Heute in den Feuilletons

Vermutlich wurde er ermordet, vermutlich in Tokio

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2010. Die Washington Post enthüllt, wie viele CDs man verkaufen muss, um auf Platz 1 der amerikanischen Klassikcharts zu landen. Die Beliebigkeit der Literaturkritik ist nicht nur ökonomischem Druck geschuldet, findet die Jungle World. In der NZZ erzählt Angelika Overath von der Verfertigung eines Schulhausromans in Sankt Moritz. Die Zerstörung in Haiti bestürzt mehrere Feuilletons. Die SZ legt nach im Islam-Streit. Die Berliner Zeitung bekennt in der gleichen Sache ihre Ratlosigkeit.

NZZ, 01.02.2010

Die aktuelle NZZ ist heute morgen noch nicht im Netz. Links zu den Artikeln müssten Sie später hier suchen.

Angelika Overath erzählt, wie sie im Rahmen eines Schweizer Projekts mit einer Schulklasse in Sankt Moritz einen "Schulhausroman" verfertigte. Ihre anfängliche Angst, keine Idee zu finden, hatte sich bald in Luft aufgelöst: "Nach etwa einer Stunde hatten wir eine erste Konzeption. Lou, ein 15-jähriges Mädchen auf einer Vulkaninsel im Pazifik, hat Streit mit seiner Mutter. Sein Vater Max (das also war der Rest meiner St.-Moritz-Idee), ein Erfinder, ist vor sieben Jahren verschwunden. Vermutlich wurde er ermordet, vermutlich in Tokio..."

Besprochen werden die Ausstellung "Arbeit, Sinn und Sorge" im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, eine Aufführung von Mahlers unvollendeter Zehnter in Clinton A. Carpenters Vervollständigung und Francis Poulencs "Dialogues des Carmelites" in Bern.

Weitere Medien, 01.02.2010

(Via ArtsJournal) Die Geigerin Hillary Hahn konnte ihre neue Bach-CD in der "Tonight Show" mit Conan O'Brien vorstellen. Die CD landete danach auf Platz 1 der Klassikhitliste. Aber was besagt das schon?, fragt Anne Midgette in der Washington Post: "The dirty secret of the Billboard classical charts is that album sales figures are so low, the charts are almost meaningless. Sales of 200 or 300 units are enough to land an album in the top 10. Hahn's No. 1 recording, after the sales spike resulting from her appearance on Conan, bolstered by blogs and press, sold 1,000 copies."

(Via Bewegte Lettern) Amazon wird wieder Macmillan-Bücher verkaufen, meldet die New York Times: "Amazon shocked the publishing world late last week by removing direct access to the Kindle editions as well as printed books from Macmillan, one of the country's six largest publishers, which had said it planned to begin setting higher consumer prices for e-books. Until now, Amazon has set e-book prices itself, with $9.99 as the default for new releases and best sellers. But in a statement Sunday afternoon, Amazon said it would accept Macmillan's decision."

Jungle World, 01.02.2010

Ist zwar schon ein paar Tage alt - aber ein Hinweis auf einen guten Artikel kommt nie ungelegen: Jörg Sundermeier, selbst Verleger und Autor, beschäftigt sich mit dem Zustand der Literaturkritik. Eine tiefer gehende literarische Debatte fehlt in den Publikumsmedien, meint er: "Diese Beliebigkeit ist mit ökono­mischem Druck von außen allein allerdings nicht hinreichend zu erklären. Schließlich machen sich Journalistinnen und Journalisten freiwillig zu Sklaven der Verlagspresse- und Marketingabteilungen, sie schlagen sich geradezu darum, ein erfolgversprechendes Buch pünktlich zum Erstverkaufstag zu besprechen. Es geht ihnen aber nicht nur darum, einen Scoop zu landen. Vielmehr scheint es, als hätten die Journalisten die Marketingmechanismen der Buchverlage verinnerlicht. Entkoppelt vom Markt wird Literatur kaum noch betrachtet."

Berliner Zeitung, 01.02.2010

Dirk Pilz findet, dass der Islam-Streit im Lagerdenken erstarrt und gesteht seine Ratlosigkeit: "Ehrlich zu sein hieße also, einzugestehen, wie fremd vielen von uns die radikale Version des islamischen Glaubens ist. Es fällt den meisten ja schon schwer, zwischen Islam und Islamismus überhaupt zu unterscheiden. Und dass das Tragen von Kopftüchern kein Zeichen von Unterdrückung ist, können wir uns schlechterdings nicht vorstellen."
Stichwörter: Islam, Islamismus, Kopftuchdebatte

Aus den Blogs, 01.02.2010

(Via 3quarksdaily) Postkolonialer Antifeminismus ist keine Spezialität der taz. Muhammad Idrees Ahmad schreibt in Pulse: "Some strands of feminism have a long history of serving as adjuncts of Western imperialism. Today they also enable domestic prejudice. Gore Vidal once mocked George Bush"s idea of democracy promotion as being synonymous with: "Be free! Or I"ll kill you". In a similar vein, some feminists today want to "liberate" Arab-Muslim women by constraining their freedoms." (Langsam fragt man sich, ob die ganze Islam-Debatte nicht nur geführt wird, um die Errungenschaften der Frauenbewegung zurückzudrängen!)

Monika Marons Spiegel-Artikel aus der letzten Woche zur aktuellen Islam-Debatte ist jetzt auf der Achse des Guten online zu lesen: "Es ist verrückt: Die Süddeutsche Zeitung behauptet, wer die Toleranz verteidigt, ist intolerant und vergleicht den schreibenden Henryk Broder mit einem bombenzündenden Terroristen. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung verteidigt pathetisch das Kopftuch gegen die Meinungsfreiheit, und in der taz wird Necla Kelek und mit ihr der gesamte Feminismus in die Nähe der Nazis gerückt. Was ist eigentlich los?"

Martyn Daniels erklärt in seinem Blog Brave New World, warum er das Ipad sowieso nicht kaufen wird: "The truth is that we don"t like "Appleworld" where we have to buy the tin from the shop and then go back to the shop to buy the goods and are not allowed to use anything that the shopkeeper doesn"t like or want to sell. It"s like being locked into one supermarket for all your food."

Im Kampf um den Ebook-Markt macht Matthias Schwenk auf Carta deutlich, wo der Hammer hängt: "Im letzten Berichtsquartal erzielte Apple einen Gewinn von 1,76 Mrd. USD, während Amazon nur 384 Mio. USD vermeldete."

Welt, 01.02.2010

Die Schauspielerin Helen Mirren, gerade als Sofia Tolstoja in dem Film "Ein russischer Sommer" zu sehen, spricht im Interview mit Peter Zander über Tolstoi und ihre eigene russische Herkunft: "Ich liebe die russische Küche. All das, was andere hassen, liebe ich abgöttisch... Auch alles, was mit Kohl zu tun hat. Schtschi. Blinis. Die ganze schwere Kost."

Weiteres: Uta Baier verschafft sich einen groben Überblick über die Sachschäden auf Haiti: "Die Hälfte aller Bildungseinrichtungen existiert nicht mehr oder ist nicht zu benutzen. Das trifft auch auf 88 Prozent aller Regierungseinrichtungen, 42 Prozent der Krankenhäuser und 60 Prozent aller Kirchen zu." Ulrich Clauß sammelt verhalten erwartungvolle Reaktionen auf das Ipad aus der Verlagsbranche. Hanns-Georg Rodek schwärmt im Aufmacher von Jason Reitmans Krisenkomödie "Up in the Air" und lässt sich in einem zweiten Text am Rande vom Wirbel um "Avatars" Kassenrekorde so wenig beeindrucken wie vom hohlen Jubel an der Wall Street , "wenn der Dow Jones wieder mal eine Tausendermarke überhüpft". Hendrik Werner widmet sich dem Fernsehkomiker Jürgen von der Lippe.

Besprochen werden die Ausstellung "Mode sprengt Mieder" im Münchner Stadtmuseum und die späte Uraufführung von Carl Orffs erster - und laut Stefan Keim wohl recht fader - Oper "Gisei - Das Opfer".

TAZ, 01.02.2010

Über neue Solidaritätsbekundungen für den Dissidenten Liu Xiaobo berichtet Jutta Lietsch. Sogar vier alte KP-Funktionäre haben sich gegen die 11-jährige Haft für den Lyriker gewandt. "Der Richterspruch gegen Liu, fordern nun die vier, müsse revidiert werden, weil er 'auf falscher Grundlage' gefällt worden sei. Der 54-Jährige ist unter anderem verurteilt worden, weil er sich für eine 'Bundesrepublik' China eingesetzt habe. Der Begriff 'Bundesrepublik' sei aber 'eine korrekte Parole', die aus den frühen Tagen der Kommunistischen Partei stamme: 'Wenn der Richter die Verfassung verletzt und keine Ahnung von Parteigeschichte' habe, dann schade dies dem Ruf Chinas und der Kommunistischen Partei."

Weiteres: Rainer Wandler berichtet über ein neues Sprachgesetz in Katalonien, das nun vorschreibt, ausländische Filme auf Katalanisch zu synchronisieren. Besprochen werden der Start eine Rameau-Reihe mit "Les Paladins" an der Deutschen Oper am Rhein und Siri Hustvedts neues Buch "Die zitternde Frau".

Und Tom.

FR, 01.02.2010

Vor den Toren Phnom Penhs verhandelt der Internationale Gerichtshof gegen die letzten überlebenden Führungskader der Khmer Rouge, berichtet Jürgen Berger. Hier sind zum ersten Mal in einem Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch Zivilkläger zugelassen: "Nicht zuletzt wegen dieser zivilen Nebenklagen beginnt Kambodscha jetzt zu sprechen. Überlebende wie Huy Taing oder der Traktorfahrer Chum Mey trauen sich nun zu erzählen. Er wurde zur selben Zeit wie Huy Taing in das berüchtigte Foltergefängnis S 21 im Zentrum von Phnom Penh verschleppt. Chum Mey zählt zu den wenigen, die diese Stätte des Grauens überlebt haben. Als er jetzt vor dem Internationalen Gerichtshof seine Leidensgeschichte erzählte, gab er der Vergangenheit ein Gesicht."

Außerdem: Christian Schlüter ärgert sich, dass bei uns über den Kriegseinsatz in Afghanistan keine ehrliche Diskussion geführt wird. In Times Mager hat Christian Thomas einige Fragen zu einer Klanginstallation in Mainz, mit der die Berliner Künstlerin Miriam Kilali zum friedlichen Zusammenleben von Muslimen und Christen aufrufen wollte.

Besprochen werden Martin Kloepfers Inszenierung von Albert Camus' "Die Pest" als Kammerspiel in Frankfurts Bockenheimer Depot, Strauss' Oper "Elektra" mit den Münchner Philharmonikern unter Christian Thielemann in Baden-Baden, ein Buch des Philosophen Norbert Bolz und einige lokale Ereignisse.

Tagesspiegel, 01.02.2010

Gerrit Bartels kommentiert Martin Walsers Versöhnungsoffensive. Mit Suhrkamp steht er sich wieder bestens (schon weil die meisten seiner Werke nach wie vor dort vermarktet werden) und überhaupt: "Ende Februar liest Walser in Berlin aus seiner neuen Novelle 'Mein Jenseits' - und spricht darüber nicht nur mit den Kritikern Heinz Ludwig Arnold und Denis Scheck, sondern auch mit Frank Schirrmacher, der 2002 den Skandal um 'Tod eines Kritikers' ausgelöst hatte. 'Je älter man wird, desto mehr empfiehlt es sich, darauf zu achten, wie man auf andere wirkt.', heißt es im ersten Satz von "Mein Jenseits". Und Martin Walser geht da gleich mit gutem Beispiel voran."

FAZ, 01.02.2010

Aus Port-au-Prince berichtet Jochen Stahnke von der Zerstörung, die er mit eigenen Augen gesehen: "Auf dem Vorplatz des nahezu vollständig zertrümmerten Präsidentenpalasts, auf dessen Schuttbergen die Mittelkuppel grotesk wie ein verrutschter Hut liegt, ist ein riesiges Flüchtlingslager, von Haitianern selbst organisiert und ohne Hilfe von außen errichtet worden. Das Wort Zeltsiedlung, das manche Berichte benutzen, ist irreführend: Hier bestehen die Behausungen aus windschiefen Stöcken, an deren oberem Ende zerlumpte Laken, Tischtücher oder zurechtgerissene Plastiktüten hängen." Fhau informiert über anlaufende Maßnahmen zur Vorbereitung des Wiederaufbaus.

Weitere Artikel: In der Glosse mokiert sich Gina Thomas über die aus den besten britischen Ständen stammende Ministerin Harriet Harman, die ihren Oberschichtakzent abgelegt hat und auch noch stolz darauf ist. Andreas Platthaus besucht die nach siebzig Jahren wiedereröffnete asiatische Abteilung im Leipziger Museum für Kunsthandwerk. Bei ihren Lektüren in deutschsprachigen Zeitschriften gelangt Ingeborg Harms flugs vom Habsburger Reich in die Slowakei und nach China. Rainer Flöhl erklärt, warum in Sachen Psychotherapie in Deutschland vieles im Argen liegt. Felicitas von Lovenberg weist darauf hin, das in einer ausführlichen Leseprobe Martin Walsers neue Novelle "Mein Jenseits" in fünf Folgen auf faz.net vorgestellt wird. Die Geburtstagsglückwünsche der Woche gehen an die Schauspielerin Barbara Sukova (60), den Brüsseler Künstler Panamarenko (60), den Schweizer Künstler (und "Alien"-Schöpfer) H.R. Giger (70), den Anchorman Tom Brokaw (70) und die Kinderbuchautorin Tilde Michels (90).

Besprochen werden Frühes und Spätes von Carl Orff bei einem Konzert in Darmstadt, Martin Kloepfers Theaterfassung von Camus' "Die Pest" in Frankfurt, Iwona Jeras Wuppertaler Inszenierung einer Bühnenfassung von Heinz Strunks Roman "Fleisch ist mein Gemüse" und Bücher, darunter Dieter Kühns alternativhistorische Fiktionen "Ich war Hitlers Schutzengel" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In der FAS staunt Frank Schirrmacher über Apples Ipad, in dem er nicht weniger als eine Revolution des Verhältnisses von Mensch und Computer erkennt: "Das Gerät reduziert offenbar Komplexität in erstaunlichem Umfang. Offenbar wollen Menschen nicht permanent Präferenzen setzen. Sie überlassen das heute bereits Firmen wie Google und immer häufiger den Algorithmen. Jetzt verkörpert die Hardware diese Philosophie. Multitasking ist Körperverletzung, lautet ein heftig umstrittener Satz. Apples Hardware verschont den Konsumenten, indem sie ihm gar keine Wahl zum Multitasken gibt. Allein das ist ein Bruch mit der klassischen Cyber-Anthropologie, in der der Mensch sich seine Welt bis in die Mikrostruktur zusammenstellt."

SZ, 01.02.2010

Thomas Steinfeld spielt nach all den Antworten auf seinen "Hassprediger"-Artikel (von deren Existenz die frommen unter den SZ-Lesern nichts wissen, denn diese Zeitung lässt den Gegenstandpunkt in ihren Spalten nicht zu) den Ball zurück ins Lager der "sogenannten" Religionskritiker: "Sie haben zu erklären, wie und warum sie als Liberale für die präventive Einschränkung der Religionsfreiheit sind und was sie daraus an praktischen Schlüssen ziehen wollen: nicht für Iran, nicht für den Jemen, nicht für die Taliban, sondern hier, für das eigene Land. Solange sie das nicht tun, muss man annehmen, dass sie den Islam gar nicht kritisieren wollen, sondern vertreiben."

Nebenan, im Aufmacher, spricht Co-Kulturchef Andrian Kreye dem Internet (irgendwie aus Anlass des Ipad) jede kulturelle Dignität ab: "Die neuen Formen der Kommunikation und der Vernetzung sind gesellschaftliche Anwendungen neuer Technologien. Der Reiz beruht auf dem Prinzip der gesteigerten Produktivität. Diese Produktivität hat zwar zunächst einmal einen rein gesellschaftlichen Wert, im Gegensatz zur gesteigerten Produktivität des Kulturkonsums durch komprimierte und damit mobile Kulturgüter. Und doch ist die eigentliche Dynamik die einer wirtschaftlichen, nicht einer kulturellen Entwicklung."

Weitere Artikel: Johannes Boie zeichnet in den "Nachrichten aus dem Netz" die Enttäuschung der Nerds (und die der Zeitungsleute, die sich durch das Gerät Rettung erhofften) über das Ipad nach. Susan Vahabzadeh hat Peter Biskinds Biografie "Star - The Life and Wild Times of Warren Beatty" schon auf englisch gelesen.

Auf der Medienseite stellt Thomas Schuler ein neues Projekt des amerikanischen Stiftungsjournalismus vor, das von Jonathan Weber geleitete und dem Milliardär Warren Hellman finanziert Bay Area News Project.

Besprochen werden neue DVDs, eine Installation des 34-jährigen (in Berlin lebenden) Künstlers Tino Sehgal im New Yorker Guggenheim-Museum, Strauss' "Elektra" unter Christian Thielemann in Baden-Baden, Carl Orffs erste Oper "Gisei", jetzt erst in Darmstadt uraufgeführt und von Helmut Mauro als Sensation gefeiert, und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Thomas Bernhard (mehr hier).