Heute in den Feuilletons

Zeitung lebt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.03.2010. In der NZZ erklärt der Autor Hans Maarten van der Brink, warum die Holländer im Juni Geert Wilders zum Premier wählen könnten. Die FR möchte kein Leichtgewicht mehr sein, sondern ein Trumm werden. Die Welt wünscht Griechenland mehr anglikanische Arbeitsethik. Die taz hat Freude an Joanna Newsoms Organ. Die FAZ verteidigt die Freiheit der Kunst.

NZZ, 12.03.2010

Der Schriftsteller Hans Maarten van der Brink versucht das Phänomen Geert Wilders zu erklären, den "Demagogen mit toupierter und blondierter Mozartfrisur", der die Niederlande mit seinem Kampf gegen die "Islamisierung" in Atem hält: "Seine Standpunkte ordnen sich nicht in das Links-Rechts-Schema ein. Der selbsterklärte Bewunderer von Ariel Sharon und Margaret Thatcher bekämpft nämlich auch Großbanken, die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und die Erhöhung des Rentenalters. Er will die Grenzen schließen, macht der EU Zuständigkeiten streitig und findet (wie übrigens auch die Sozialdemokraten), die Niederlande hätten in Afghanistan genug getan. Gleichzeitig pocht er unablässig auf die universale Gültigkeit der Menschenrechte, vor allem für Frauen und Homosexuelle. Die niederländische Kultur müsse beschützt werden vor fremden Einflüssen. Subventionen für die Wohlfahrt und die Kultur müssten jedoch abgeschafft werden. Dafür sollen Rentner, Tiere, Behinderte und die Polizei mehr staatliche Fördermittel erhalten."

Weitere Artikel: Martina Wohlthat berichtet von einem Gespräch mit dem Choreografen Christian Spuck, der 2012 die Leitung des Opernhauses Zürich übernehmen wird. Gerhard Gnauck hat anlässlich der zwanzigjährigen Unabhängigkeit Litauens ein paar Mitglieder der dortigen Bürgerrechtsbewegung getroffen, darunter Nijole Sadunaite, die erzählt, warum sie von der KGB den Spitznamen "die Langspielplatte" bekam.

Besprochen werden Simon Stephens Theaterstück "Punk Rock", das Regisseur Daniel Wahl demnächst am Hamburger Schauspielhaus inszeniert, das neue Gorillaz-Album "Plastic Beach" und die neue CD "Turn me loose" der amerikanischen Soulsängerin Ledisi.

Aus den Blogs, 12.03.2010

Ulrike Langer warnt in Mediadigital vor Mauschelei bei der Einführung von Leistungsschutzrechten für die Verlage: "Gestern hatte ich zum Thema Leistungsschutzrecht (LR) ein Deja-vu-Erlebnis: Das Prinzip für eine möglichst lautlose Einführung des LR kennen wir doch eigentlich schon. Es läuft momentan wie bei der Einführung der 'Rundfunkgebühren für neuartige Rundfunkempfangsgeräte' (vulgo PC-Gebühr). Das Thema soll mit möglichst vagen Aussagen möglichst bis zum Schluss unterhalb der öffentlichen Empörungsschwelle gehalten werden."

Andrea Diener ist unterwegs im Paradies, Brüssel. "Die Touristendichte steigt immens, aber nicht ganz so schnell wie die Schokoladengeschäftdichte. Was da pro Quadratkilometer geht, da setzt Brüssel wohl einen weltweiten Standard, der kaum zu überbieten ist. Alle drei Meter: Schokoladenosterhasen glotzen dich an. Schokoladenverkäuferinnen greifen mit Zangen nach Pralinen. Schokoladenbrunnen sprudeln."

FR, 12.03.2010

Die FR feiert heute die Kunst des Zeitungs- und Büchermachens. Arno Widmann hat sich bei Amazon für 11,20 Euro das San Francisco Panorama gekauft. Eine Tageszeitung als Eintagsfliege, von Dave Eggers herausgegeben, "ein Trumm, auf gutem Papier gedruckt, das einem nicht sofort die Finger versaut und außerdem noch den Vorteil hat, dass Fotos, ja sogar zarte Zeichnungen brillant kommen". Während Widmann noch überlegt, ob er sich lieber mit dem Schnittmusterbogen, dem Rätsel oder Essays von Salman Rushdie und William T. Vollman beschäftigen soll, geht ihm auf: "Diese Zeitung lebt. Sie lebte nur einen Tag. Sie ist nichts als ein Demonstrationsobjekt. Aber warum laufen alle Versuche der Revitalisierung der Zeitung auf die Verteilung kostengünstiger Häppchen hinaus? Warum probiert nicht endlich einer es einfach auch mal mit dem Gegenteil? Mehr als zu scheitern, ist da doch auch nicht drin."

Mely Kiyak besucht den Verlag von Gerhard Steidl. Sehr schöne Bücher sieht sie da. Ist das nicht alles sehr teuer? "Steidl rechnet vor. Ein Papierbezug kostet 15 Cent und ein Leineneinband je nach Qualität 70 Cent. Echtes Leinen aus Baumwolle, wohlgemerkt, nicht aus Synthetik. Das Lesebändchen kostet 10 Cent das Stück. Und das Kapitalband, das gewebte Baumwollbändchen, das an der Ober- und Unterkante des Buchrückens angeklebt ist? Oben 1,5 Cent, unten noch mal die gleiche Summe. Trotzdem gibt es in Deutschland nur noch die Firma Güth & Wolf, die Lesebändchen herstellt, und August Bäumer aus Wuppertal, der auf Bändchen und Kapitalbänder aus ungebleichten Geweben spezialisiert ist."

Weitere Artikel: In Times Mager spottet Harry Nutt über die deutschen Reaktionen auf Schwindeleien Kapuscinskis: "Als Beispiel einer Geschichte über die Literatur und das Lügen ist der Fall Kapuscinski hierzulande eine Randnotiz. Wohl auch, weil der Autor volljährig war." Auf der Medienseite informiert uns eine Meldung, dass die SPD eine "behutsame" Abwendung von der gerätebezogenen Rundfunkgebühr vollzieht zugunsten einer eher schroffen Pauschalgebühr für alle.

Besprochen werden Werner Schroeters Inszenierung von Koltes' "Quai West" an der Berliner Volksbühne, Stefan Herheims "Tannhäuser"-Inszenierung in Oslo, Martin Walsers dritter Tagebuch-Band und Wolfram Knauers Louis-Armstrong-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 12.03.2010

Der Autor Marko Martin kann Griechenlands Krise auch etwas Gutes abgewinnen: Die Zyprer bekommen Oberwasser, wie er bei einem Besuch auf der Insel feststellen durfte: "Die ewig verquickte Hassliebe zum 'Mutterland' hat sich nämlich in diesen Tagen in veritablen Spott über die endemische Faulheit und Korruption der innovationsfeindlichen Vettern verwandelt - und zu einem überraschenden Lobpreis der bis 1960 anwesenden britischen Kolonialmacht. Das intakte Rechts- und Steuersystem, die gute Infrastruktur (von den auf Druck der mächtigen Taxi-Lobby sträflich unterentwickelten öffentlichen Verkehrsmitteln schweigt man indessen lieber), die geistige Flexibilität und anglikanische Arbeitsethik."

Weiteres: Hanns-Georg Rodek berichtet, dass der Filmverleih Kinowelt von Leipzig nach Berlin zieht. Eckhard Fuhr war bei der Präsentation der neuen Buchreihe "Deutschland Bibliothek". Stefan Keim stellt den amerikanischen Theaterregisseur Richard Maxwell als "Puristen der Freiheit" vor.

Besprochen werden Patti Smith' bisher nur auf Englisch erschienene Erinnerungen "Just Kids" an ihr Leben mit Robert Mapplethorpe, Andrew Lloyd Webbers Musical "Love Never Dies", und Alejandro Amenabars aufgeklärten Sandalenfilm "Agora".

TAZ, 12.03.2010

Geradezu euphorisch lobt Ulrich Rüdenauer das neue Album "Have One on Me" der amerikanischen Sängerin und Harfenspielerin Joanna Newsom: "Die Stimme, hat der Psychoanalytiker Jacques Lacan einmal gesagt, wecke Begehren. An Joanna Newsoms Organ hätte der Franzose seine helle Freude gehabt."

Weiteres: Christian Semler resümiert eine Veranstaltung im Berliner Gropiusbau, auf der Michael Wildt mit dem britischen Historiker und Buchautor Mark Mazower ("Hitlers Imperium") über Hitlers Pläne zur Neuordnung Europas diskutierte. Besprochen werden das Album "There is Love in You" des britischen Elektronik-Musikers Kieran Hebden alias Four Tet und Rainald Goetz' "loslabern" als Hörspiel.

Und Tom.

SZ, 12.03.2010

Kia Vahland erklärt, warum das 21. Jahrhundert Caravaggio interessant findet: Es "erkennt sich in Caravaggio, dem brutal-empfindsamen Schauspieler, der nach unverstelltem Leben und höherem Sinn gierte, ohne Erlösung zu finden". Vorerst vor allem für eine Geschmacksfrage hält Julia Amalia Heyer eine neue Form der Erinnerung: In sozialen Netzwerken wie Facebook entstehen virtuelle Mahnmale, die Holocaust-Opfer wie Henio Zytomirski oder Anne Frank wieder zum Leben erwachen und "Fans" um sich scharen lassen. Gunnar Herrmann besuchte den schwedischen Karikaturisten Lars Vilks, der seit seiner Zeichnung eines Mohammed-Hundes unter Polizeischutz lebt, die Affäre und sein derzeitiges Leben jedoch unerschrocken als "Kunstprojekt" versteht. Reinhard J. Brembeck meldet den überraschenden Abgang von Intendant Ulrich Peters von seinem Posten am Münchner Gärtnerplatztheater. Gustav Seibt würdigt den Philosophiehistoriker Kurt Flasch zu dessen 80. Geburtstag als den "urbansten philosophischen Schriftsteller Deutschlands". Martin Zips gratuliert Al Jarreau, der 70 wird.

Auf der Seite 3 fasst Tanjev Schultz den Pädagogen Hartmut von Hentig mit Samthandschuhen an.

Besprochen werden die Ausstellung "Ausgerechnet Deutschland!" im Jüdischen Museum Frankfurt über jüdisch-russische Einwanderer, der israelische Gangsterfilm "Ajami" von Yaron Shani und Scandar Copti, ein Münchner Konzert mit dem Pianisten Maurizio Pollini und Beethovens Dritter unter dem Dirigat von Christian Thielemann, Werner Schroeters "Regiedebakel" "Quai West" in der Berliner Volksbühne und Bücher, darunter Thomas Langs Roman "Bodenlos oder Eine gelbes Mädchen läuft rückwärts" und das von Karl Kraus zusammengestellte dreibändige "Buch der Bücher von Peter Altenberg" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 12.03.2010

Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden, möchte nicht, dass Oskar Roehlers Spielfilm "Jud Süß - Film ohne Gewissen" öffentlich aufgeführt wird, berichtet Michael Althen. Sie unterstellt dem Film antisemitische Tendenzen. Althen hält die Freiheit der Kunst dagegen: "Denn selbstverständlich begreift die Kunst gerade die dunkelsten Kapitel der Geschichte immer wieder als Herausforderung, und also ist an der Förderung dieser Auseinandersetzung nichts Zweifelhaftes. Scheitern und Misslingen sind dabei immer möglich, was aus ihr noch keine frivole Angelegenheit macht und auch noch keine antisemitischen Tendenzen begründet. (...) Natürlich soll 'Jud Süß - Film ohne Gewissen' ab Herbst öffentlich vorgeführt werden".

Mehrere schwedische Zeitungen haben die Mohammed-Karikaturen von Lars Vilks nachgedruckt, auf den offenbar mehrere Terroranschläge vorbereitet waren, meldet Matthias Hannemann auf der Medienseite und zitiert den Sekretär der Schwedischen Akademie, Peter Englund: "Vilks' Kunst können wir immer diskutieren. Sein Recht, sie auszuüben - niemals."

Weitere Gründe: In der Leitglosse wundert sich Helmut Mayer über die Gründe, die die Jury des Leipziger Buchpreises dazu veranlasst haben, Norbert Leithold mit seinem Buch über Goethe, Frau von Stein und Anna Amalia von der Kandidatenliste zu streichen: Nur weil er früher Pornofilme gedreht haben soll? Dirk Schümer berichtet - einigermaßen angewidert vom Gegenstand des Themas - über eine Tagung zum 100. Todestag des österreichischen Antisemiten Karl Lueger. Patrick Bahners war bei einer Lesung Anna Katharina Hahns aus ihrem Roman "Kürzere Tage" ("Bei Judith und ihrer Nachbarin Leonie, durch deren Augen der Leser die bürgerliche Gegend der Stuttgarter Constantinstraße kennenlernt, ist die obsessive Selbstprüfung Ausdruck eines vielerörterten Problems unserer Zeit, des schlechten Gewissens der modernen Mutter.") Eva Demski schreibt einen schönen Geburtstagsartikel zu Teofila Reich-Ranickis Neunzigstem. Auf der Medienseite berichtet Matthias Rüb über die Gewalttaten gegen Journalisten in Mexiko.

Besprochen werden die Ausstellung "Painting History. Delaroche and Lady Jane Grey" in der Londoner National Gallery, ein Konzert von Pat Metheny in Frankfurt, Stefan Herheims Inszenierung des "Tannhäuser" in Oslo (die Christian Wildhagen so "ungemein geistreich" findet, dass er Herheim für den Jubiläums-"Ring" 2013 in Bayreuth vorschlägt), Feo Aladags Debütfilm "Die Fremde" und Werner Schroeters Inszenierung von Koltes' Stück "Quai West" an der Berliner Volksbühne.