Heute in den Feuilletons

Demokratie ist die Lösung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.11.2009. Nach dem neuen Google Book Settlement werden deutsche Bücher nicht mehr online gestellt. Nun fürchtet die Branche kulturellen Bedeutungsverlust, meldet die Welt. In der FR spricht Shirin Ebadi und im Tagesspiegel Said über die Chancen der iranischen Protestbewegung. Im Perlentaucher ist nachzulesen, warum ein Leistungsschutzrecht den Autoren nichts bringt. FR und FAZ betrachten Botticelli.

Welt, 16.11.2009

Hendrik Werner berichtet Details aus dem neuen Google Book Settlement, das vor allem dazu führt, dass nicht-amerikanische Bücher, an denen noch Rechte bestehen, nun nicht mehr online präsentiert werden: "Nicht gehindert werden kann der Internetkonzern indes an weiteren Scan-Aktivitäten hierzulande im Rahmen seiner legalisierten Abkommen mit einigen Verlagen und Bibliotheken. Sollten solche Titel allerdings widerrechtlich in der Volltextsuche von books.google.de aufgelistet werden, kann dagegen in Deutschland prozessiert werden." Und wer glaubte, das die deutsche Branche nun zufrieden sei, irrt: "Skeptisch auf den neuen Einigungsvorstoß reagierte Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins. Es bestehe die Gefahr, dass Europa, abgesehen von Großbritannien, nunmehr von der Buchdigitalisierung abgeschnitten und kulturell weniger bedeutsam werde." (Mehr hier.)

Weitere Artikel: Lucas Wiegelmann porträtiert den Verschwörungstheoretiker Heribert Illig, der behauptet, dass 300 Jahre des frühen Mittelalters schlicht nicht existiert hätten und eine Propagandalüge Ottos III. seien - womit er den ohnmächtigen Zorn der Zunft anfacht. Sascha Lehnartz kommt mit leicht mokantem Unterton nochmal auf die sarkozy-kritischen Äußerungen der Autorin Marie Ndiayes und die überspannte Reaktion eines gaullistischen Politikers zurück. Heimo Schwilk beharrt - gegen einen FAZ-Artikel des ehemaligen Kempowski-Lektors Karl Heinz Bittel vom Samstag - darauf, dass sehr wohl ein Manuskript für einen echolothaften Tagebuchband über das Jahr 1989 vorliege: "Es gilt nun - auch im Sinne von Walter Kempowski - diesen Schatz rasch und in Gänze ins Licht der Öffentlichkeit zu heben." Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit Produzent Bernd Eichinger und Regisseurin Bettina Oberli über ihre "Tannöd"-Verfilmung. Manuel Brug ist hingerissen vom Bariton Christian Gerhaber, der zur Zeit in Henzes Kleist-Oper "Der Prinz von Homburg" in Wien reüssiert ("Ein blondierter Bariton, der auf einem dunklen Malzkern thront. Der oben leuchtet und in der Tiefe mit schneidender Sonorität aufwartet.") Und Stefan Grund porträtiert den Schauspieler und Comedian Murat Yeginer, dem John von Düffel eine Rolle als Sohn von Heinz Erhardt auf den Leib geschneidert hat.

FR, 16.11.2009

Im Interview mit Harry Nutt spricht die iranische Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi über ihre Menschenrechtsarbeit und erzählt, welche Steine ihr das Regime immer wieder in den Weg legt: "Die Freiheit ist begrenzt. Mein Zentrum zur Verteidigung der Menschenrechte in Teheran, das ich von meinem Nobelpreisgeld aufgebaut hatte, ist nicht nur im vergangenen Dezember geschlossen worden, man hat uns auch der Räumlichkeiten enteignet. Das war ein illegaler Vorgang, und wir haben dagegen geklagt. Bis heute hat sich niemand der Klage angenommen. Alle, die mit uns zusammengearbeitet haben, sind entweder im Gefängnis oder mit einem Ausreiseverbot belegt. Einige sind erst nach Zahlung einer hohen Kaution freigekommen. Was mich betrifft, so hat man mir kürzlich meine Konten sowie meine Schließfächer gesperrt, in denen sich einige private Dinge befinden wie die Nobelpreisurkunde."

Jörg Plath kommentiert den Vergleich, den Google, die amerikanischen Verleger und die Autorengewerkschaft beim zuständigen Gericht in New York vorgelegt haben und bei dem die nicht-englischsprachige Welt außen vor bleibt: "Sollte das Settlement angenommen werden, arbeitet die Zeit für Google. Der Zugang zur Online-Buchsuche lässt sich technisch nicht dauerhaft auf die englischsprachigen Länder beschränken. Europäer stünden zudem vor einer absurden Situation: Anders als Nordamerikaner oder Australier dürften sie Bücher des EU-Mitglieds Großbritannien nicht einsehen. Verschlossen blieben ihnen auch die französischsprachigen Titel Kanadas."

Weiteres: Der Soziologe Berthold Vogel fordert eine Stärkung der Kommunen, damit sich die vielbeschworene Renaissance des Staates nicht nur auf fragfürdige Rettungspakte in Milliardenhöhe beschränkt. In Times mager widmet sich Christian Schlüter den Trauerfeiern für Robert Enke und dem "falschen Spiel mit echten Gefühlen". Auf der Medienseite meldet Urlike Simon, dass Nikolaus Brender erst einmal ein weiteres Jahr ZDF-Chefredakteur bleiben soll. Arno Widman liest C.G. Jungs "Rotes Buch" (mehr in unserer Bücherschau des Tages).

Perlentaucher, 16.11.2009

Ab heute finden die Zeitschriftentage des VDZ statt. Der zweite Tag ist dem Thema Leistungsschutzrecht gewidmet. Angela Merkel eilt herbei, um CDU-Versprechen einzulösen. Den Autoren wird es nichts nützen, schreibt Ilja Braun unter Verweis auf ein Gutachten des Bayerischen Journalistenverbands: "Während Verleger das Internet als Konkurrenz zu ihren Printprodukten fürchten müssten, hätten Autoren ein Interesse daran, dass ihre Texte möglichst umfassend verbreitet werden. Zudem müsse die Einführung eines neuen Schutzrechts für geistiges Eigentum sich durch einen Nutzen für das Allgemeinwohl rechtfertigen lassen. Allein die Tatsache, dass das Verlegen von Printprodukten eine wirtschaftliche Investition bedeute, rechtfertige noch kein weitreichendes Schutzrecht, so die Autoren."

Aus den Blogs, 16.11.2009

Was würde passieren, wenn sämtliche Medien, die die Hamburger Erklärung unterzeichnet haben, Google aussperren würden, fragt Jeff Jarvis in seinem Blog und verweist auf eine Studie der deutschen Beratungsfirma The Reach Group, die die zehn ersten google-Ergebnisse mit und ohne diese Medien untersucht. Schwarz ist ihr Anteil:














Pikant übrigens die Entdeckung des Blogs Carta, dass die Welt bei ihrer Übersetzung der Intervention von Jeff Jarvis auf den Mainzer Medientagen Jarvis' Kritik an der "Hamburger Erklärung" strich.


Martin Weigert kommentiert in Netzwertig Gerüchte, dass Bing mit Inhalteanbietern kooperieren will, die gleichzeitig Google ausschließen: "Im Gegensatz zu Google scheint Microsoft für seine Internet-Strategie jedoch den Fokus nicht vorrangig auf Offenheit und Unabhängigkeit gelegt zu haben, sondern stattdessen auf Kooperationen und Deals mit denjenigen, die sich vom freien Web derzeit ganz ordentlich bedroht fühlen. So jedenfalls muss man Gerüchte rund um eine Allianz zwischen Microsoft und Verlegern deuten, die darauf hinauslaufen würde, dass deren journalistische Inhalte über Bing, jedoch nicht mehr über Google auffindbar wären - womöglich sogar gegen Bezahlung. Microsoft würde sich mit solch einem Schritt die allseits bekannte Unzufriedenheit einiger Medienmogule zu Nutze machen, die sich durch Google ausgenutzt und betrogen fühlen. Käme es zu einem solchen Bündnis, wäre das meiner Ansicht nach ein fatales Zeichen für die Zukunft des Internets."

NZZ, 16.11.2009

Angela Schader unterhält sich mit dem Schriftsteller Alaa al-Aswani über den schweren Stand der ägyptischen Intellektuellen zwischen politischer Unterdrückung, religiösem Druck und sozialer Armut: "Deshalb schreibe ich auch eine wöchentliche Kolumne für eine ägyptische Zeitung, und der letzte Satz lautet immer: 'Demokratie ist die Lösung.' Wir haben eine Unzahl von Problemen in Ägypten, und alle sind sie Symptome einer einzigen Krankheit. Als Mediziner lernt man, dass es nichts nützt, an den Symptomen herumzudoktern, solange man nicht die Krankheit bei der Wurzel packt - und unsere Krankheit ist die Diktatur. Der religiöse Fanatismus, Armut, Gewalttätigkeit, Zensur und Heuchelei - all das sind nur Symptome der Diktatur. Die erste Pflicht von Schriftstellern und Intellektuellen wäre es, das Land von der Diktatur zu befreien."

Weiteres: Patricia Grzonka besichtigt die umgebaute Nationalgalerie in Vilnius und andere neuere Bauten am rechten Neris-Ufer. In einer kurzen Meldung gibt pd. das Programm der Salzburger Festspiele 2010 bekannt. Besprochen wird Hans Werner Henzes Oper "Der Prinz von Homburg" im Wiener Theater an der Wien.

TAZ, 16.11.2009

Nun betrachtet auch Ulf Erdmann Ziegler Botticellis Bildnis der Simonetta Vespucci, die Arno Widmann neulich als sein erstes Pin-Up Girl outete - in der großen Städel-Ausstellung kann man es selbst in Augenschein nehmen: "Sie symbolisiert den ganzen grotesken Zirkus der Medici: die Wiederentdeckung der Minne als Massenspektakel; Prunk als Mittel politischer Legitimation; der Traum der Patenfamilie von sich selbst jenseits von Stand und Geschichte. Gerade jene Kreise, die ihre Frauen den Prinzipien von Territorialgewinn und Kapitalmaximierung unterwarfen, sie Ehemännern zuführten wie Zuchtpferde, zelebrierten einen Liebeskult, dessen Antikensehnsucht Botticelli aufs Originellste bebildert hat. Eine ganze Werbeagentur würde nicht draufkommen."

Weitere Artikel: Die Poplegende Morrissey tritt heute in Berlin auf: Ulrich Rüdenauer liest zwei Bücher, die sich an der Exegese des Barden versuchen. Detlef Kuhlbrodt sucht nach Gründen der allgemeinen Erschütterung über den Tod Robert Enkes. Und Elias Kreuzmair stellt die Internetzeitschrift Electric Literature vor, deren Texte niemals länger sind als 8.000 Zeichen (hier auch die New York Times zum Thema).

Und Tom.

Tagesspiegel, 16.11.2009

Im Gespräch mit Piero Salabe bekennt der iranische, im deutschen Exil lebende Dichter Said seinen Optimismus über die Protestbewegung im Iran: "Diese Bewegung hatte einen starken Verbündeten: die digitalen Kommunikationsmittel. Ich habe täglich Videos bekommen. Einfache Menschen nehmen sie mit ihren Handys auf und stellen sie ins Netz. Das wäre vor zehn Jahren nicht möglich gewesen. Ergreifend war die Szene am Grab von Neda, der jungen Frau, die am Anfang der Proteste auf der Straße erschossen wurde. Das Regime verbot die Trauerfeier. Ein Video zeigt eine alte Frau im Schleier, die an Nedas Grab ein Gebet spricht. Ein Polizist drängt sie. Die alte Frau dreht den Kopf und sagt: 'Nun habt ihr sogar Angst vor den Toten?'"

FAZ, 16.11.2009

Auch Eduard Beaucamp hat nun die große Botticelli-Schau im Frankfurter Städelmuseum besucht. Er sieht nicht nur schöne Frauen, sondern verweist auch auf die Hintergründe der scheinbar so entrückten Kunst des Malers: "Der Katalogbeitrag eines Historikers erinnert eindringlich an die blutigen Rivalitäten in der Stadt, an die Intrigen, Unruhen, Wirren, Aufstände und Verschwörungen, schließlich an die radikalen Aktivitäten des 1498 verbrannten Fundamentalisten und Glaubensreformers Savonarola und die apokalyptische Endzeitstimmung der Jahrhundertwende. Künstlerische Reaktionen Botticellis blieben nicht aus. Die gelassenen und erhabenen religiösen Bilder werden emotional und spirituell aufgeladen. Der Schönheitskult modifiziert und verzerrt sich in seelischen Ekstasen und mystischen Intensitäten. Moderne Affekte betreten die Bildbühne."

Weitere Artikel: Edo Reents fand die Trauerfeier für Robert Enke im Stadion von Hannover schon deshalb angemessen, weil "die Sprachlosigkeit, die in diesen Tagen so oft beschworen wurde, am Sonntagvormittag dort Einzug hielt, wo sie sonst nicht anzutreffen ist". In der Glosse referiert Regina Mönch eine "Berliner Lektion" der iranischen Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, die berichtete, dass nun auch ein "samtener Staatsstreich" im Iran zum Straftatbestand erklärt wurde. Jordan Mejias umreißt ganz kurz (online aber ausführlich) den neuen Google-Books-Vergleichsvorschlag, bei dem Deutschland jetzt ganz außen vor bleibt. Die Geburtstagsglückwünsche der Woche gehen an den Architekten Max Dudler (60), die Schriftstellerin Margaret Atwood (70), den Soziologen Hans-Georg Soeffner (70) und den Mathematiker Benoit Mandelbrot (85)

Besprochen werden Markus Bothes und Nora Khuons Inszenierung eines "Parzival" für Kinder in Frankfurt, eine Aufführung von Adolf Bernhard Marx' Oratorium "Mose" in der Berliner Gethsemanekirche, Bela Tarrs Simenon-Verfilmung "The Man From London" und Bücher, darunter Hans Blumenbergs Überlegungen zu einer "Geistesgeschichte der Technik" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 16.11.2009

Johan Schloemann kritisiert die lässig abwertenden Bemerkungen (mehr dazu hier) des neuen Wirtschaftsministers Rainer Brüderle über die Wirtschaftsweisen. Jörg Häntzschel berichtet ein Jahr nach der Wahl Obamas von linker Enttäuschung und rechtem Hass auf den Präsidenten. "jhl" stellt die neue Version des Google Book Settlement vor, die dazu führt, das nicht amerikanische Bücher nun nicht mehr online verfügbar gemacht werden (womit die einstige Horrorvision Jean-Noel Jeanneneys paradoxerweise wahr geworden ist, mehr hier). Burkhart Müller berichtet, dass die Erfurter Synagoge nach Abtragung mehrerer Schichten DDR-Mief wieder freigelegt und zugänglich ist. Ute Nyssen erinnert an den Theaterautor Paul Pörtner, der vor 25 Jahren starb - sein auch in Deutschland aufgeführtes Kriminalstrück "Scherenschnitt" gilt als eines der erfolgreichsten der Welt. Laura Weißmüller besucht Zaha Hadids "Maxxi"-Museum für zeitgenössische Kunst in Rom (Maxxi ist die Abkürzung für "Museo nazionale delle arti del XXI secolo"). Auch Eva-Elisabeth Fischer wohnte der Eröffnung bei und bespricht eine zu diesem Anlass aufgeführte Tanzperformance von Sasha Waltz und ihren Tänzern. In den Nachrichten aus dem Netz verweist Johannes Boie auf youtube.com/edu, wo man Universitätskurse und -vorlesungen verfolgen kann. Thomas Steinfeld gratuliert dem Soziologen Hans-Georg Soeffner zum Siebzigsten. Und Johan Schloemann würdigt das bayerische Autorenförderungsprogramm Textwerk, das zehntes Jubiläum feiert.

Auf der Medienseite beschreibt Nikolaus Piper über Rupert Murdochs Zeitungskrieg gegen Google.

Besprochen werden Wagners "Rheingold" in der Regie Barrie Koskys in Hannover, neue DVDs und Bücher, darunter der Briefwechsel Paul Celans mit Klaus und Nani Demus (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).