Heute in den Feuilletons

Das war mein Leben

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2010. Die Welt verteidigt Jungfer Hegemann gegen alte Feuilletonbürokraten. Die taz wünscht sich, die Literaturkritik hätte Hegemanns Roman etwas weniger großkotzig gefeiert. In der FAZ erklärt Airen: Hegemanns Buch wäre auch ohne meine Stellen cool. Außerdem streitet sich Oscar Roehler mit Angela Schanelec und Benjamin Heisenberg. In der SZ möchte Hamid Dabashi, dass sich der Islam mit einem pluralistischen Gesellschaftsmodell abfindet. Die FR denkt über die Entstehung programmatischer Einheit nach. Die Berliner Zeitung fürchtet die Einführung einer Internet-Guillotine in Frankreich.

Welt, 12.02.2010

Matthias Heine eilt der Jungfer Hegemann zu Hilfe, die er von alten Männern bedrängt sieht, die eh schon unter ihrem Machtverlust im Internet leiden: "Helene Hegemann bringt sie gegen sich auf, weil sie ein Buch veröffentlicht, ohne 30 Jahre lang mit dem Federkiel Frakturschriften zu kalligraphieren. Und dann bekommt das Gör für sein anstößiges, die Regeln missachtendes Machwerk auch noch mehr Geld und mehr Aufmerksamkeit als all die wertvollen regelkonformen Produkte, die die alten Männer propagieren! Deshalb dampfen die Feuilletonbürokraten gerade Empörung aus jeder Pore." Aber alle lieben sie doch! Außer Jürgen Kaube natürlich.

Weitere Artikel: Michael Pilz warnt vor dem Singen von Sinatra-Songs auf den Philippinen: dort wurden schon sechs Menschen getötet, die beim Karaoke "My Way" verhunzt hatten. Das Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und die Humboldt Uni haben im Netz ein "Docupedia Zeitgeschichte eingerichtet: es ist ein Nachschlagewerk zu zentralen Begriffen, Konzepten, Forschungsrichtungen und Methoden der zeithistorischen Forschung", berichtet Sven Felix Kellerhoff. Lehman Brothers versuchen heute, ihre Kunstsammlung zu verkaufen, berichtet Peter Dittmar. Nachdem BHL auf einen erfundenen Philosophen namens Jean-Baptiste Botul hereingefallen ist, überlegt Wolf Lepenies, welche erfundenen Autoritäten er noch kennt. Bai. gratuliert dem Bildhauer Wieland Förster zum Achtzigsten. Paul Jandl gratuliert dem Dichtert Gerhard Rühm ebenfalls zum Achtzigsten.

Auf der Berlinaleseite plaudert Autor Robert Harris über seinen Roman "Ghostwriter", den Roman Polanski verfilmt hat und heute auf der Berlinale zeigt. Sophia Seiderer stellt den jungen deutschen Filmregisseur Benjamin Heisenberg vor, dessen Film "Der Räuber" im Wettbewerb läuft. Die Schauspielerin Karoline Herfurth kündigt an, ab heute täglich 1900 Zeichen über die Berlinale zu schreiben. Tim Ackermann verkündet, dass er kein Interview mit Banksy bekommt.

Besprochen werden der Berlinale-Eröffnungsfilm "Tuan Yuan" (den Peter Zander enttäuschend fand: "nicht nur unbekannte chinesische, sondern auch noch alte Schauspieler"), eine Chlodwig-Poth-Retrospektive im Frankfurter Caricatura Museum, die Aufführung von Rameaus "Les Paladins" in Düsseldorf und das neue Album von Sade.

Berliner Zeitung, 12.02.2010

Stefan Brändle berichtet, dass Frankreich ein neues Gesetz gegen das Internet plant: "das 'Gesetz über die Orientierung und Programmierung für die Durchsetzung der inneren Sicherheit', abgekürzt Loppsi. Sarkozys Gesetz hat offiziell Staatsfeinde und Pädophile im Visier. Sie sollen dank Loppsi mit mächtigen Suchmaschinen aus dem Netz gefiltert werden. Ein Abgeordneter der Sarkozy-Partei UMP, Jacques Myard, meinte allen Ernstes, Frankreich brauche gegen 'faule' Webinhalte ein 'Internet a la chinoise', das heißt Kontroll- oder Zensurbehörden wie in Peking." Das wäre gar nicht gut für die Meinungsfreiheit: "Wenn sich Sarkozy im rumänischen Parlament eine Kiste hinter das Rednerpult stellen lässt, um größer zu erscheinen, amüsiert sich die ganze Blogosphäre; die Pariser Tageszeitungen verlieren hingegen kein Wort darüber, um die Staatsräson zu wahren. Loppsi wäre die 'Guillotine für unliebsame Blogger', eilt ein Surfer aus Deutschland zu Hilfe."

FR, 12.02.2010

Jürgen Otten stellt sich komplizierte Fragen, nein, nicht zur Berlinale, sondern nach dem Berliner Ultraschall-Festival: "Die Frage ist so alt wie das Festivalwesen selbst, stellt sich aber immer wieder: Entsteht eine programmatische Einheit aus sich selbst heraus, ist sie also das Ergebnis einer dramaturgischen Überlegung, die auf Themengebundenheit setzt? Oder ergibt sich diese Einheit erst durch eine betonte Vielheit an ästhetischen Positionen, ist sie also gleichsam das Ergebnis eines glückhaften dialektischen Prozesses?"

Außerdem: Natalie Soondrum hat erschütternde Filme beim 16. Africa Alive Festival gesehen. Abgedruckt ist ein Auszug aus Daniel Kothenschultes Buch "Die Zukunftsruine. Metropolis 2010". In Times Mager wünscht sich Frank Junghänel eine Zwangsjacke, denn "die sind schick" hat er aus dem Berlinale-Katalog gelernt.

Besprochen werden eine Ausstellung über "Prinz Eugen. Feldherr Philosoph und Kunstfreund" im Wiener Belvedere und Lukas Hammersteins Roman "Wo wirst du sein" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Stichwörter: Ultraschall, Metropolis

NZZ, 12.02.2010

Marion Löhndorf hat am Londoner West End Theatre Jez Butterworth' "Jerusalem" und Lucy Prebbles "Enron" gesehen und kann die derzeitige "Talentdichte an Londoner Theatern" nur preisen. Der amerikanische Computer-Hersteller Dell hat das Bildarchiv der Fotoagentur Magnum gekauft, berichtet Andrea Köhler. Gabriele Detterer kündigt die zwölfte Architekturbiennale in Venedig an.

Besprochen werden die Ausstellung "La Splendeur des Camondos" über die Bankiers-und Kunstsammlerfamilie Camondo, ein Elgar- und Strawinsky-Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich sowie zwei Bücher über Rock und Pop in Bern und Basel (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 12.02.2010

Dirk Knipphals findet es mehr als in Ordnung, dass die Autorin Helene Hegemann mit ihrem Buch "Axolotl Roadkill" trotz der Plagiatsvorwürfe auf der Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse steht. Abgesehen davon, dass die Jury ihr Image beschädigt hätte, hätte sie ihre vor Wochen getroffenen Entscheidung revidiert, meint er: "Die hohen Wellen, die nun die Plagiatsvorwürfe gegen diese Autorin schlagen, sind nur ein Reflex auf die Vehemenz, mit der sie zuvor als Autorin mit den ganz großen Erzählungen des Generationenromans und sogar des Geniekults gepusht werden sollte. Es war wirklich arg stark aufgetragen worden. Das muss man bedauern, nicht nur weil die Literaturkritik da nun etwas großkotzig dasteht, sondern auch im Sinne von Helene Hegemann selbst: Ein sorgfältiger Aufbau einer Autorin sieht anders aus."

Ansonsten Berlinale: "Maximal fade" fand Cristina Nord Wang Quanans Eröffnungsfilm "Tuan Yuan (Apart Together)", der von einer Liebe zwischen Taiwan und China erzählt. Detlef Kuhlbrodt stellt vier japanische Filme aus dem Forum vor, darunter "Sawako Decides" des 26-jährigen Ishii Yuya über ein junges Mädchen, das in Tokio "entschlossen fatalistisch vor sich hin lebt". Stefan Reinicke sah im Forum den Dokumentarfilm "The Oath" von Laura Poitras über das Schicksal von Bin Ladens Fahrer und seinem Leibwächter. Jan Kedves bereitet auf den zweiten Tag vor, an dem unter anderem Roman Polanskis "The Ghostwriter" Weltpremiere im Wettbewerb feiern wird. Und Brigitte Werneburg unterhält sich mit der Fotografin Christine Kisorsy, die seit 2004 systematisch den Berliner Zoo Palast fotografiert hat.

Besprochen wird noch das zweite Album seit 1984 von Gil Scott-Heron: "I'm New Here".

Und Tom.

SZ, 12.02.2010

Für den iranisch-amerikanischen Kulturkritiker Hamid Dabashi gilt es, die Frage nach dem Verhältnis von Islam und Säkularisierung vom Kopf auf die Füße zu stellen. Und das heißt, ihn dazu zu zwingen, sich an ein nichtreligiösen Umfeld anzupassen: "Positionen wie die von Tariq Ramadan mit seinem reformierten Islam lehne ich kategorisch ab. Natürlich kann man ein freigeistiger, liberaler Muslim sein und sagen, also, wir müssen jetzt mal den Islam reformieren. Aber die Welt kann es sich nicht leisten, darauf zu warten, dass sich der Islam oder das Christentum oder Judentum reformieren. Die Welt muss sich mit der Vielfalt an Welterklärungsmodellen arrangieren, und das Gleiche gilt für den Islam. Diese Religion muss sich mit dem pluralistischen Gesellschaftsmodell abfinden und ihre eigene Identität darin anerkennen und wertschätzen, inmitten all der weltanschaulichen Gegenmodelle."

Weitere Artikel: Die SZ fragt nach bei den enthusiastischsten Kritikern von Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill"-Roman - und nur die wenigsten streichen mehr als nur ein Jota von der Begeisterung, die sie noch in Unkenntnis gewisser Praktiken der Autorin geäußert hatten. (Nur einer sagt lieber nichts: "Maxim Biller möchte sich nicht an der Diskussion beteiligen und auch nicht zitiert werden.") Gut gefallen hat Susan Vahabzadeh Wang Quan'ans Berlinale-Eröffungsfilm: "In 'Apart Together' bleibt jedenfalls von Glamour nicht die geringste Spur, er spielt in ärmlichen Häusern und erzählt von Menschen, die nicht aus sich herausgehen. Aber das macht er wenigstens gut." Tobias Kniebe fürchtet, dass von der Berlinale seit den neunziger Jahren keine Bilder bleiben werden als die "immergleiche PR-Tapete, die mit kleinen Sponsoren-Logos und Berlinale-Bären übersät " ist. Gustav Seibt sinniert mit Hilfe von Elias Canetti über Befehl und Schikane. Sebastian Kunigkeit schildert französischen Streit über die Erhebung ethnischer Hintergründe bei statistischen Befragungen. Lothar Müller gratuliert dem Autor Gerhard Rühm zum Achtzigsten.

Besprochen werden ein Konzert mit den Pianistinnen Katia und Marielle Labeque in München, Stephan Kimmigs "Kabale und Liebe"-Inszenierung am Deutschen Theater Berlin, eine Ed-Ruscha-Ausstellung im Münchner Haus der Kunst, die Ausstellung "Maharaja - Pracht der indischen Fürstenhöfe" in der Hypo-Kunsthalle München, das Album "Earthology" der Münchner Whitefield Brothers und Bücher, darunter Bernd Roecks Biografie eines Goldschmieds "Ketzer, Künstler und Dämonen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 12.02.2010

Plagiats-Affäre, nächste Runde: Jetzt spricht Airen, der Mann, den Helene Hegemann mehr oder (im Direktvergleich bei faz.net sieht man klar: eher minder) wörtlich beklaute. Tobias Rüther hat ein langes Interview mit ihm geführt, in der Wohnung seines (Airens) Freund "Glamour Dick". Airen spricht ausführlich über das Berghain. Er will anonym bleiben, und zwar nicht zuletzt, weil er, anders als Hegemann, in seinem Blog, dann im Buch "Strobo", schildert, was ihm tatsächlich widerfuhr: "Ich habe ihren Roman gelesen, es ist genau die Art von Buch, die ich gern lese, aber es wäre auch ohne meine Stellen cool gewesen. Ich würde gern wissen, was Helene Hegemann gedacht hat. Was ich geschrieben habe, habe ich durchlitten - Gott sei Dank bin ich ohne Krankheit davongekommen. Das ist kein Roman, das war mein Leben. Ich habe mir das nicht ausgedacht. Helene Hegemann hat das nicht erlebt. Ich habe das so erlebt."

Ein Blogger mit Namen Glamour Dick darf in einem weiteren Artikel allen Ernstes behaupten: "Ein guter Blog zeichnet sich vor allem durch eine Qualität aus: Echtheit."

Hoch her geht es bei einem Dreiergespräch zwischen den bei der Berlinale vertretenen Regisseuren Angela Schanelec, Benjamin Heisenberg und Oskar Roehler: Letzterer hat ziemlich schnell genug vom Gespräch und will gehen, bleibt aber doch, fordert Respekt für das Können von Filmemachern wie Til Schweiger und platzt schließlich heraus: "Das ist doch aber die Frage: Hast du so einen bewegenden Film schon einmal gemacht, von dem du denkst, dass eine ganze Generation junger Leute den im Kopf hat? Davon träumt man doch. Mich nervt es, wenn alles immer nur angedeutet, in der Schwebe gehalten wird. Ich denke immer, dass der Mut dazu fehlt oder die Konsequenz, die Geschichte weiter zu treiben, weil man sich in so einem kleinen, unscheinbaren Rahmen wohl fühlt. Ich fühle mich halt nicht wohl in solchen Filmen." Die beiden anderen sagen Kommensurableres.

Weitere Artikel: Der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan erklärt, warum es bei den Kämpfen im Iran heute und früher vor allem um eines ging: Erdöl. Jordan Mejias ist mit dem Ipod als fortgeschrittenem Audio- und Videoguide im New Yorker Cooper-Hewitt National Design Museum unterwegs und fragt sich, ob der Museumsbesuch demnächst wohl ganz virtuell stattfinden wird. Julia Voss freut sich sehr über den Ankauf des Matisse-Frühwerks "Le Mur Rose" durch das Frankfurter Jüdische Museum. Ein im Netz nicht genannter Autor muss feststellen, dass sich in der klassischen und seit Jahrzehnten immer wieder aufgelegten Einführung "Mohammed und der Koran" des 1983 verstorbenen Orientalisten Rudi Paret - und zwar keineswegs zufällig - antisemitische Passagen finden.

Besprochen werden ein Konzert der Band Depedro in Köln, Martin Kusejs Inszenierung von Richard Wagners "Fliegendem Holländer" in Amsterdam, die Ausstellung "Peter Bialobrzeski: Paradise Now" in der Alfred-Ehrhardt-Stiftung Berlin und Bücher, darunter der Band mit John-Cheever-Stories "Der Schwimmer" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).