Heute in den Feuilletons

Antipathie gegen Beton und Stahl

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2010. Der Kultur geht's an den Kragen: Die Welt schildert die Folgen des Bevölkerungsschwunds und der Steuerpolitik für Städte wie Dessau. Die taz erwägt das Für und Wider eines Films über Rudi Dutschke, der in der Rudi-Dutschke-Straße Premiere hatte. Die NZZ kritisiert die Bürger von Bukarest, welche die Errungenschaften der klassischen Moderne nicht ausreichend würdigen. Das Buch über Günter Grass' Stasi-Akten sorgt für respektvolles Aufsehen.

Welt, 05.03.2010

Eckhard Fuhr schickt einen eindrücklichen Bericht aus der Stadt Dessau, die seit der Wende zwei Fünftel ihrer Bevölkerung verloren hat und gleichzeitig immer mehr Steuereinnahmen durch Maßnahmen des Landes Sachsen-Anhalt und des Bundes verliert. Selbstverständlich könnte man sich dem anpassen, so Fuhr, wenn man die freiwilligen kommunalen Leistungen sofort einstellt, "also das Theater schließt, die Zootiere schlachtet, die Sportstätten der Wildnis überlässt, das Museum einmottet. Dann blieben sogar noch 260.000 Euro im Jahr übrig. Ohne diese Einsparungen gibt es im Jahr 2018 keinen genehmigungsfähigen Haushalt mehr. Mit diesen Einsparungen gibt es Dessau nicht mehr."

Weitere Artikel: Rüdiger Sturm unterhält sich mit dem Produzenten der Oscar-Show, Bill Mechanic, über die anhaltende Attraktion der Preise. In der Leitglosse kommentiert Hanns-Georg Rodek einige Versuche, die abstimmenden Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts zu beeinflussen. Uwe Müller kann aus den Äußerungen Günter Grass' zu seinen Stasiakten in der Zeit wenig Neues herauslesen - lange Zeit habe er sich geweigert, die Akten öffentlich zu diskutieren, aber das ändere nichts daran, dass er sich gegenüber den DDR-Bonzen honoriger verhielt als mancher Politiker. Abgedruckt wird auch ein kleiner Brief Grass' an Marianne Birthler aus dem Jahr 2002, in dem er der historischen Erforschung seiner Akten zustimmt. Gerhard Gnauck trägt einige Details aus polnischen Akten bei.

Sebastian Siedler unterhält sich mit dem Soziologen Andreas Heilmann anlässlich eines Kongresses über "Neue Männlichkeit" in Berlin über die "Krise der Männlichkeit", die für ihn nur die "Krise eines traditionellen Männlichkeitsideals" ist.

Besprochen wird eine Ausstellung über Königin Luise in Berlin.

Aus den Blogs, 05.03.2010

Via BoingBoing sind wir bereits vor dem Ereignis an einen bewegenden Mitschnitt der Oscar-Verleihung gekommen:



(Via 3quarksdaily) Im Open Magazine erklärt uns Hartosh Singh Bal das heißeste neue Ding in der Werbewelt: Neuro-Marketing. "The founder of NeuroFocus, the world?s biggest neuromarketing firm, is AK Pradeep, a PhD in engineering from the University of California, Berkeley. Five years ago, having moved from designing satellites to management consultancy, he found himself sitting next to a neuroscientist on a flight back from Atlanta: 'I had just had a meeting with someone senior at Coke. He had been telling me that despite spending $3 billion on marketing and another $3 billion on indirect marketing, he was not sure what precisely he got out of it. This was still on my mind when I asked the neuroscientist what he did. He told me he helps children with attention deficit disorders, adults with emotional problems, and he works with the aged suffering from diseases such as Alzheimer?s. It struck me that this was exactly what the man at Coke was looking for. How do you get people to pay attention? How do you engage them emotionally, and how do you ensure they remember what is being said to them? Can?t I apply what he was doing in the clinic to what was happening?'"

Was kauft man, wenn man ein E-Book kauft, fragt Ilja Braun in irights.info: "Wie weit gehen die Verbraucherrechte an einem E-Book? Was darf man tatsächlich damit machen? Darf man es kopieren, verleihen, weiterverkaufen? Ist alles erlaubt, was technisch geht? Das nicht. Umgekehrt aber geht vieles nicht, was erlaubt ist -weil die Anbieter es technisch verhindern."

Thekla Dannenberg berichtet von den deutsch-israelischen Literaturtagen in Berlin. Avirama Golan, Fania Oz-Sulzberger, Nir Baram diskutierten mit Terezia Mora und Sibylle Lewitscharoff über Heimat: "Wie viel Heimatseligkeit ist erlaubt in einem Land wie Deutschland, das endlich ein harmloser Koloss werden möchte? Wie viel Heimat ist möglich in einem Staat wie Israel, in dem man bei jedem Schritt einem anderen auf die Füße tritt?"

NZZ, 05.03.2010

Die Bewohner Bukarests würdigen die Bauten der klassischen Moderne nicht, die in der ganzen Stadt den Glastürmen von Investitionsgesellschaften weichen müssen, seufzt Markus Bauer. Anhand der Architektur des Boulevard Magheru erzählt er ein Stück Bukarester Stadtgeschichte. Die Moderne, so Bauer, bleibt "für viele weiterhin ein blinder Fleck. Dabei spielt auch die Bauwut der sozialistischen Epoche eine Rolle. Damals wurden zahllose anonyme Wohnblöcke aus dem Boden gestampft, die nun das Stadium ihres Verfalls erreicht haben und so zusätzlich zur Antipathie gegen Beton und Stahl beigetragen haben."

Weiteres: Christoph Egger porträtiert den Filmregisseur Franz Schnyder, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von Henri Rousseau in der Fondation Beyeler in Riehen, eine Ausstellung mit Bildern des Fotografen Wojciech Wilczyk, der Synagogen in Polen dokumentiert hat, in den Kunstsammlungen Chemnitz, eine neue Aufnahme von Dmitri Schostakowitschs erster Oper "Die Nase" unter der Leitung von Valeri Gergiev.

TAZ, 05.03.2010

Seite 1 der taz zeigt den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders mit Hitlerbärtchen.

In tazzwei berichtet Julia Herrnböck von der Preview des ZDF-Dokudramas "Dutschke" in der taz, zu der auch seine Witwe Gretchen erschienen war und bei der sich die Zuschauer je nach Generationenzugehörigkeit mehr oder weniger zufrieden mit dem Film zeigten. "Gestritten wurde zwischen jüngeren Zuschauen und 68er-Aktivisten vor allem über eines: Setzt der Film zu sehr auf die Person Dutschkes und zeigt zu wenig von seinem Umfeld? Die Jüngeren fanden das zumeist nicht. Sie wollten vor allem Dutschke als Person kennen lernen. Seine Weggefährten hingegen wollten ihre Zeit wiedersehen." Das ZDF zeigt den Film voraussichtlich Ende April.

Im Kulturteil stellt Sarah Heppkausen "Odyssee Europa" vor, das große Theaterprojekt von Ruhr.2010, für das sechs städtische Theater europäische Autoren beauftragten, Homers Odyssee dramatisch umzusetzen. Julian Weber bedauert die Pleite des Berliner Indielabels Louisville, das mit seinen Produktionen wirtschaftlich gesehen leider allzu oft nur Achtungserfolge" erzielte. Ihre Favoriten werden in der Nacht zu Montag wohl wieder leer ausgehen, ahnt die taz, nennt aber unverdrossen ihre Oscar-Wünsche (darunter für den großartigen, 1997 gestorbenen japanischen Schauspieler Toshiro Mifune).

Besprochen werden das neue Album des Computermusik-Trios Fenn O'Berg "In Stereo", das Album "24/7" der Hamburger Deutschrockband Die Sterne.

Und Tom.
Stichwörter: TAZ, Weber, Julian, Wilders, Geert, ZDF

FR, 05.03.2010

"Glasnost für alle Akten!", fordert Arno Widmann, der nach Günter Grass' Stasi-Akten (die tatsächlich eine Heldengeschichte schreiben) jetzt auch gern die BND-Akten lesen würde. In Times mager sorgt sich Hans-Jürgen Linke um die aus dem Lot geratene Welt: Das Beben in Chile hat die Erdachse um acht Zentimeter verschoben.

Besprochen werden die Ausstellung zur Königin Luise im Berliner Schloss Charlottenburg, eine Schau des Künstlers Uwe Lausen in der Frankfurter Schirn, ein Konzert des slowakischen Tenors Pavol Breslik in Frankfurt und Robert Skidelskis Keynes-Anrufung "Die Rückkehr des Meisters" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Tagesspiegel, 05.03.2010

Malte Lehming denkt über Erfolge von Linkspopulisten wie Lafontaine und Rechtspopulisten wie Geert Wilders nach: "Populisten sind Seismografen für Verdrängtes. Ob Einwanderung, Kriminalität, Europa oder Afghanistankrieg: Überall dort, wo das Unvermögen von Regierenden, sich den Bürgern überzeugend erklären zu können, auf deren zum Teil diffuse Ängste stößt, hat der Populist leichtes Spiel. Dessen Erfolge sollten daher auch als Ansporn verstanden werden, als richtig erkannte Politik in eine noch klarere Sprache zu übersetzen. Wer sich von Populisten nur abstoßen und niemals inspirieren lässt, ist ihnen bereits auf den Leim gegangen."

Im Kulturteil berichtet Michael Bienert, dass das Auswärtige Amt unter Westerwelle Literatur- und Übersetzungsförderung kürzen will.

FAZ, 05.03.2010

Die Erfolge der Rechten in den Niederlanden begreift Dirk Schümer als Menetekel - und wundern, findet er, müsse man sich sowieso nicht: "Über die Niederlande hinaus ist das Comeback des Nationalismus in Zeiten des Euro und der vertieft-erweiterten EU offensichtlich."

Weitere Artikel: Constanze Kurz erläutert in ihrer Informatik-Kolumne technische Hintergründe zum Karlsruher Vorratsdatenspeicherurteil. In der Glosse geht es um Risse im Stelen-Beton des Holocaust-Mahnmals. Joseph Croitoru erfährt im Taliban-Presseorgan "Al Somood" (Standhalten), dass mit den amerikanischen Truppen und dem deutschen Militär der euro-amerikanische Faschismus in Afghanistan Einzug hält. Eduard Beaucamp erinnert in seiner Kunst-Kolumne an die Bildhauer Georg Kolbe und Gerhard Marcks.

Besprochen werden Nikolaus und Philipp Harnoncourts umgearbeitete Aufführung ihres Grazer "Idomeneo" in Zürich, die Uwe-Lausen-Ausstellung "Ende schön, alles schön" in der Frankfurter Schirn, Scott Coopers Filmdebüt "Crazy Hearts" (unter besonderer Berücksichtigung des Oscar-Kandidaten Jeff Bridges, Links zum Film hier) und Bücher, darunter Don DeLillos neuer Roman "Der Omega-Punkt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 05.03.2010

In mehr als einer Hinsicht lesenswert findet Jens Bisky den von Kai Schlüter herausgegebenen Band, der Auszüge aus den Stasi-Beobachtungen zu Günter Grass versammelt. Am interessantesten sei das Buch aber fast als Porträt des politischen Schriftstellers Grass: "Vor allem aber ist es geeignet, das Bild zu korrigieren, das sich die Öffentlichkeit von Günter Grass macht. Da er die Einheit, wie Kohl sie wollte, maßlos scharf kritisierte, da er die DDR eine 'kommode Diktatur' nannte, wurde er als Verharmloser attackiert. Seine Stasi-Akte aber zeigt: Nur wenige haben mehr dafür getan, das deutsch-deutsche Gespräch am Leben zu erhalten, als Günter Grass. Er blieb aufrechter Sozialdemokrat, und das hieß in der DDR, die auf der Ausschaltung aller Sozialdemokratie beruhte: Staatsfeind."

Weitere Artikel: Nach Ansicht der aktuellen Hollywoodfilme "Männer, die auf Ziegen starren" (mehr) und "Shutter Island" (mehr) gelangt Jan Füchtjohann zur Überzeugung, dass nur eine Haltung radikaler Toleranz und Offenheit die westlichen Gesellschaften wehrhaft macht gegen den Ansturm der Fundamentalismen. In der Glosse enttarnt sich "bgr" als Bruder im Geiste des nun allerdings entlassenen Peter Parker - und also als Superheld. Recht scharf kritisiert Friedrich Wilhelm Graf den "grandiosen Einfall" der bayerischen Landeskirche, die wegen vermeintlicher Nationalsozialismusnähe des Namensgebers Hans Meiser umzutaufende Straße in München nun ausgerechnet nach Luthers Frau Katharina von Bora zu benennen, die ihren Mann an Judenhass sogar noch übertroffen habe.

Besprochen werden eine von Riccardo Muti dirigierte, von Pierre Audi inszenierte, von Herzog & de Meuron ins Bild gesetzte, mit Kostümen von Muccia Prada ausgestattete Inszenierung von Verdis nicht sehr bekannter Oper "Attila" an der New Yorker Met (wo, wie Jörg Häntzschel berichtet, der Publikumswiderstand gegen die ästhetischen Öffnungsbemühungen des Direktors Peter Gelb langsam schwindet), Chris Kondeks Münchner Weltuntergangsabend "Übermorgen ist zweifelhaft//2012", die große Uwe-Lausen-Ausstellung in der Frankfurter Schirn, Thomas Ostermeiers Inszenierung von Lars Norens "Dämonen" an der Berliner Schaubühne und Bücher, darunter neben neuen Taschenbüchern in der Kurzkritik auch ein Band mit Übersetzungen von Stings "Songs" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).