Heute in den Feuilletons

Salut l?artiste

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2010. In der NZZ erklärt der Psychiater und Schriftsteller Ion Viona, warum das heutige Rumänien auf Treibsand gebaut ist. ReadWriteWeb äußert datenschutzrechtliche Bedenken gegen Google neuen sozialen Dienst Google Buzz. Der Spott auf Bernard-Henri Levy, dessen neueste Kant-Kritik auf einem Fake beruht, ist groß. Die Hegemann-Remix-Affäre ist in die Phase der  Meta-Betrachtung eingetreten.

NZZ, 10.02.2010

Am Beginn des heutigen Rumäniens stand das blutige und nie wirklich aufgeklärte Ende des Diktators Ceausescu. Für den Psychiater und Schriftsteller Ion Viona lasten die vertuschten Ereignisse noch immer auf dem Land: "Nie wurde zweifelsfrei festgestellt, wer an jenem Dezembertag den Schießbefehl gab. Der schreckliche Verdacht, die mehr als tausend Toten der Revolution seien nichts als die Opfer einer anderen Farce von viel größeren Ausmaßen, bleibt der wahre Gründungsakt des postkommunistischen Rumänien. Aber im zwanzigsten Jahr der rumänischen Revolution wurde die Akte über die Ereignisse von damals geschlossen, während unser Land von internationalen Gerichten verurteilt wird. Das heutige Rumänien steht auf einem Boden aus Treibsand: der Lüge über die Ereignisse vom 21. bis 25. Dezember. Und wenn die historischen Tatsachen in diesem Boden immer tiefer versinken, sinken auch die Chancen, je die historische Wahrheit zu erfahren."

Weiteres: Der Biochemiker der Universität Basel Gottfried Schatz erklärt in seinem Artikel, welch ausgeklügeltes Selbstmordprogramm den menschlichen Körper am Leben erhält. Besprochen werden die Ausstellung "Architectures de collection" im Pariser Pavillon de l'Arsenal, Skanderbeg-Biografie des Schweizer Südosteuropa-Historikers Oliver Jens Schmitt, zwei weitere Bände der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken und der neue Roman "Union Atlantic" von Adam Haslett (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 10.02.2010

Folgendes Diktum findet sich in Wolfgang Michals kleinem Stück über den Fall Hegemann in Carta: "Die 'Sharing-Kultur des Internets' macht allerdings kein Hehl daraus, dass sie aus Bruchstücken zusammengesetzt ist - während die Besitz-Kultur des Feuilletons oft so tut, als sei alles auf dem eigenen Mist gewachsen." Mathias Richel bringt in seinem Blog ein (Audio-)Gespräch mit Deef Pirmasens, der die ganze Geschichte aufgebracht hat.

Gestern hat Google seinen sozialen Dienst Google Buzz vorgestellt, der auf Gmail aufbaut und ähnliche Kommunikationsformen ermöglicht wie Facebook und Twitter. Unter anderem gibt es dort ein Geotagging für Mobil-Telefone, das bei Frederic Lardinois im ReadWriteWeb datenschutzrechtliche Bedenken aufwirft: "By default, location sharing is turned on in Buzz, which raises concerns about privacy. Just today, as the European Union celebrates 'Internet Safety Day,' the E.U. warned users to turn off geolocation services whenever possible."

Telepolis bringt ein Interview mit Perlentaucher Thierry Chervel zur Islamdebatte.

FR, 10.02.2010

Die FR druckt ein Interview, in dem der britische Krimiautor David Peace seinen amerikanischen Kollegen James Ellroy befragt. Es geht um Ideen, Frauen, Politik ("Ich bin ja ein großer Fan von Ronald Reagan") und 1968: "Ich bin nicht sehr sozial veranlagt. Ich erinnere mich an die Zeit und auch an bestimmte Ereignisse, aber mir war damals alles scheißegal. Ich hatte genug mit mir selbst zu tun. Eigentlich wollte ich nur saufen, Drogen nehmen und Frauen aufreißen - letzteres ohne Erfolg natürlich. Und lesen wollte ich; sonst war mir alles egal."

Weitere Artikel: Bernhard Bartsch berichtet vom Offenen Brief des chinesischen Schriftstellers und Regimekritikers Liao Yiwu an Angela Merkel: Liao, dem die chinesische Regierung schon die Ausreise zur Frankfurter Buchmesse nicht gestattete, soll trotz Einladung auch nicht zur lit.cologne fahren dürfen. (Wenn Sie Zeit haben, liebe Leser, sollten Sie seinen sehr bewegenden Brief im Wortlaut lesen.) Martin Altmeyer resümiert eine Frankfurter Tagung zur Traumaforschung. In Times mager singt Felix Helbig Trinklieder.

Besprochen werden Andrea Breths "wuchtige" Inszenierung von Bernard-Marie Koltes' "Quai West" und das Schwarzbuch "Deutsche Bahn" von Christian Esser und Astrid Randerath (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 10.02.2010

Mehrere Welt-Redakteure widmen sich in kurzen Gedenkartikeln den Schandtaten der CD. Manuel Brug reibt sich die Hände angesichts der medienfreundlichen "Melange aus Glamour, Kunst und Kriminalität" in Salzburg. Uwe Wittstock berichtet in der Leitglosse über den Hilferuf Liao Yiwus an Angela Merkel (hier sein Offener Brief im Wortlaut). Johannes Wetzel erzählt, wie Bernard-Henri Levy einem erfundenen Philosophen auf den Leim ging. Brug erzählt, wie hilfreich die Filmmusik von Gottfried Huppertz für die Rekonstruktion von Fritz Langs "Metropolis" war. Uta Baier erzählt, wie der Sohn eines DDR-Kunstsammlers, der von der Stadt Erfurt sein Erbe zurück möchte, seit Jahren hingehalten wird. Der Historiker Gregor Schöllgen, Direktor des Erlanger Zentrums für Angewandte Geschichte (ZAG), verteidigt die kommerzielle Geschichtsforschung seines Instituts.

Auf der Magazinseite berichtet Boris Kalnoky über einen "Ehrenmord" in der Türkei: eine 16-Jährige war von ihrer Familie lebendig begraben worden.

Besprochen werden einige CDs, die Ausstellung "The Grand Insolvency Show" in der Münchner Galerie Lothringer 13, eine Eva-Braun-Biografie und der Comic "Warum ich Pater Pierre getötet habe" von Alfred und Olivier Ka.

TAZ, 10.02.2010

Auf der Meinungsseite zeichnet Philipp Gessler ein Bild des jüdischen Lebens in Deutschland, an dessen Spitze nach Charlotte Knobloch mit Dieter Graumann erstmals kein Holocaust-Überlebender stehen wird: "Es ist nicht mehr die jüdische Minderheit mit ihrer kurzen Blüte, die die Republik in den vergangenen zwei Jahrzehnten so verblüfft, aber meist erfreut beobachten konnte. Sondern eine jüdische, sagen wir, Gemeinschaft, die zukünftig wieder ärmer, kleiner und unwichtiger, aber auch pluraler, gegenwartsbezogener und freier sein wird."

Weiteres: Thomas Hübner singt eine Hymne auf Dominique A, das Idol der linken Intellektuellenjugend Frankreichs. Besprochen werden Phil Collins' Kunstinstallation "Auto-Kino!" in der Temporären Kunsthalle Berlin sowie der amerikanische Comic "One Model Nation" über das Deutschland der siebziger Jahre, der fröhlich RAF und Kraftwerk, Bowie und Baader mixt.

Und Tom.

SZ, 10.02.2010

Bernard-Henri Levy ist in seinem neuesten, in Frankreich überall abgefeierten Buch "De la guerre en philosophie", einem Fake auf den Leim gegangen, dem Buch "La vie sexuelle d'Emmanuel Kant" eines gewissen Jean-Baptiste Botul, das Levy zu einer radikalen Kritik des Aufklärungsphilosophen trieb. Das Buch ist von dem Journalisten Frederic Pages, schreibt Johannes Willms: "Der hat zwar wirklich Philosophie studiert, beherrscht also deren Begrifflichkeit - arbeitet aber vor allem für das satirische Wochenblatt Canard enchaine. Er ist zum Beispiel der Verfasser des fiktiven 'Tagebuch der Carla B.', der Gattin des Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy Carla Bruni, das allwöchentlich begeisterte Leser findet." BHL verteidigt sich auf der Seite seiner Zeitschrift La regle du jeu: "Salut l?artiste. Chapeau pour ce Kant invente mais plus vrai que nature."

Zum letzten Prozesstag des bisher skandalös verlaufenden Prozesses um den Mord an Hrant Dink kam die Witwe Dinks nicht allein, sondern mit Angehörigen zwanzig weiterer ungeklärter Morde in der Türkei, berichtet Kai Strittmatter: "Zwanzig Morde, so glauben die Familien, hinter denen der 'tiefe Staat' steckt: die Netzwerke und Todesschwadronen selbsternannter Vaterlandsschützer, die in den Katakomben der Republik nisten, seit diese 1923 geboren wurde. Eine solche Schau der Solidarität unter den Opfern hat es noch nie gegeben."

Weitere Artikel: Tanja Rest berichtet, dass die Digitalisierung und das 3D-Kino die kleineren Häuser vor existenzielle Probleme stellen. Sonja Zekri berichtet, dass die usbekische Fotografin Umida Achmedowa mit Gefängnis rechnen muss, schlicht weil sie den Alltag in ihrem Land fotografiert. Sebastian Schoepp beobachtete den ersten Auftritt der Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, nach der Ankündigung ihres Rücktritts. Lothar Müller meldet, dass der Bund keine Mittel für den Ankauf des Suhrkamp-Archivs durch das Literaturarchiv in Marbach zur Verfügung gestellt hat - angeblich, weil Marbach den Antrag nicht rechtzeitig stellte. Laura Weißmüller besucht Henry van de Veldes wieder hergerichtetes Kunstschulgebäude in Weimar. Jörg Häntzschel besucht den gerade in München reüssierenden Maler Ed Ruscha in seinem Atelier in Los Angeles. Rainer Gansera gratuliert dem Prinz-Eisenherz-Darsteller Robert Wagner zum Achtzigsten. Auf jetzt.de verwahrt sich Dirk von Gehlen gegen die Gleichsetzung von Remixes mit den Betrügereien Helene Hegemanns.

Auf der Medienseite berichtet Judith Raupp über das gefährliche Leben von Journalisten in Somalia.

Besprochen werden drei moderne chinesische Soloopern, die in München gastierten, ein Liederabend mit Ian Bostridge in München, ein Liederabend mit Michael Volle ebendort, eine Ausstellung über den Schweizer Schriftsteller Hugo Loetscher in Zürich und Bücher, darunter Sebastian Barrys Roman "Ein verborgenes Leben".

FAZ, 10.02.2010

Jürgen Kaube legt in seinem - womöglich in der Beta-Version gedruckten - Feuilletonaufmacher nahe, dass Helene Hegemanns Roman nicht von ihr, sondern entweder von ihrem Vater Carl Hegemann oder gleich "dem Kulturestablishment" geschrieben wurde. "Hätte ein Mann fortgeschrittenen Alters notiert, es bereite ihm keine Schwierigkeiten, bei der Vergewaltigung eines Sechsjährigen zuzuschauen, schützte ihn hoffentlich kein Hinweis auf Tagebuch-Poetik vor der moralischen Verachtung. Hier darf es ein Mädchen seine Ich-Darstellerin - 'aus den Tiefen meines Unterbewusstseins' - heraus sagen lassen, das den Text womöglich vor der Drucklegung seinem Vater gezeigt hat. (...) ob er ihr solche Stellen hineingeschrieben hat?" (Womöglich. Womöglich natürlich auch nicht.)

Weitere Artikel: Karen Krüger erinnert auch im Kontext aktueller Diskussionen über die Säkularisierbarkeit des Islam daran, dass der Kemalismus als Zwangsmaßnahme heute weithin gescheitert scheint. Jürg Altwegg beschreibt, wie Bernard-Henri Levy beim Versuch, mit seinem neuen Buch nicht nur als Medienstar, sondern auch als Philosoph zu reüssieren, den direkten Weg in den Fettnapf fand: Er zitiert darin allen Ernstes das längst als Scherzbuch enttarnte Werk "Das sexuelle Leben von Immanuel Kant." Der Ökonom Leo A. Nefiodow weiß dank der langen Wellen des Kondratieff, dass "gesunde christliche Spiritualität" dem Gesundheitssystem und damit der Weltwirtschaft größten Nutzen bringt. In der Glosse ist Mark Siemons der Bewunderung voll über zwei der Feindschaft absagende Erklärungen des chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo.

Dirk Schümer kennt den aktuellen Stand der Information über die "mutmaßlichen Malversationen" bei den Salzburger Osterfestspielen. Andreas Rossmann meldet, dass es nun erste Hinweise auf Schlamperei beim U-Bahn-Bau gab, der zum Einsturz des Kölner Stadtarchivs führte. Auf der Medienseite verweist Hendrik Wildruweit auf ein Urteil des Landgerichts Köln, das in der Konsequenz freie Fahrt für Googles Streetview-Projekt bedeutet. Von einer Paderborner Tagung zur avancierten Medientheorie berichtet Oliver Jungen. Auf der Geisteswissenschaften-Seite geht es unter anderem um populäre Edda-Rezeption um 1900, um Kanonbildung im Twitter-Zeitalter und Pornografie aus rechtsethischer Sicht.

Besprochen werden eine Henri-Rousseau-Ausstellung in der Fondation Beyeler in Basel, Michael Drehers Film "Die zwei Leben des Daniel Shore" und Bücher, darunter aus aktuellem Anlass Philipp Theisons Studie "Plagiat" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).