Heute in den Feuilletons

Die Kassenhäuschen von ARD und ZDF

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.12.2009. SZ und FR erzählen die Geschichte der iranischen Künstlerin Parastou Forouhar, die im Iran festgenommen wurde, weil sie an ihre ermordeten Eltern erinnern wollte. In der taz erklärt Herta Müller, was Literatur in der Unterdrückung bedeuten kann. Laut Ars technica wird die kanadische Musikindustrie verklagt - weil sie es mit den Urheberrechten nicht so genau nahm. In der FR fordert Heinrich August Winkler ein neues Verständnis von Gerechtigkeit bei der SPD. Eine Berliner Diskussion zum Minarettverbot stößt überall auf Kritik.

FAZ, 09.12.2009

Regina Mönch kommentiert eine Diskussion zum Minarettverbot im Haus der Kulturen der Welt, an der unter anderem Michael Wolffsohn und Navid Kermani teilnahmen. Mit Kermanis Kritik an der Abstimmung ist Mönch ganz und gar nicht einverstanden: "An diesem Abend hatte Navid Kermani das Diktat der zu herrschenden Meinung übernommen. Er warnte vor all den Rechtspopulisten, die 'unseren Konsens' in Frage stellten, darüber solle man endlich reden, nicht über den Islam. Das war dann doch die vernebelnde Rhetorik, die zu solchen Abstimmungsergebnissen führt." Dieter Bartetzko meint zum selben Thema, dass sich der Moschee- und Minarettbau viel zu wenig an hiesigen Gegebenheiten orientiert: "Zu viel Istanbul, zu wenig Köln, Duisburg, Berlin oder Mannheim - diese ins Auge springende Tatsache sieht weder die eine noch die andere Seite." Jürg Altwegg sammelt Stimmen zum Thema.

Weitere Artikel: In der Glosse schreibt Jan Brachmann über das Aus für die Pläne zur Fusion von Deutschem Symphonie-Orchester (DSO) und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB). Aus Köln berichtet Andreas Rossmann, dass Schauspielchefin Karin Beier aus finanziellen Gründen für den Erhalt des alten Schauspielhauses plädiert. Gina Thomas meldet die Verleihung des Turner-Preises an den Künstler Richard Wright.

Besprochen werden eine von Emma Dante inszenierte und von Daniel Barenboim dirgierte "Carmen" an der Mailänder Scala, Dimiter Gotscheffs "Ödipus"-Inszenierung am Thalia Theater in Hamburg, und Bücher, darunter Willa Cathers Roman "Schatten auf dem Fels" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 09.12.2009

"Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun", zitiert Christian Stöcker den Google-Chef Eric Schmidt und ist sich jetzt sicher, dass Google die Weltherrschaft über uns und unsere Daten will. "Am Montagabend, als Schmidt im Fernsehen den Satz über die womöglich überschätzte Privatsphäre sagte, wurden in den USA die vorerst letzten Puzzleteilchen vorgestellt: Künftig können Google-Nutzer auch eine visuelle Suche nutzen - wer seinem Handy etwas zeigt, soll erfahren können, was das ist. Gebäude oder Gegenstände sollen so identifizierbar werden - Personen noch nicht, wie Google-Chefingenieur Vic Gundotra bei der Vorstellung gestern auf Nachfrage hin erklärte. Er sagte wirklich 'noch nicht' - es müssten zuerst noch Fragen hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre geklärt werden. Künftig will Google also auch wissen, was Sie gerade sehen." Auf Carta schreibt Matthias Schwenk zum gleichen Thema.

TAZ, 09.12.2009

Im Interview mit Ruthard Stäblein erklärt Herta Müller, was Literatur in Lager und Unterdrückung bedeuten kann: "Ich hatte immer meine Gedichte, die ich mir aufsagen konnte. Sogar beim Verhör. Es ist wie das Singen im Lager. Das wird nicht schal. Man kann sich auf gegebene Formen verlassen, sich anlehnen. Es ist eine Art, ich habe das öfter gedacht, es ist eine Art zu beten, für Leute, die nicht an Gott glauben. Und es ist eine schönere Art als das Beten. Es verlangt mehr Individualität als das Beten. Es ist nicht so mechanisch. Bis heute schreibe ich mir Sätze aus Büchern heraus, die mir Halt geben."

In tazzwei interviewt Cigdem Akyol den Schweizer Publizisten Roger de Weck zum Minarettverbot: In seinem Umfeld sei die Stimmung "bedrückt. Der Schock hält an: Das eigene Volk hat beschlossen, eine Minderheit zu diskriminieren."

Außerdem resümiert Jörg Magenau Müllers Nobelvorlesung. Besprochen wird der Disney-Film "Küss den Frosch".

Und Tom.

Aus den Blogs, 09.12.2009

"Ouch", ruft Jacqui Cheng im Blog Ars technica: Die kanadische Musikindustrie wird Entschädigungen in Millionen bis Millardenhöhe zahlen, weil sie die Urheberrechte zahlloser Musiker verletzte, die jetzt klagen. "Hintergrund ist eine Gesetzesänderung der achtziger Jahre, in der eine 'pending list' zugelassen wurde. Das hieß im wesentlichen, dass Plattenfirmen nicht jedes Mal eine sofortige ausdrückliche Zustimmung brauchten, wenn sie einen Song zum Beispiel auf einem Sampler veröffentlichten. Also benutzten sie den Song ohne Genehmigung oder dafür zu bezahlen und fügten ihn der 'pending list' mit Songs zu, die noch auf Autorisierung und Bezahlung warteten. Solange sie heilig schworen, dass sie ja noch Genehmigung und Bezahlung erwirken würden, konnten sie die Songs also verwenden."

In BoingBoing zeigt sich Cory Doctorow einigermaßen verblüfft über die Behandlung des deutschen Steuerzahlers: "Die deutsche Regierung hat ein geheimes Budget bereitgestellt, um Call-Center zu unterstützen, die Windows-Benutzern, deren PCs mit Viren verseucht sind, zu helfen. Die Kosten für den Kundendienst von Microsoft werden somit vom Steuerzahler getragen. Ich verstehe, dass eine Regierung Anti-Viren-Programme entwickeln will. Schließlich übersteigen die Kosten, die Viren verursachen, leicht die Kosten für so ein Programm (denken Sie an die sozialen Kosten des Identitätsdiebstahls). Aber der Staat könnte auch anders intervenieren. Zum Beispiel könnte er Strafen für Softwareunternehmen einführen, die keinen Service haben, der ihren von Identitätsdiebstahl betroffenen Nutzern hilft, diesen Fehler zu beheben . So würden sie Unternehmen dazu zwingen, die Kosten für soziale Gefährdungen zu übernehmen, für die diese selbst verantwortlich sind."

NZZ, 09.12.2009

Joachim Güntner fasst die Berliner Diskussion zusammen, bei der unter anderem Navid Kermani, Adolf Muschg und Michael Wolffsohn offenbar nicht ganz erschöpfend über das Schweizer Minarettverbot debattierten: "Auf die Frage, ob Minarette ein religiöses oder politisches Zeichen setzen, ließ sich die Berliner Runde erst gar nicht ein." Uwe Justus Wenzel war in Frankfurt auf einem Kongress zur Gesellschaftstheorie.

Besprochen werden die große Botticelli-Schau im Frankfurter Städel-Museum, eine Ausstellung zu Michele Arnaboldi in der Galerie der Architekturakademie Mendrisio, Daniel Barenboims "Carmen"-Aufführung an der Mailander Scala (die Peter Hagmann ziemlich lauwarm fand), Mark Mazowers Großwerk "Hitlers Imperium" und Siegfried Lenz' Erzählung "Landesbühne" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 09.12.2009

Auf der Seite eins kommentiert Ulrich Clauß die Pläne, GEZ-Gebühren auf alle digitalen Geräte zu erheben, als Strategie von gestern für die Welt von morgen": "Mit welcher Begründung sollten die Kassenhäuschen von ARD und ZDF dort in der ersten Reihe stehen? Schließlich rangieren sie im Internetzeitalter nur unter 'ferner liefen'."

Im Feuilleton: Gerhard Gnauck glaubt nicht, dass die Staatsanwaltschaft John Demjanjuk eine individuelle Schuld wird nachweisen können und fände es auch nicht schlimm, wenn dieser Mann, der keine Reue zeigt, freigesprochen würde: "Hoffen wir also darauf, dass das Gericht dem Freispruch voller Zweifel gegenüber einer Verurteilung voller Zweifel den Vorzug gibt. Hoffen wir darauf, dass Demjanjuk am Ende doch noch etwas sagt. Aber bei allen Zweifeln im Einzelfall - eine wichtige Gewissheit war in München, anders als bei manchen früheren NS-Prozessen, mit Händen zu greifen: Wir wissen auch ohne Demjanjuk, was in Sobibor geschehen ist. Dieses Wissen kann niemand mehr erschüttern."

Weitere Artikel: Dankwart Guratzsch registriert eine Verschärfung im Streit um den historischen Wiederaufbau der Altstädte, zum Beispiel in Frankfurt. Thomas Kielinger stellt den neuen Turner-Preisträger vor, den Fresko-Künstler Richard Wright. Uwe Wittstock erfuhr in Herta Müllers Nobelvorlesung viel vom Erfahrungsdruck in der Diktatur und der menschlichen Größe, die dagegen aufbegehrt. Sven Kellerhoff empört sich über die Attacken gegen Siegfried Reiprich, den neuen Direktor der Sächsischen Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, ausgerechnet von einem ehemaligen IM.
Auf den Forumsseiten bittet Alan Posener um mehr Anstand in der politischen Debatte.

Besprochen werden Daniel Barenboims "Carmen"-Aufführung in Mailand und die Konzerttournee von Them Crooked Vultures mit Led Zeppelin, außerdem stellt die Redaktion die besten CDs des Jahres vor.

FR, 09.12.2009

"Ein Versäumnis der Ära Schröder war es meiner Meinung nach, dass die Debatte über die Frage, was soziale Gerechtigkeit heute bedeutet, nicht offensiv geführt wurde", erklärt der Historiker Heinrich August Winkler den Schlamassel, in dem die SPD heute steckt. "Ein gewisses Problem der SPD scheint mir darin zu liegen, dass sie sich nicht immer Rechenschaft ablegt, wie privilegiert die meisten ihrer Sprecher in den Parlamenten und in der Parteiorganisation bereits sind. Ein Beispiel: Alle diejenigen, die aufgrund eines gebührenfreien Hochschulstudiums überdurchschnittlich gut verdienen, haben aus meiner Sicht eine moralische Pflicht gegenüber der Gesellschaft, einen Solidarbeitrag zu leisten, so wie das etwa die Labor-Party 1989 in Australien eingeführt hat. Ich denke hier an nachträgliche Studienbeiträge derjenigen, die durch ihr Studium zu den Besserverdienenden gehören."

Bei einem Besuch in Teheran wurde die im deutschen Exil lebende Künstlerin Parastou Forouhar an der Ausreise gehindert, berichtet Hamid Ongha. Forouhars Eltern, die zur bürgerlichen Opposition gehörten, waren 1998 in Teheran vor ihrem Haus "von Agenten des Geheimdienstes mit zahlreichen Messersstichen hingerichtet" worden, erklärt Ongha. "Ihre Tochter, die in Deutschland lebende Künstlerin Parastou Forouhar, hat seitdem einen zermürbenden Kampf um die Aufklärung des Verbrechens geführt. Sie reist jährlich im November in den Iran, um dort den Gedenktag für ihre Eltern zu organisieren. Auch in diesem Jahr fuhr sie in den Iran. Doch nun hat man ihr am Wochenende die Ausreise verweigert."

Weitere Artikel: Harry Nutt berichtet über eine Berliner Diskussionsveranstaltung zum Minarettverbot, auf der wenig diskutiert wurde, weil alle gegen das Verbot waren. (Man kann die Veranstaltung heute um 14.45 Uhr auf Phoenix nachverfolgen.) In Times mager grübelt Judith von Sternburg über Putzi. Auf der Medienseite berichtet Jan-Philipp Hein über die Pläne für neue Rundfunkgebühren (den Artikel kann man online bei der Berliner Zeitung lesen). Besprochen werden einige lokale Veranstaltungen.

"Google personalisiert nun auch das Suchverhalten von Nutzern", meldet Patrick Beuth auf der Medienseite und gibt Tipps, wie man die Suchmaschine verwirren kann.

SZ, 09.12.2009

Einmal im Jahr fuhr die Künstlerin Parastou Forouhar aus ihrem deutschen Exil ins heimische Teheran, um an ihre Eltern zu erinnern, die vor zehn Jahren ermordet wurden, berichtet Katajun Amirpur. Dariush Forouhar und seine Frau Parwaneh hatten sich schon unter dem Schah für Demokratie eingesetzt. "Der Mord an den Forouhars glich einer Hinrichtung. Parwaneh Forouhar wurde mit über zwanzig Messerstichen in der Brust aufgefunden. In den Tagen nach dem Mord ging das Grauen um in Teheran. Jeder Oppositionelle fürchtete, er könnte der Nächste sein. Es gab Gerüchte von Todeslisten mit Namen von Regimekritikern. Darunter waren Reformtheologen, Studentenführer und Frauenrechtlerinnen." Nun wurde Forouhar wurde nach der Eröffnung einer Ausstellung an der Ausreise gehindert.

Amirpur verweist auf ein Youtube-Video von Forouhars Teheraner Ausstellung:



Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck bringt die frohe Kunde, dass die Einschmelzung des Deutschen Symphonie-Orchesters unter dem Dach des Rundfunksinfonieorchesters in Berlin vorerst gestoppt ist. Der mehr als unsensibel agierende Deutschlandfunk-Intendant Willi Steul erinnert Brembeck dabei "an einen Richter, der den Verdächtigen erst guillotiniert, bevor er ihm den Prozess macht". Burkhard Müller resümiert die Nobelvorlesung Herta Müllers ("Man sollte meinen, dieses Taschentuch würde ein wenig überstrapaziert. Merkwürdigerweise geschieht dies aber nicht"). Alexander Menden stellt den schottischen Künstler Richard Wright vor, der für den Turner-Preis auserkoren wurde. Stephan Speicher vermisste bei einem Podium im Berliner Haus der Kulturen zum Schweizer Minarettverbot eine Gegenstimme, die für dieses Votum gesprochen hätte ("In Berlin hingegen trafen sich sechs Diskutanten zu einer Art von ärztlichem Konsilium über die Behandlung eines Kranken, der nicht zu Wort kam, nicht mal im Krankenbett hereingerollt wurde").

Besprochen werden eine Ausstellung über den historistischen Architekten Alfred Messel in Berlin, Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Heiner Müllers "Ödipus, Tyrann" am Hamburger Thalia Theater, Bizets "Carmen" unter Daniel Barenboim und mit der neuen Sensationssängerin Anita Rachvelishvili in Mailand und Bücher , darunter ein Buch des Modephilosophen Richard David Precht über "Liebe" (nach Kräften verrissen von Malte Dahlgrün).

Auf Seite 3 gehen Matthias Drobinski und Camilo Jimenez ein Jahr nach der Aufhebung der Exkommunikation der Piusbrüder noch einmal der Frage nach, wieviel die katholische Kirche von der Holocaustleugnung des Bischofs Williamson wusste.