elke Eckert demonstriert in Bernau mit Hilfe des Ratgebers "Das Buch gegen Nazis".

Besprochen werden und Bücher, darunter Richard Yates' Roman "Ruhestörung" (Leseprobe) und Michael Schindhelms Erfahrungsbericht "Dubai Speed" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 19.06.2010

Recht beeindruckt zeigt sich Sebastian Preuss vom umgebauten und neueröffneten Dresdener Albertinum (Website), das nun als Museum für Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts fungiert. Christian Schlüter referiert einen Vortrag, den Jürgen Habermas zur Eröffnung der Frankfurter Tagung "Human Rights Today" hielt und in dem er den Einsatz für Menschenrechte recht vehement verteidigte. Judith von Sternburg widmet Goethes Nachkommen eine Times Mager. In ihrer US-Kolumne denkt Marcia Pally über die Riege konservativer Politikerinnen von Sarah Palin bis Meg Whitman nach. Karin Ceballos Betancur schreibt zum Tod des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers Jose Saramago.

Besprochen werden ein Frankfurter Konzert des HR-Sinfonieorchesters unter Paavo Järvi und Bücher, darunter Aharon Appelfelds Roman "Katerina" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 19.06.2010

Auf der Forumsseite fürchtet Henryk M. Broder, dass die Israelis etwas zu sehr dem Hedonismus frönen, statt ihr Militär auf Vordermann zu bringen. Das, meint er, ist ein Fehler. "Tatsächlich ist der Antisemitismus, der auf die Vernichtung der Juden zielte, von einem Judenhass abgelöst worden, der seine eigene Entlastung sucht. Deswegen fantasieren seine Träger mit Hingabe darüber, dass die Israelis den Palästinensern das antun, was die Nazis den Juden angetan haben; dass es heute in Gaza so zugeht wie früher im Warschauer Getto. Und nennen solche Halluzinationen 'Israelkritik'. Aber die sogenannte Israelkritik hat wenig mit den Zuständen in Palästina und sehr viel mit den Bedürfnissen der Israelkritiker zu tun, die unter der Last der eigenen Geschichte ächzen."

Für die Literarische Welt lässt sich Marek Halter in Prag Geschichten über den Golem erzählen. Zum Beispiel, dass Reinhard Heydrich dessen Macht nutzen wollte, um den Krieg zu gewinnen. "Sein Ziel: die letzten Offizianten der Synagoge zu finden und sie, wenn nötig, zu foltern, um an die zur Wiedererweckung des Golem notwendigen Formeln zu gelangen. Den Pragern zufolge, die das Stadtviertel am Wochenende mit Familie besuchen, gelang es dem Kommando tatsächlich, sich das erforderliche Wissen zu verschaffen. Aber wie mir Rab Chaim, der Wächter der Synagoge erklärt, konnte Heydrich Hitlers Traum nicht verwirklichen, 'da er nicht um die Melodie wusste, in der MaHaRaL die Worte gesprochenen hatte.'"

Außerdem: Nicholas Wroe spricht (hier auf Englisch) mit dem Schriftsteller Ian McEwan über dessen Roman "Solaris", im Herbst auf Deutsch erscheint. Nichts überraschendes erlebte Tilman Krause bei der Lesung von Christa Wolf in der Berliner Akademie der Künste, nur dies stellt er wieder einmal fest: Sie hat "Aura". In Paris geht Peter Stephan Jungk mit dem Architekten Dietmar Feichtinger ins Kino (sie sehen "Mein Name ist Khan"). Besprochen werden u.a. Michael Chabons Roman "Schurken der Landstraße", Jürgen Knieps Geschichte der Filmzensur in Deutschland und Andreas Kraß' literaturwissenschaftliche Untersuchung der Meerjungfrauen.

Fürs Feuilleton besucht Klaus Kalchschmidt den walisischen Bariton Bryn Terfel in seiner Operngarderobe in Monte Carlo. Tyler Brule, Chefredakteur von Monocle, plaudert im Interview über sein Städteranking. Wilhelm Roth annonciert eine DVD-Box des Fernseh-Dokumentaristen Klaus Wildenhain.

SZ, 19.06.2010

Kern des Unbehagens, das Lothar Müller bei Lektüre von Christa Wolfs Roman "Stadt der Engel" empfunden hat, liegt an ihrer Haltung zur Stasi und zur "Diktatur des Proletariats": "Es ist wohl kaum ein Zufall, dass dieser Begriff in der 'Stadt der Engel' an entscheidender Stelle auftaucht, dort nämlich, wo das Ich seine eigene Antwort auf die Frage gibt, warum es sich mit 'denen' eingelassen habe: 'Weil ich sie noch nicht als 'die' gesehen habe, glaube ich.' Und dann folgt ein Satz, dessen Härte in atemberaubendem Kontrast zum Humanismus und moralischen Rigorismus steht, mit dem das Ich ansonsten die Welt betrachtet: 'Revolutionäre Maßnahmen können für die von ihnen Betroffenen hart sein, die Jakobiner waren nicht zimperlich, die Bolschewiki auch nicht. Wir hätten ja gar nicht bestritten, daß wir in einer Diktatur lebten, der Diktatur des Proletariats. Eine Übergangszeit, eine Inkubationszeit für den neuen Menschen, versteht ihr?'"

Weitere Artikel: Gottfried Knapp hat sich das umgebaute und neu eröffnete Albertinum in Dresden angesehen, in dem sich nun "Caspar David Friedrich und Neo Rauch, aber auch die sächsischen Namensvettern Ludwig Richter und Gerhard Richter in höchst lebendiger Umgebung begegnen." Tanjev Schultz berichtet von einer Tagung zum Thema "Wissensgenese und Wissensbewegung in transnationalen Räumen" in Mexiko City und lobt dabei das segensreiche Wirken der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die ausländischen Wissenschaftlern Stipendien in Deutschland verschafft. Catrin Lorch warnt die Documenta, die in zwei Jahren stattfindet, davor, ihr Pulver mit "schlauen kleinen Aktivitäten" jetzt schon zu verschießen. Karl Bruckmaier freut sich über die Wiederentdeckung des 2004 verstorbenen Musikers Kevin Coyne. Den Nachruf auf den Literaturnobelpreisträger (und auch Blogger) Jose Saramago schreibt Hans-Peter Kunisch.

Jens-Christian Rabe referiert einen Aufsatz, in dem der Philosoph David Ludwig eine Lanze für die Wikipedia bricht. Den Sachverhalt, dass das neue Bauhaus-Museum in Weimar nun "auf dem Parkplatz zwischen der Weimarhalle und dem Gauforum errichtet werden" soll, kommentiert Thomas Steinfeld. Zum siebzigsten Jahrestag der Begründung der Resistance erinnert Jeanne Rubner an Charles de Gaulle, "die letzte große Figur der französischen Geschichte".

Im Aufmacher der SZ am Wochenende fragt sich Nicole Zepter, warum die Kreativwirtschaft zwar in aller Munde ist, man aber als KreativeR immer noch so schlecht verdient. Rudolf Neumaier geht der Frage nach, warum deutsche Chöre immer asiatischer werden. Über die neue Hipness ausgestopfter Tiere wundert sich Verena Stehle. Aus einem Band mit bislang unveröffentlichten Texten wird Kurt Vonneguts Erzählung "Die netten kleinen Menschen" vorabgedruckt. Harald Hordych unterhält sich mit dem hauptberuflichen Urenkel Wladimir Tolstoi.

FAZ, 19.06.2010

Karen Krüger hat zwei armenische Familien begleitet, die erstmals in die Türkei, in die Heimat ihrer Eltern gereist sind. Eine von ihnen sucht das Haus des Imams, der sie während des Völkermords versteckt hatte und trifft auf einen Türken aus der Nachbarschaft, der ihnen erklärt: "Das steht schon lange nicht mehr, da wurde neu gebaut. Diese letzten Worte hängen in der Luft, werden schwer wie Blei. Shoushan Faradschjan-Tschiftdschjan und ihre Söhne starren den Türken an, als habe er ihnen die Nachricht eines Todes überbracht. Als Ischchan Tschiftdschjan wieder anhebt, ist Schärfe in seiner Stimme. Wer hat all die alten Häuser hier gebaut? fragt der Armenier. Die Franzosen, sagt der Türke. Und das große am Berg? Ein Ungläubiger. Hier sollen Armenier gelebt haben, wo sind die hin? Sie kamen mit den Franzosen und verschwanden mit ihnen, sagt der Türke."

Weiteres: Mark Siemons berichtet, dass sich in China Künstler und Unternehmer zusammenschließen, um die zeitgenössische Kunst aus dem westlichen Korsett zu lösen: "Diese Absicht entspricht den offiziellen Wünschen, wie sie etwa während der Beratungen der Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes zur Kulturindustrie vorgebracht wurden." Nach einem Essen im "Le Meurice" weiß Jürgen Dollase wieder, was er an der Pariser Avantgardeverweigerung hat. Patrick Bahners resümiert gewunden eine Diskussion zwischen Rüdiger Safranski, Necla Kelek und FDP-Generalsekretär Christian Lindner über Liberalismus, Staat und Islam. Melanie Mühl meldet den aktuellen Stand in Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschulde. Oliver Tolmein meldet, dass das Schweizer Bundesgericht die "Vereinbarung über die organisierte Suizidbeihilfe" kassiert hat. Wolfgang Schneider erzählt, wie sich Autoren beim Treffen "Tunnel über der Spree" mehr oder weniger wohlwollend gegenseitig begutachteten. Paul Ingendaay schreibt den Nachruf auf den portugiesischen Schriftsteller und unerschütterlichen Marxisten Jose Saramago.

Auf der Medienseite stellt Nina Rehfeld David Simons neue und wieder sehr gefeierte Fernsehserie "Treme" über New Orkeans vor, deren erste Staffel gerade ihr Finale erreicht.

Besprochen werden eine Ausstellung des Hofmalers Sebastiano Ricci in der Foundation Giorgio Cini in Venedig, Friedrich Guldas frühe Beethoven-Aufnahmen, Eminems neues, offenbar echt "fettes" Album "Recovery", eine neue CD der Crash Test Dummies und Bücher, darunter Christa Wolfs neuer Roman "Stadt der Engel" und Katharina Hackers "Die Erdbeeren von Antons Mutter" (Mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In Bilder und Zeiten führt Jospeh Hanimann ein schönes Gespräch mit dem amerikanischen Verleger Andre Schiffrin über das Büchermachen und den Kapitalismus: "Die Lage ist schlimm genug, man braucht keine Schreckvisionen." Lena Bopp und Melanie Mühl berichten vom ersten Bundesparteitag der Piratenpartei und stellen fest: Das Wichtigste sind ordentliche Strukturen. Zu lesen ist eine Erzählung von Jochen Schimmang über das Aussteigen. Martin Wittmann kämpft erst im Oberen Donautal, dann in Neuseeland gegen seine Höhenangst.

In der Frankfurter Anthologie stellt Wulf Segebrecht Alfred Lichtensteins Gedicht "Die Dämmerung" vor:

"Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
..."