Heute in den Feuilletons

Heimgesucht von Blackouts

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2009. In Spiegel Online ist Claude Lanzmann bestürzt: Kinobesucher, die einen Film von ihm sehen wollen, werden als "Judenschweine" beschimpft, geschlagen und letztlich am Kinozugang gehindert - und niemand regt sich auf. In der FAZ schlägt der Jurist Burkhard Hess vor, nicht nur Google zu verklagen, sondern auch die Bibliotheken, die mit Google zusammenarbeiten. Die Kritik von Ulrich Wickert löst bei ARD und ZDF nur Schulterzucken aus, meldet die Welt. BoingBoing stellt drastische Pläne der britischen Regierung zum Schutz der Verwerterindustrien vor.

Spiegel Online, 20.11.2009

Der Filmregisseur Claude Lanzmann zeigt sich in einem Interview mit Spiegel online "schockiert" darüber, dass die Vorführung seines Films "Warum Israel" am 25. Oktober in einem Kino in Sankt Pauli von einem linken Mob verhindert wurde. Die Besucher wurde am Betreten des Kinos gehindert, einige geschlagen, angespuckt und als "Judenschweine" beschimpft. Die Kinobetreiber mussten die Vorstellung schließlich absagen. "Claude Lanzmann wundert sich angesichts der Tatsache, dass die Medien den Eklat weitgehend ignoriert haben: 'Wie kann es sein, dass die Deutschen auf diesen Vorfall fast gar nicht reagieren?'"

Wir haben folgende Artikel über den Vorfall gefunden: Berichte in der Jungle World ( hier) und in der Jungen Welt ("Die Auseinandersetzung in Hamburg zeigt, welche heftigen Reaktionen das Thema Israel innerhalb der deutschen Linken bis heute auslöst", hier), kurze Kommentare in Welt und taz (hier und hier), längere Einträge gab es in den Blogs Störungsmelder und Achse des Guten.

Aus den Blogs, 20.11.2009

Sehr schade findet es Robin Meyer-Lucht in Carta, dass das Blog von ARD Aktuell zu den Vorwürfen von Ulrich Wickert in der gestrigen FAZ (die wir leider übersehen haben) schweigt: "Etwa zu Wickerts Beispiel, dass am 25. Oktober völlig unpassend die Tagesschau mit einem Irak-Attentat aufgemacht hat statt sich um die Innenpolitik zu kümmern. Dafür wird es doch sicher viele gute Argumente gegeben haben, die ein ARD-Chefredakteur sicher mal kurz erläutern könnte. Doch was ist am Abend des Veröffentlichungstages der Wickert-Philippika als Replik im hierfür einschlägigen Forum, dem Tagesschaublog, zu lesen: N-I-C-H-T-S. Gniffke schweigt. Deppendorf schweigt. Hinrichs schweigt. Auch der ARD-Vorsitzende Boudgoust schweigt. Das ZDF schweigt auch."

(Via Netzpolitik) Auch in Großbritannien werden drastische Gesetze zum Schutz der Verwerterindustrien geplant, berichtet Cory Doctorow, dem Dokumente der Regierung zugespielt wurden. Einer der Pläne für ein kommendes Gesetz: "record labels and movie studios can be given investigative and enforcement powers that allow them to compel ISPs, libraries, companies and schools to turn over personal information about Internet users, and to order those companies to disconnect users, remove websites, block URLs, etc."

Welt, 20.11.2009

Im britischen und amerikanischen Theater wimmelt es von Stücken über deutsche Problembiografien - von Furtwängler über Hannah Arendt und Heidegger bis Charlotte von Mahlsdorf. Warum entstehen im deutschen Theater nicht solche Stücke?, fragt Matthias Heine: "Es gibt im deutschsprachigen Bühnenbetrieb eine Biografiescheu. Den meisten hiesigen Dramatikern kommt das Leben der anderen abstoßend vor, wenn sie prominent sind. Dem Stoff, aus dem die Berühmtheiten sind, fühlen sie sich nicht gewachsen oder finden ihn künstlerisch unter ihrer Würde. Aber weshalb? Zuallererst hat es wohl historische Gründe. Die Biografie steht auf der Bühne immer in verdächtiger Nähe zur Propaganda."

Weitere Artikel: Uwe Wittstock meldet, dass Joachim Unseld seinen Anteil am Suhrkamp Verlag verkaufen wird, und zwar zu gleichen Teilen an Ulla Berkewicz und die Medienholding Winterthur. Gerhard Charles Rump schreibt zum Tod der Künstlerin und Christo-Partnerin Jeanne-Claude. Peter Dittmar geht in der Leitglosse der Frage nach, warum ausgerechnet Munch-Gemälde immer wieder gern gestohlen werden. Udo Scheer erzählt die in einem Buch dokumentierte Geschichte des Eugen Mühlfeit, der zugleich ein Stasi-IM und ein Held des Widerstands gegen das Regime war. Peter Zander berichtet, dass der "Baader Meinhof Komplex" am Sonntag und Montag im Ersten als Zweiteiler gezeigt wird - etwa eine halbe Stunde neues Material kommt gegenüber der Kinofassung hinzu. Ulrich Clauß meldet, dass ARD und ZDF mit Schulterzucken auf Ulrich Wickerts gestrige harsche Kritik an dem Fernsehnachrichten der Anstalten reagieren. Und Stefan Keim fragt: "Beginnt mit Wuppertal das große Theatersterben."

FR, 20.11.2009

Beate Rössler ist echt sauer. Die in Amsterdam lehrende Philosophin ärgert sich über "das zynisch amüsierte Schulterzucken, mit dem sich einige Intellektuelle in (ehemals?) linken Zeitungen" über die Debatte um Sloterdijk und den Sozialstaat erhaben gerieren: "Nun kann man natürlich jede Debatte damit vom Tisch wischen, dass sich das falsche Geschlecht beteiligt (Historikerstreit? Langweilig! Nur Männer!), oder man kann zynisch am Rande stehen und sich wohlfeil über die Humorlosigkeit der Linken beklagen (Sarrazin? Der Mann hat wenigstens Humor!); und wenn man sich hinreichend distanziert, braucht man sich tatsächlich nicht mehr die Mühe machen zu verstehen, worum der Streit geht."

Weiteres: In Times mager erklärt Christian Schlüter den den Beispielen Erika Steinbach und Daniel Cohn-Bendit, wie politische Preistreiberei funktioniert. Besprochen werden eine Ausstellung des Präraffaeliten Edward Burne-Jones in der Staatsgalerie Stuttgart, die Schau "Die letzten Wikinger" im Archäologischen Museum Frankfurt, Daniel Johnstons Album "Is and Always Was" und Julius Meier-Gaefes Tagebücher (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 20.11.2009

Marin Majica macht sich nach Lektüre von Frank Schirrmachers Buch über die Auswirkungen des Internets auf unser Hirn ("Payback") doch Sorgen: "Es ist nicht gut bestellt um Frank Schirrmacher. Er wird heimgesucht von Blackouts, regelmäßigen Momenten der Verwirrung, er vergisst ständig, was er gerade tun wollte, und wenn er sich daran zu erinnern versucht, vergisst er irgendwann sogar, dass er sich erinnern wollte."

Im Medienteil wird berichtet, dass der WDR nach einer Gerichtsentscheidung nicht verpflichtet werden kann offenzulegen, an wen er Aufträge vergibt.
Stichwörter: Schirrmacher, Frank, WDR, Blackout

NZZ, 20.11.2009

Ulrich M. Schmid rollt noch einmal die PR-Kampagne auf, mit der Vladimir Nabokovs Sohn Dmitri das Romanfragment "Das Modell für Laura" auf den Markt brachte (im Original "The Original of Laura" - TOOL): "Der mittlerweile 75-jährige kinderlose Sohn schlägt den größtmöglichen Profit aus dem letzten Werk seines Vaters: Der Literaturredaktor des Playboy, der einen Vorabdruck von 'TOOL' gebracht hatte, bekannte, dass noch nie so viel für einen Buchauszug bezahlt wurde. Penguin Classics kaufte die Lizenzrechte an 'TOOL' und Nabokovs früheren Romanen für eine sechsstellige Summe. Wie viel Geld 'TOOL' wirklich in die Privatkasse von Dmitri Nabokov spülen wird, kann man leider erst am 4. Dezember erfahren. Dann werden die 138 Karteikarten bei Christie's in New York versteigert. Laut Katalog beläuft sich der geschätzte Preis auf 400.000 bis 600.000 Dollar."

Weiteres: Gabriele Detterer preist das von Zaha Hadid entworfene MaXXI in Rom, das neue Nationalmuseum der Künste des 21. Jahrhunderts. Detterer erinnern es an die Fahrbahnen eines Autodroms: "Stillstand ist anderswo." Ruedi Ankli stellt das italienische Plattenlabel EGEA vor, das Volksmusik und Jazz verbindet.

Besprochen werden der Erfolgsschocker "Paranormal Activity", ein Konzert von Radu Lupu mit dem Tonhalle-Orchester Zürich sowie Massimo Carlottos und Marco Videttas Krimi "Wo die Zitronen blühen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 20.11.2009

Gerhard Gilger unterhält sich mit dem brasilianischen Popstar Gilberto Gil über den prägenden Einfluss des brasilianischen Nordostens auf seine Musik, die Relevanz von Breitband-Internetanschlüssen, Afrika als Wiege der Menschheit und seine Amtszeit als Kulturminister. In tazzwei freut sich Bert Rebhandel über die Berufung von Werner Herzog zum Präsidenten der Wettbewerbsjury für die Berlinale 2010: "eine Idealbesetzung".

Besprochen werden die zweitägige Revue "Ihr habt es nicht ANDERS gewollt" am Leipziger Centraltheater, in der Künstler aus dem DDR-Underground den musikalischen, literarischen und filmischen Abgesang auf die DDR zelebrierten, außerdem neue CDs von Ich + Ich und der Band Glashaus.

Und Tom.

FAZ, 20.11.2009

Der Heidelberger Jurist (und Mitunterzeichner des Heidelberger Appells) Burkhard Hess hat eine klare Ansicht zum eigentlichen Clou von Google Books, nämlich verwaiste Texte ungefragt einzuscannen: "Jedes Vorhalten von digitalisierten Büchern und Druckwerken ohne ausdrückliche Genehmigung der Inhaber von Urheberrechten sollte verboten und unter Zwangsgeld- und Strafandrohung gestellt werden. Auf den Ort der Digitalisierung oder des Vorhaltens kann es angesichts der globalen Wirkung des Internets nicht ankommen, entscheidend ist die geschäftsmäßige Verbreitung im europäischen Binnenmarkt." In der Konsequenz: "Auch die Bibliotheken, die Google Zugang zu ihren Depots eröffnen, wären mit zu verklagen. Zudem sollte Schadensersatz gefordert werden, um den Mediengiganten an den Verhandlungstisch zu bekommen." Vielleicht findet sich auch noch ein Verantwortlicher für die Erfindung des Internets!

Weitere Artikel: Christian Geyer kritisiert den "Basta-Charakter" von Guido Westerwelles Anti-Steinbach-Haltung - und scheut nicht davor zurück, zur Unterstützung seiner Position die taz zu zitieren. Der Zeithistoriker Daniel Koerfer liest Hans-Ulrich Wehlers monumentale deutsche Gesellschaftsgeschichte noch einmal - und zwar kritisch, im Licht der Finanzkrise. Rainer Hermann berichtet von der Gastorchester-Veranstaltung "Abu Dhabi Classics". In der Glosse erklärt Sandra Kegel, warum sich die Urheber und Verwerter der Welt noch nach dem nunmehr abgetauchten Pirate Bay zurücksehnen werden. Jordan Mejias informiert über die diesjährigen Gewinner des National Book Award. Ein im Netz nicht genannter Autor berichtet von einer Tagung zu Ehren des Pioniers deutsch-jüdischer Geschichtsschreibung Reinhard Rürup. Andreas Kilb schreibt kurz zum Tod des Historikers Gerhard Knoll.

Besprochen werden die Londoner Uraufführung von Alan Bennetts Drama "The Habit of Art", die Ausstellung "Irving Penn, Small Trades" im Getty Museum in Los Angeles, ein Gossip-Konzert in Köln (bei aller Liebe zu Beth Ditto kann Eric Pfeil über die "brüllende Ödnis" der Musik nicht hinweghören), Bettina Oberlis "Tannöd"-Verfilmung, Oren Pelis Lowest-Budget-Horrorfilm "Paranormal Activity" und Bücher, darunter William S. Burroughs' Skandalroman "Naked Lunch" in neuer Übersetzung (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 20.11.2009

Im Feuilleton-Leitartikel fragt sich Andreas Zielcke, wie man die Menschen, wie sie nun mal sind, dazu bekommt, den radikalen Wandel hinzubekommen, den die drohende Klimaveränderung eigentlich fordert. Jens Bisky begutachtet den nun eröffneten Bibliotheksneubau der Berliner Humboldt-Universität, das Jacob-und Wilhelm-Grimm-Zentrum. Martin Thurau hat sich das neue Zentrum Neue Technologien (ZNT; Website) des Deutschen Museums in München angesehen. Reinhard J. Brembeck besucht in Bamberg den jungen Dirigenten Robin Ticciati. Zum Tod der Verpackungskünstlerin Jeanne-Claude schreibt Andrian Kreye.

Besprochen werden Sebastian Hartmanns Leipziger "Kirschgarten"-Inszenierung, ein Konzert von Mayer Hawthorne in München, die Ausstellung "Fremde im Visier - Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg" im Münchener Stadtmuseum, und Bücher, darunter Eberhard Sieberts Bildbiografie des "Heinrich von Kleist" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).