Heute in den Feuilletons

Ja, was denn?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.12.2009. In der SZ prangert Navid Kermani die westliche Spielart des Fundamentalismus an, die sich zum Beispiel im Schweizer Minarettverbot äußert. In der FAZ wendet sich Necla Kelek gegen einen Zeit-Artikel Gerhard Schröders, der mehr Toleranz für den Islam forderte. Die FAZ muss auch feststellen, dass viele Klimaskeptiker Trotzkisten waren. Die FR berichtet über das immer noch ziemlich aktive Gespenst der Securitate. Spiked Online prangert eine Klimaschutzinitiative an, die kleine Afrikaner verhüten will.  

FR, 11.12.2009

Für mehr als nur eine Fußnote hält Harry Nutt das Bekenntnis des rumäniendeutschen Lyrikers Werner Söllner, in den siebziger Jahren für die Securitate gespitzelt zu haben: "Anders als bei der hierzulande inzwischen sehr verfahrenssicheren Sichtung der Stasi-Akten ist der Umgang mit den Hinterlassenschaften der Securitate-Überwachung noch sehr diffus... Erst seit 2005 gibt es ein Gesetz, das die Verwaltung der Akten regelt. Dass der Einfluss ehemaliger Securitate-Mitglieder in Rumänien immer noch sehr groß ist, belegte nach der Bekanntgabe des Nobelpreises für Herta Müller ein Interview, in dem sich ein früherer Securitate-Chef aus Temesvar abfällig über die Preisträgerin äußerte."

Abgedruckt wird die Berliner Antrittsvorlesung des Übersetzers Stefan Weidner zur August-Wilhelm-Schlegel-Gastprofessur am Peter-Szondi-Institut der FU Berlin. Für Weidner geht es eigentlich in Ordnung, etwas auch mal nicht zu verstehen: "Das Nichtverstehen ist die große Zumutung unserer Zeit, so sehr, dass die Grenzen unserer Toleranz unmittelbar an die Grenzen unseres Verstehens gekoppelt sind - was wir verstehen, können wir dulden und akzeptieren, nachvollziehen, wie wir sagen. Aber wehe, wir verstehen es nicht, zum Beispiel die Burka-Frauen."

Außerdem: In Times mager kommt Peter Michalzik noch einmal auf Johannes B. Kerner zu sprechen. Auf der Medienseite erklärt Ralf Mielke, wie sich Peter Frey als neuer ZDF-Chefredakteur empfahl. Besprochen werden zwei neuaufgelegte Blaxploitation-Alben, Videoinstallationen von Adel Abdessemed im Heidelberger Kunstverein.

NZZ, 11.12.2009

Carsten Krohn besichtigt neue Bauten von Rem Koolhaas und Norman Foster in Dallas. Nicht ausschließen will er für die Zukunft eine gewisse Europäisierung der texanischen Metropole: "Bereits wurde beschlossen, die angrenzende Autobahn unter Tag zu verlegen, um auf der Abdeckung einen Park zu gestalten."

Weiteres: Marcus Ganz darf am Telefon der sanft-scheuen Stimme Charlotte Gainsbourg erliegen, alle anderen müssen mit ihrem neuen, von Beck komponierten Album "IRM" vorliebnehmen. Markus Bauer fasst die Münchner Tagung zusammen, auf der rumäniendeutsche Schriftsteller von ihren ersten Einblicken in die Securitate-Akten berichteten.

Besprochen werden Luca Ronconis offenbar etwas anstrengende Inszenierung des "Kaufmanns von Venedig" am Piccolo Teatro in Mailand, die beiden Berliner Romy-Schneider-Ausstellungen, wiederaufgelegte Alben des Krautrock-Produzenten Conny Plank und Bernd Roecks Buch "Gott und Macht, Staat und Kirche" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 11.12.2009

Peter Köpf stellt das Forschungsprojekt African American Civil Rights and Germany vor, das untersucht, wie schwarze GIs die amerikanische Bürgerrechtsbewegung beförderten. Sie fühlten sich als Angehörige der Siegerarmee ausgerechnet in Nachkriegsdeutschland erstmals gleichberechtigt. "Colin Powell, der 1958 in Deutschland stationiert war, formulierte es in seinem Buch 'My American Journey' so: 'Für schwarze GIs, vor allem für die aus dem Süden, war Deutschland ein Atemzug der Freiheit - sie konnten hingehen, wohin sie wollten, essen wo sie wollten, und ausgehen, mit wem sie wollten, genauso wie andere Leute auch.'" In der Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz in Berlin ist derzeit dazu eine Ausstellung zu dem Thema zu sehen.

Weiteres: Reinhard Wolf berichtet von der Verleihung des Literaturnobelpreises an Herta Müller. In tazzwei porträtiert Jan Mölleken die Theremin-Virtuosin Barbara Buchholz. Besprochen werden das Doppelalbum "Light on the Southside" mit unbekannten Aufnahmen lokaler Chicagoer Blues-Künstler aus den siebziger Jahren, zwei Soloalben des "Masterminds" der Gruppe The Fiery Furnaces Matthew Friedberger und in tazzwei das Buch von SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles "Frau gläubig links" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 11.12.2009

Anlässlich der Debatte um das Schweizer Minarettverbot wünscht sich Timothy Garton Ash im Guardian etwas mehr Augenmaß in der Diskussion: "The worst thing that could happen is a polarisation around purely symbolic issues, with one side, consisting almost entirely of non-Muslims, shouting 'Islam!' and the other, consisting almost entirely of Muslims, shouting back 'Islamophobia!'"
Stichwörter: Ash, Timothy Garton, Guardian

Welt, 11.12.2009

Elke Bodderas erinnert an den Beginn der deutsch-israelischen Versöhnung vor fünfzig Jahren, als erstmals deutsche und israelische Forscher beschlossen zu kooperieren. Stefan Grund beobachtet, wie sich die Hamburger Kultursenatorin Karin von Welck "ins Abseits stellt" - sie hat von der Hamburger Kunsthalle verlangt, Kunstwerke zu verkaufen, um Schulden zu begleichen, was diese verweigert. Tilman Krause meldet, dass das Bernhard-Zimmer im Weimarer Schloss restauriert sei. Und Wolf Lepenies erinnert sich an eine Rede über Mauerbau und Mauerfall, die Willy Brandt im Dezember 1989 in dem damals von Lepenies geleiteten Berliner Wissenschaftskolleg hielt. Uta Baier schreibt zum Tod des Münchner Malers Rupprecht Geiger.

Besprochen werden James Camerons neuer Film "Avatar", eine Platte von des Jazzstars Jamie Cullum und ein Gluck-Doppel an der Brüssler Oper. Auf der Magazinseite berichtet Ulli Kulke, dass die entstehende Klimaforschung in den siebziger Jahren noch an eine kommende Eiszeit glaubte.

FAZ, 11.12.2009

Ganz und gar nicht einverstanden mit einem islamfreundlichen Artikel von Gerhard Schröder in der gestrigen Zeit ist Necla Kelek, die den Islam darin auf diskriminierende Weise verharmlost sieht: "Was Schröder über den Minarettstreit schreibt, ist schlicht diskriminierend - für säkulare Muslime hier und zum Beispiel in der Türkei. Er beschreibt die Werte der Demokratie und Aufklärung ganz richtig als 'universell', und gleichzeitig dürfe das nicht bedeuten, 'kulturelle und religiöse Unterschiede beseitigen zu wollen.' Ja, was denn? Es geht bei der Auseinandersetzung mit dem Islam doch gerade um die Grundfragen, um die Freiheit des Einzelnen, die religiös und kulturell zum Beispiel durch den Zwang zur Heirat eingeschränkt werden, und um die Freiheit von religiöser Bevormundung. Schröder legt zweierlei Maß an und relativiert."

Mit Entsetzen muss Lorenz Jäger entdecken, dass es sich bei vielen "Klimaskepktikern" etwa bei der britischen Zeitschrift Spiked, um ehemalige Trozkisten handelt, die außerdem Abtreibung befürworten und den Islam kritisieren: "Der deutsche Kooperationspartner von Spiked ist das Magazin Novo Argumente. Seit 1992 streitet es, so die Eigenwerbung, 'für Fortschritt, Humanismus und für eine bessere Zukunft durch mehr Wachstum und Freiheit für alle'. Über seine Sponsoren schweigt Novo. Man kann aber die Vernetzung der Gruppen leicht beschreiben: Novo ist nicht nur mit Spiked, sondern auch mit der Achse des Guten verlinkt, neben Dirk Maxeiner und Michael Miersch gehören mit David Harnasch, Vera Lengsfeld, Cora Stephan und Vince Ebert weitere Autoren der Achse auch zu Novo." Konstatieren muss Jäger auch, dass diese Kreise (anders als etwa die FAZ) der Industrie nahestehen und in der Jungle World schreiben. auch der taz-Blogger Heiko Werning greift die "Achse des Blöden" heute heftig an.

Weitere Artikel: Daniel Birnbaum macht mit Hilfe von Gilles Deleuze auf die unterschätzte Kunst des Faltens von Fächern, Servietten und anderen Gegenständen aufmerksam. Lorenz Jäger erkundet die Welt der Klimaskeptiker und stellt fest, es ist die "Welt der alten und der gewendeten Ideologie". Der TV-Wetterfrosch Jörg Kachelmann fordert in Deutschland mehr "politische Führung" in Klimafragen. Sandra Kegel hat sich Klimawandeltexte für Kinder angesehen. In der Glosse geht es um Thomas Bernhards für viel Geld bei ebay zum Verkauf stehenden Geländewagen. Gemeldet wird, dass eine Reihe rumäniendeutscher Schriftsteller in einer Resolution eine wirkungsvollere Aufarbeitung der Securitate-Bespitzelung von rumänischer Seite fordern. Brita Sachs schreibt zum Tod des Malers Rupprecht Geiger. Auf der Medienseite erklärt Michael Hanfeld, warum CDU-Mann Peter Hahne jetzt zum konservativen Verlierer im tit-for-tat-Parteienspiel beim ZDF werden könnte. (Im Netz gibt es eine um die Information, dass Peter Frey neuer Chefredakteur wird und Bettina Schausten seine Nachfolgerin im Hauptstadtstudio, erweiterte Fassung des Artikels.)

Besprochen werden Bücher, darunter Ulrich Horstmanns Porträtgalerie "Die Aufgabe der Literatur oder Wie Schriftsteller lernten, das Verstummen zu überleben" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 11.12.2009

Der britische Optimum Population Trust (OPT) wird von Galionsfiguren der britischen Grünen unterstützt, etwa David Attenborough oder Jonathon Porritt. OPT hat eine ganz einfache Idee zum Klimaschutz: Reiche Westler sollen spenden, damit sich arme Afrikaner Kondome kaufen können, denn jedes nicht geborene Baby verbessert die Klimabilanz! Denn merke: "Fewer emitters, lower emissions, less cost." Der Guardian berichtete in neutralem Ton über die Kampagne und bebilderte sie mit ein paar süßen schwarzen Babies, die also besser nicht da wären (er brachte aber auch einen Gegenkommentar).


Frank Furedi antwortet in Spiked (und ist dabei so höflich, die rassistische Dimension der Idee nicht zu erwähnen): "Sadly we live in a world where, for many climate crusaders, a photo of 12 beaming babies is somehow a bad thing, a symbol of the problems we face... What is truly disturbing about this, from a humanist perspective, is not simply that there is a silent crusade against the unique quality of human life, but that there is an almost complete absence of anger about it, a lack of any critical reaction against it." Etwas drastischer drückt es Furedis Spiked-Kollege Brendan O'Neill in der National Review aus: "The Optimum Population Trust is a creepy Malthusian outfit made up of Lords, Ladies, and Sirs who all believe that the world's problems are caused by 'too many people'."

(Via Bewegliche Lettern) Die BBC hat eine Reihe von Interviews mit Chris Anderson, John Batelle, Tim Berners-Lee, Stephen Fry, Kevin Kelly, Clay Shirky und vielen anderen zusammengestellt, die über das Internet oder besser: die digitale Revolution sprechen. Und Technium hat bei Youtube eine lustige Montage aus Zitaten der erlauchten Diskutanten gefunden.

SZ, 11.12.2009

Die Schweiz, findet der Publizist Navid Kermani in seinem Feuilleton-Aufmacher zum Minarettverbot, hat ein Fundamentalistenproblem. Aber kein islamisches: "Wenn die größte und dank ihres Vormanns auch finanzstärkste Partei der Schweiz mit Plakaten wirbt, die die Bildersprache des Stürmers explizit aufgreifen, wenn sie auf ihre offizielle Internetseite ein Online-Spiel stellt, bei dem man Imame abschießen kann, wenn ehemals liberale Blätter die Argumentationsstruktur und manche Stereotypen der nationalsozialistischen Propaganda auf Muslime anwenden, wird klar, dass nicht nur der Islam ein Problem mit Hasspredigern hat. Die westliche Spielart des Fundamentalismus als einer kulturellen statt religiösen oder ethnischen Ideologisierung ist zu einer innereuropäischen Herausforderung geworden, wie das Erstarken rechtspopulistischer Parteien auch in Ländern wie Österreich, Italien, Dänemark oder den Niederlanden zeigt." Aktualisierung: Der Artikel wurde am 13. Dezember online freigeschaltet.

Weitere Artikel: Johannes Boie teilt mit, dass in China jetzt Surfer, die die Behörden auf pornografische Websites hinweisen, mit stattlichen Prämien belohnt werden. Von einem Besuch im Studio von Manfred Eichers legendärem ECM-Label berichtet Jörg Häntzschel. Alexander Kissler war bei der Verleihung des Meister-Eckart-Preises an den Kommunitaristen Amitai Etzioni und setzt sich mit der seiner Meinung nach einseitigen Etzioni-Deutung des Laudators Axel Honneth auseinander. Jens Bisky freut sich, dass Berlin die Kulturausgaben in seinem Haushalt erhöht, hält aber die freie Szene nach wie vor für unterfinanziert. Thomas Meyer schreibt zum Tod des Historikers Yosef H. Yerushalmi. Auf der Medienseite porträtiert Hans-Jürgen Jakobs Hubert Burdas designierten Nachfolger Paul-Bernhard Kallen.

Besprochen werden die Ausstellung "Juergen Teller, Logisch!" in der Nürnberger Kunsthalle, die Jostein-Gaarder-Verfilmung "Das Orangenmädchen" und Bücher, darunter eine Gesamtausgaben von Johannes Schenks "Gedichten" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).