Heute in den Feuilletons

So viel wie ein junges Nashorn

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.02.2010. Wie uralt ist diese Bundesrepublik!, ruft die Welt nach Ansehen einer DVD-Edition mit Kulturfilmen von Bernhard Grzimek. Ebenfalls in der Welt empfiehlt Zafer Sencoak in der aktuellen Islamdebatte einen Blick auf die Türkei. Die FR berichtet vom Fajr Film Festival in Teheran, das von den Juroren boykottiert wird. Auf den Seiten des amerikanischen PEN Clubs schlägt Kwame Anthony Appiah den Autor und Dissidenten Liu Xiaobo für den Friedensnobelpreis vor. Die chinesische Regierung warnt vor dieser Idee.

Welt, 03.02.2010

Eckhard Fuhr hat sich eine DVD-Edition mit uralten Kulturfilmen Bernhard Grzimeks angesehen, die noch vor seinen Filmen und Fernsehsendungen in den fünfziger Jahren in Schulklassen gezeigt wurden. Ein Schock: "Was für ein altes Land ist doch diese Bundesrepublik! Und wie fremdartig wirken jene Dokumente, in denen sich der Umwelt-, Arten- und Ökologiediskurs, der heute zum allgegenwärtigen Mediengeräusch geworden ist, ganz roh, unbeholfen und unschuldig darbietet. An Sprache und Bildern kleben noch die Eierschalen des Kolonialismus. Der - europäische - Mensch ist zum Bösen wie zum Guten Herr der Schöpfung."

Wenn sich der Islam irgendwo modernisiert, dann in der Türkei schreibt Zafer Senocak auf der Forumsseite: "Doch wenn heute in Europa über den Islam debattiert wird, ist die Türkei keine Referenzquelle. Europa hat sich abgeschottet und betrachtet den Islam und die islamische Welt zunehmend als homogene Konstruktion im eigenen Kopf. Nicht die türkischen Unternehmerinnen oder Professorinnen, sondern die Burka-Trägerinnen aus Frankreich bestimmen die Islam-Bilder in den Köpfen. Eine hartnäckige Wahrnehmungssperre ist entstanden, die dieses eine Bild von der unterdrückten muslimischen Frau konterkarieren könnte."

Weitere Artikel: Gernot Facius erzählt aus Anlass der Missbrauchsvorfälle am Berliner Canisius-Kolleg eine kleine Kulturgeschichte des Jesuitentums (wobei das Thema des sexuellen Missbrauchs aber gar keine Rolle spielt). Uta Baier erzählt von dem Projekt eines umfassenden wissenschaftlichen Cranach-Archivs, das ins Netz gestellt werden soll. Uwe Schmitt hat Scarlett Johansson in ihrem Broadway-Debüt als Catherine in Arthur Millers "A View from The Bridge" gesehen. Eckhard Fuhr empfindet in der Leitglosse den Protestgestus, mit dem Walser auf den Afghanistaneinsatz und Enzensberger (siehe heutige FAZ) auf die EU einschlagen, als populistisches Einrennen offener Türen. Thomas Kielinger berichtet vom Widerstand Benedikts XVI. gegen ein britisches Gesetz, das eine Gleichstellung Homosexueller (auch in Kirchen!) fordert. Und Hanns-Georg Rodek schreibt ein Doppelporträt über James Cameron und dessen Exfrau Kathryn Bigelow, die mit ihren Filmen bei der Oscar-Verleihung gegeneinander antreten.

FR, 03.02.2010

Amin Farzanefar berichtet über das Fajr Film Festival in Teheran, dass in diesem Jahr nicht nur von einer Reihe von Filmemachern boykottiert wird: "Dem Teheraner Fajr Film Festival gehen die Juroren aus: Asghar Farhadi, vergangenes Jahr auf der Berlinale für 'About Elly' ausgezeichnet, gab eine Reise als Grund für die Absage an, andere schoben Krankheiten und anderweitige Ausflüchte vor oder revidierten ihre Zusage. Abbas Kiarostami, wohl der enigmatischste aller iranischen Regisseure, hatte seine Ablehnung gar nicht erst begründet. So wurde das Festival Anfang letzter Woche erst einmal ohne Jury eröffnet - sie tage im Geheimen, hieß es, 'um sich besser zu schützen'. Erst gegen Ende der Woche wurden dann einige Namen bekannt gegeben."

Claus-Jürgen Göpfert stellt den neuen Chef des Frankfurter Literaturhauses Hauke Hückstädt vor, der Maria Gazzetti ablöst und gibt dann einer Hoffnung Ausdruck: "Maria Gazzetti hat sehr engagiert für das Literaturhaus und für ihr Programm gekämpft - in den Augen städtischer Verantwortlicher stempelte sie das am Ende fast zur Querulantin ab. Dass der Lyrik-Liebhaber Hauke Hückstädt, der Mann mit den DDR-Wurzeln, ein bequemerer Partner sein wird - diese Annahme könnte sich am Ende als Trugschluss erweisen."

Weiteres: Ariel Dorfman schreibt den Nachruf auf den argentinischen Autor Tomas Eloy Martinez. In Times Mager nennt Daniel Kothenschulte einige Oscar-Kandidaten. Besprochen werden Helene Hegemanns Roman "Axolotl Roadkill" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr) und einige lokale Ereignisse.

NZZ, 03.02.2010

Roman Hollenstein besichtigt das von Ron Arad entworfene Designmuseum in der Tel Aviver Industrievorstadt Holon: "Wie eine gestrandete Arche liegt das Design Museum Holon (DMH) nun zwischen der Mediathek und den Wohnhochhäusern jenseits der Hankin-Avenue und erinnert mit seiner aus massivem, unterschiedlich patiniertem Corten-Stahl bestehenden Hülle manche Besucher an eine gigantisch wuchernde Skulptur von Richard Serra oder aber an eine nudelartige Pop-Skulptur."

Weitere Artikel: Andrea Köhler begutachtet die neu gestaltete Frick Collection in New York. Andreas Breitenstein berichtet von Timothy Garton Ashs Vortrag in Zürich über "Europa in einer nichteuropäischen Welt".

Besprochen werden die Ausstellung "Corpo, automi, robot" in Lugano, eine Inszenierung des "Falstaff" in Wiesbaden sowie ein weiterer Band des Historischen Lexikons der Schweiz (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 03.02.2010

Anders als Necla Kelek sieht Michaela Schlagenwerth den Islam in Deutschland auf dem besten Wege: "Immer entschiedener bekennen sich die großen Islamverbände zu Demokratie und Pluralismus, immer selbstverständlicher arbeiten die einzelnen Moscheevereine vor Ort mit der Polizei, mit Schulen, in Berlin etwa auch mit dem Quartiersmanagement zusammen."

Aus den Blogs, 03.02.2010

Kwame Anthony Appiah schlägt im Namen des amerikanischen PEN Clubs Liu Xiaobo für den Friedensnobelpreis vor. Aus seinem Brief an das Komitee des Preises: "Liu's writings express the aspirations of a growing number of China's citizens; the ideas he has articulated in his allegedly subversive writings, ideas that are commonplace in free societies around the world, are shared by a significant cross section of Chinese society. Charter 08, for example, is a testament to an expanding movement for peaceful political reform in China. This document, which Liu co-authored, is a remarkable attempt both to engage China's leadership and to speak to the Chinese public about where China is and needs to go. It is novel in its breadth and in its list of signers - not only dissidents and human rights lawyers, but also prominent political scientists, economists, writers, artists, grassroots activists, farmers, and even government officials."

Die chinesische Regierung hat das Nobelkomitee inzwischen davor gewarnt, Liu den Nobelpreis zu geben, meldet Reuters in Indien. Gleichzeitig kursiert eine Unterstützerliste für Appiahs Aufruf: Paul Auster, Ian Buruma, Don DeLillo, Siri Hustvedt, Jonathan Lethem, Philip Roth, Salman Rushdie gehören zu den Unterzeichnern.

Bereits vor knapp einer Woche hatte Perry Link im Blog der New York Review of Books gemeldet, dass Liu Xiaobo gegen sein Urteil Berufung eingelegt hat. Chancen hat er nicht, meint Link: "Yet Liu's response to his sentence-and that of a number of Chinese intellectuals over the past few weeks-suggests that the Charter 08 movement continues to survive, despite extraordinary efforts by the Chinese government to repress it."

Nicht gerade freundlich kommentiert Andreas Moring in Carta den Ruf der Zeitungsverlage nach Leistungsschutzrechten: "Betrachtet man die Lage nüchtern, wären einige Punkte festzuhalten: Das bestehende institutionelle System der Medienwelt ist, so scheint es, nicht in der Lage, aus sich selbst heraus den Wandel zu gestalten, darum soll er mit Verboten und Sperren aufgehalten werden."

Weitere Medien, 03.02.2010

(via 3quarksdaily) Nalini Rajan bespricht in The Hindu ein Buch über "The Indian Public Sphere" und beginnt mit einem freundlichen Nicken Richtung Westen: "As citizens of a nation in the making, Indian scholars have been deeply interested in the writings of Benedict Anderson and Jurgen Habermas. Anderson has discussed the ways in which print capitalism allows a literate monolingual population to imagine the nation through the newspaper and the novel. Habermas, for his part, has delineated his notion of the public sphere as a realm of free debate and rational argument."

Der Schauspieler Antony Sher ist nach Oslo gereist, um sich auf seine Rolle als Dr. Stockmann in Ibsens Stück "Ein Volksfeind" vorzubereiten. Im Guardian erzählt er, wie ihm eine Erleuchtung kam, als er vor Gustav Vigelands muskulösen Nackten im Vigeland Park stand: "Vigeland's style led to accusations that he was a Nazi sympathiser - the thick, muscular bodies look vaguely like Aryan super-people - but his work represents a completely opposite ­ideology: a celebration of being human, and varied. The negative propaganda is an example of the same short-sighted, narrow-minded thinking that Ibsen battled for much of his career, and that he dramatises so vividly in 'Enemy of the People'. I decided I might have been wrong about the gloom in Ibsen's work. Maybe it's more to do with something in the Scandinavian ­character, ­something the writer ­actively kicks against."

TAZ, 03.02.2010

Marcus Bensmann berichtet von den Schwierigkeiten, die der Filmemacherin Umida Achmedowa wegen ihres Dokumentarfilms "Die Bürde der Jungfräulichkeit" drohen: "Letzte Woche endeten die polizeilichen Ermittlungen. Der Film und das ebenfalls von ihr 2007 veröffentlichte Fotobuch 'Frauen und Männer' hätten das usbekische Volk 'verleumdet' und 'beleidigt'. Der Prozess wird für Mitte Februar erwartet. Der Künstlerin drohen bis zu acht Jahren Haft. Das Schweizer Außenministerium dementiert Berichte, dass es sich von der bedrängten usbekischen Künstlerin distanziert habe. Die Schweizer hätten die Finanzierung ihres Filmes jedoch im Frühjahr 2009 nachträglich eingeschränkt."

Weiteres: Freunden der tiefen Temperaturen kann Tim Caspar Boehme das Ice Music Festival im norwegischen Wintersportort Geilo empfehlen. Gespielt wird hier auf Eisinstrumenten: "Die Temperatur ist entscheidend für die Qualität des Klangs, je kälter, desto größer das Obertonspektrum." Laura Ewert erlebt die Kreuzberger Rapper K.I.Z. in einem schweren Dilemma: Ihr neues Album "Sexismus gegen rechts" wurde gut besprochen. "'Ich finde das widerlich', sagt Tarek über verständnisvolle Journalisten." Besprochen wird Jason Reitmans Komödie aus der Businessclass "Up in the Air".

Auf der Meinungsseite macht Daniel Bax unter der Überschrift "Kelek wird nicht fehlen" noch einmal klar, dass er Necla Kelek bei der neuaufgelegten Islamkonferenz nicht vermissen wird: "Unklar bleibt weiter, wer eigentlich für 'die Muslime' spricht. Klar ist, dass die muslimischen Intellektuellen und die 'Islamkritikerinnen', die noch von Wolfgang Schäuble eingeladen worden waren, vor allem für sich selbst sprachen."

Und noch Tom.

SZ, 03.02.2010

Christine Dössel berichtet von einem Abend am Stadttheater Fürth mit entlassenen Mitarbeitern von Quelle: "Zu Grabe getragen wurde hier - in aller Wut und Würde - nicht nur ein an Misswirtschaft und Überlebtheit zugrundegegangener Versandhändler; beerdigt wurde auch eine lange Tradition: der Erfolg und der Stolz eines regional verankerten Familienunternehmens samt der Illusion von sicheren Arbeitsplätzen - der ganze Besitzanspruch des Slogans: 'Meine Quelle!'", schreibt Dössel.

Christopher Schmidt hat in einem beistehenden Kommentar wenig Sympathie für diese Art von politisch-dokumentarischer Kunst: "Immer, wenn das Theater sich bedroht fühlt, etwa durch Sparpläne der Politik, verteidigt es seltsamerweise nicht seine künstlerischen Verdienste, sondern seine gesellschaftliche Relevanz."

Weitere Artikel: Für bgr. ist das Einknicken von Amazon vor den Preisforderungen des amerikanischen Buchverlags McMillan ein Beweis für die marktheilenden Kräfte der "elektronischen Leseflunder" iPad (wobei er allerdings nicht erwähnt, dass Apple zur Zufriedenheit der Kunden in seinem Musikstore eine Amazon-ähnliche Preispolitik von 99 Cent pro Song betreibt). Kia Vahland ist zufrieden mit der Neuhängung der Werke alter Niederländer (keine Respektlosigkeit!) in der Berliner Gemäldegalerie. Lothar Müller berichtet von einer Tagung zu Karl Philipp Moritz' Magazin zur Erfahrungsseelenkunde - es ist ein etwas akademischer Artikel, den man aber im Lichte der Enthüllungen zum Missbrauch am katholischen Canisius-Kolleg in Berlin (Seite 3 Reportage) und sogar zum Streit um die Islamkritiker - "Wirklichkeit kommt hier nur dem Einzelnen, Individuellen zu" - doch mit Interesse liest. Rudolf Herfurtner gratuliert der Kinderbuchautorin Tilde Michels zum Neunzigsten.

Auf der Medienseite findet es Marc Felix Serrao "vielversprechend", dass nach einem Test der Werbeagentur Rod Kommunikation "Facebookless: Mein Monat ohne Facebook", die meisten Probanden ihre Facebook-Aktivitäten eher kritisch beurteilen.

Besprochen werden Jason Reitmans Film "Up in the air" mit George Clooney, die Ausstellung "Art Bin" in der Londoner South London Gallery, Martin Kusejs Inszenierung des "Fliegenden Holländers" in Amsterdam, die Ausstellungen "Post-Oil City" in der ifa-Galerie Stuttgart und "Seismograph City - Hamburg im Dialog" im Berliner Architekturforum Aedes, einige CDs und Bücher, nämlich Roberto Zapperis "Abschied von Mona Lisa" und ein Hörbuch mit Märchen von Oscar Wilde (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 03.02.2010

Auf der Medienseite darf Jörg Kantel (Autor des Blogs "Der Schockwellenreiter") seinem Ärger über den Ipad-Hype Luft machen: "Das iPad ist also kein Computer im Sinne einer Universalmaschine mehr, sondern eine Abspielplattform für die Inhalte der Medienkonzerne. Das iPad macht aus dem Two-Way-Web wieder eine Einbahnstraße und zwar eine, für deren Nutzung gezahlt werden muss. Das führt letztlich zur Entmündigung der Nutzer... Für mich jedenfalls steht fest: Ein Computer, auf dem keine einzige Programmiersprache läuft, ist kein Computer, sondern eine Fernbedienung."

Im Feuilleton ist leicht gekürzt Hans Magnus Enzensbergers Dankesrede zum Erhalt des dänischen Sonning-Preises abgedruckt. Dank dominiert allerdings nicht darin, sondern Spott, und zwar auf die Regulierungswut der EU. Exemplarisch der Acquis communautaire der Union: "Kein Mensch hat diese Sammlung von Beschlüssen, Direktiven und Verordnungen jemals zu Ende gelesen. Anno 2004 umfasste sie bereits 85.000 Seiten; heute werden es weit über hundertfünfzigtausend sein. Bereits 2005 wog das Amtsblatt der Union insgesamt mehr als eine Tonne, so viel wie ein junges Nashorn. Die französische Fassung hat es unlängst auf 62 Millionen Wörter gebracht. Der Acquis ist für alle Mitgliedsländer rechtsverbindlich. Man schätzt, dass über achtzig Prozent aller Gesetze nicht mehr von den Parlamenten, sondern von den Brüsseler Behörden beschlossen werden. Genau weiß das niemand."

Weitere Artikel: In der Glosse macht sich Michael Hanfeld über den Wertverfall falscher Twitter-Follower lustig. Jan Brachmann berichtet vom Berliner Ultraschall-Festival für Neue Musik.

Besprochen werden ein Wolfmother-Konzert in Köln, Johanna Wehners Inszenierung einer Theaterfassung von Anna Katharina Hahns Roman "Kürzere Tage", Jason Reitmans frisch Oscar-nominierter Film "Up in the Air" und Bücher, darunter Michael Gampers Studie zur "Elektropoetologie" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).