Heute in den Feuilletons

Um einen Punkt erhöht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2009. Der Mauerfall treibt sie alle um. Der Westen sollte nicht vergessen, wie einverstanden er eigentlich mit der Mauer war, meint die NZZ. Die Welt erinnert daran, wie die NZZ den Mauerfall fuhr: einen Schriftgrad größer. Die NZZ bringt außerdem eine Erzählung von Imre Kertesz, der außerdem in der Welt ein Loblied auf Berlin singt. Der Tod der Netzeitung wird bisher nur in einigen Blogs kommentiert: 14 Mitarbeiter müssen gehen.

Welt, 07.11.2009

Die ersten zehn Seiten sind dem 9. November 1989 gewidmet. Roger Köppel erinnert sich, wie die NZZ das Ereignis würdigte: Mit einer einspaltigen Meldung in der Frühausgabe "von höchstens 20 Zeilen Länge". Daraufhin gab es eine Diskussion zwischen dem Sportchef Felix Reidhaar und dem Schlussredakteur Georg Brunold:
"Reidhaar, mit der Abendausgabe herumfuchtelnd: 'Schorsch, die Mauer ist gefallen!'
Brunold, ungerührt: 'Ich weiß.'
Reidhaar: 'Aber du kannst doch diesen epochalen Vorgang nicht als Ciceromeldung auf 20 Zeilen einspaltig auf der Frontseite drucken.'
Brunold: 'Ich habe extra den Schriftgrad um einen Punkt erhöht, um die Bedeutung zu betonen.'"

In der Literarischen Welt spricht Peter Handke im Interview über den Selbstmord seiner Mutter, den er in der Erzählung "Wunschloses Unglück" festgehalten hat. Der Titel, sagt er, stimmt eigentlich nicht. "Meine Mutter hatte bis zum Ende Wünsche. Sie hat sich immer noch einen anderen Mann gewünscht, einen, der 'ein Kavalier' ist. Ich weiß gar nicht, was sie damit gemeint hat. Es ist oft ein Widerspruch zwischen Geschichte und Titel, der nicht Lüge sein muss."

Imre Kertesz singt im Interview ein Loblied auf die Stadt Berlin, in der er heute lebt. Budapest mag er gar nicht mehr: "Ich bin gerade wieder zehn Tage dagewesen. Die Lage hat sich in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich verschlechtert. Rechtsextreme und Antisemiten haben das Sagen. Die alten Laster der Ungarn, ihre Verlogenheit und ihr Hang zum Verdrängen, gedeihen wie eh und je. Ungarn im Krieg, Ungarn und der Faschismus, Ungarn und der Sozialismus: Nichts wird aufgearbeitet, alles wird zugeschminkt mit Schönfärberei."

Weitere Artikel: Fritz J. Raddatz macht einen "kleinen Versuch", die Grazie Hans Magnus Enzensbergers nachzuzeichnen. Jens Reich feiert die Helden des 9. November 1989: nicht Bush, Gorbatschow und Kohl, sondern die unzähligen "Menschen in den mittel- und osteuropäischen Ländern, einschließlich der baltischen Republiken der UdSSR". Hannes Stein erzählt, wie er Philip Roth im New Yorker Restaurant "Russian Samovar" den Welt-Literaturpreis überreichte.

Rainer Haubrich besucht das kleine Privatmuseum in der Villa Schöningen, direkt an der Glienicker Brücke. Besprochen werden die Uraufführung von Juli Zehs Stück "Der Kaktus" in München, der Film "Invisible Frame" mit Tilda Swinton und Bücher, darunter Adam Hasletts Roman über die Finanzkrise, "Union Atlantic".

Netzeitung, 07.11.2009

Die Netzeitung zitiert ganz lapidar die Presseerklärung des Hauses DuMont-Schauberg zu ihrer Einstellung, die zur Kündigung sämtlicher 14 Mitarbeiter führt: "Bestehende vertragliche Verpflichtungen der Internetzeitung werden noch im 1. Quartal 2010 erfüllt. Es wird geplant, zukünftig die Netzeitung als automatisiertes Nachrichtenportal zu nutzen. Die NZ-Teletextaktivitäten sind davon unberührt."

Aus den Blogs, 07.11.2009

Zum Tod der Netzeitung kommentiert Andreas Grieß auf Carta: "Es erinnert an ein trauriges Wettrennen, oder noch eher an das Kinderspiel 'Reise nach Jerusalem': Print- oder Onlinemedien, wer stirbt zuerst?"

Carta bringt auch per Text und Video die Rede von Jeff Jarvis auf den Münchner Medientagen, Gegenstück zu Richard David Prechts mehr kulturkonservativen Asführungen (mehr hier): "There is very simply an entirely new business reality to media: Efforts to protect the old model will not work."

TAZ, 07.11.2009

Auf den Meinungsseiten sinniert Ines Kappert über weibliche Erfolgstypen deutscher Machart und seufzt: "Welcher Typus Frau aber vermag nun endlich die gläserne Decke zu durchstoßen? Welcher Typus gilt den Institutionen als führungsstark und kompromissfähig, als medientauglich? Es ist die Protestantin. Es ist die kluge, fleißige, bescheidene, körperlich zurückgenommene und zähe Kämpferin. Im Falle von Käßmann gar die vom Krebsleiden und der Scheidung gezeichnete Frau. Dieser Typus ist das Gegenstück zu eitlen Lebemännern wie Gerhard Schröder oder Joschka Fischer. Er ist auch das Gegenstück zu offensiv hedonistischen Frauen und Müttern, wie etwa der spanischen Verteidigungsministerin Carme Chacon."

Die sonntaz ist heute randvoll mit Ost-West-Geschichten. Eine Auswahl (hier die Übersicht): Waltraud Schwab beobachtet die Linkspartei als Ost-West-Labor. Geschäftsführer Karl-Heinz Ruch erinnert sich an die Nicht-Erfolgsgeschichte Ost-taz. Fußballtrainer Hans Meyer erklärt im Interview den "Ostfußball". Kurz porträtiert werden sieben "Ost-Exporte", von "Kai Pflaume" bis "Mut zum Abriss". Dirk Knipphals schreibt über sein Unbehagen mit dem Einheitsfeiertag und schlägt vor, ihn als "Tag der Differenz" zu begehen. Der Schriftsteller Jochen Schmidt wird am 9.11 wie noch jedes Jahr seit dem 9.11. 1970 seinen Geburtstag feiern. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne denkt Andreas Fanizadeh über Matthias Platzeck nach. Die kurze Blüte der Ostmedienlandschaft schildert Steffen Grimberg. Andreas Fanizadeh unterhält sich mit dem Berlin-Fotografen Arwed Messmer. Armin Müller spricht mit dem Historiker Wolfang Schuller über sein Buch "Die deutsche Revolution 1989". (Man hätte natürlich auch an den taz-Streit über die Veröffentlichung von Stasi-Listen erinnern können, oder auch daran, dass über die DDR in der taz im Auslandsteil berichtet wurde!)

Besprochen wird Petra Hoffmanns Tagebuch "Von der Montagsdemo zur Demokratie" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 07.11.2009

An diesem Wochenende ist wieder der Soziologe Ulrich Beck dran mit seinem Rundumschlag zur Weltinnenpolitik. Bewundernswert findet er darin etwa das Selbstbewusstsein der französischen "illegalen Migranten": "Was in dem gegen 'Clandestini' verbal Amok laufenden Italien, aber auch in Deutschland und in Ungarn, ja in vielen Ländern weltweit undenkbar wäre, ist in Frankreich keineswegs ungewöhnlich. Hier gibt es durchaus gelegentlich (sogar erfolgreiche) Streiks der undocumented workers mit dem Ziel, ihre Arbeitgeber dazu zu bewegen, ihnen Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen zu verschaffen. Und seit Jahren sind Migranten in französische Kirchen, Regierungsbüros und Universitäten eingedrungen und haben sich in gewaltlosen Sitzstreiks geweigert, diese zu verlassen, bevor sie nicht 'egalisiert' werden."

Weitere Artikel: Die Schriftstellerin Antje Ravic Strubel blickt auf ein Foto aus dem Jahr 1989. Darauf: DDR-Bürgern, die durchs Brandenburger Tor in den Westen strömen. Strubel erklärt, warum es sie traurig macht: "Da rennen sie. Nur einer sieht zurück." Ulrich Kurth gratuliert der Berliner Free Music Production (Website) zum vierzigjährigen Bestehen. In ihrer US-Kolumne weiß Marcia Pally, warum gegen den ersten Anschein die Republikaner eher nicht vor einem Comeback stehen. Judith von Sternburg widmet der "Unterdrückung des Mannes" eine Times Mager.

Besprochen werden die Frankfurter Inszenierung von Patrick Barlows Stück "Der Messias" und eine nur musikalisch geglückte Aufführung von Hector Berlioz' Oper "Trojaner" in Valencia.

NZZ, 07.11.2009

Zu Imre Kertesz' achtzigstem Geburtstag veröffentlicht die NZZ in Literatur und Kunst eine Erzählung des Autors. Hauptfigur ist ein Schriftsteller namens Sonderberg, der über die biblische Figur des Lot nachdenkt: "In seiner Version sei Lot ein namenloser moderner Heimatloser, zermürbt und zerfressen von einer zeitgenössischen Diktatur, sagte Sonderberg. Eine 'displaced person', ein unbehauster Niemand, ein eben freigelassener Lagerbewohner, der wie Tausende andere auf Landstraßen umherzieht, auf der Suche nach Obdach und einem neuen Wohnort."

Außerdem in der Samstagsbeilage: Andreas Breitenstein würdigt Kertesz zu seinem Achtzigsten. Die Kunsthistorikerin Karin Hellwig erinnert an die Reise des Fürsten Ottheinrich von der Pfalz nach Spanien und Portugal in den Jahren 1519 und 20, die von Johann Maria Warschitz in vielen Details festgehalten wurde.

Die Freude über den Mauerfall sollte nicht in Vergessenheit geraten lassen, wie einverstanden im Grunde auch der Westen mit der Mauer war, meint Joachim Güntner im Feuilleton: "Die SED-Strategie einer Konsolidierung durch Abschottung schien aufzugehen, und die Westmächte waren erleichtert, den Konfliktherd Berlin nun ins Korsett geschnürt zu sehen. Das half, den Kalten Krieg kalt bleiben zu lassen. Die USA, Frankreich und England fanden die Lage so übel nicht. Und die Bundesrepublikaner? Auch sie beruhigten ihr Mitgefühl mit den Eingemauerten bald."

Weiteres: Dieter Meier, ehemals Yello, erklärt seinen Stil. Brigitte Kramer besucht das Landgut Raixa auf Mallorca, auf dem Llorens Villalongas Roman "Das Puppenkabinett des Senyor Bearn" spielt. Besprochen wird Mathias Rohes Studie "Das islamische Recht - Geschichte und Gegenwart" (mehr hier).

SZ, 07.11.2009

Andrian Kreye begreift die Romane Nick Hornbys - der jüngste, "Juliet, Naked", ist der Anlass - als Symptome einer auch an Fernsehserien wie "Mad Men" zu erkennenden Verbürgerlichung des Pop, der im Grund nur seine alte Ordnung wiederhaben will: "Es ist kein Zufall, dass 'Juliet, Naked' im Subtext auch ein Manifest gegen das Internet ist, das Hornby als bodenlosen Abgrund beschreibt, der jede menschliche Regung, jeden klugen Gedanken, jede Form von Kreativität im Nichts eines unüberschaubaren Netzwerks aus Halbherzigkeiten verschwinden lässt."

Weitere Artikel: Regisseur Peter Konwitschny erklärt im Interview, das Wolfgang Schreiber anlässlich von Konwitschnys "Salome"-Inszenierung in Amsterdam mit ihm führt: "Mir wird immer klarer, worin Werktreue besteht: in der Bewahrung des Sinnes, nicht des Buchstabens." Niklas Hofmann erzählt die undurchsichtige Geschichte des iranischen "Blogfathers" Hossein Derakhshan, der vom Dissidenten zum Ahmadinedschad-Fan mutierte und nach einem Israel-Besuch trotzdem ohne Anklage in einem iranischen Gefängnis sitzt. In Frankreich werden die Archive geöffnet, in denen Dokumente zur Reaktion der Politik auf die Wiedervereinigung liegen, meldet Johannes Willms. Helmut Mauro kann alle besorgten Fans beruhigen: Nach einer Stimmbandoperation klingt Roberto Villazon "besser denn je". "rub" gratuliert dem Neurologen Eric Kandel zum Achtzigsten.

Die SZ am Wochenende erzählt DDR- und Wendegeschichten. So erinnert sich im Aufmacher Annette Ramelsberger, damals AFP-Korrespondentin in Ost-Berlin, an ihre Erlebnisse in den letzten DDR-Jahren. Christoph Neidhart stellt Wolf-Ekkehart Matthaeus vor, den Mann Mann, der die Berliner S-Bahn-Strecken zusammenführte. Jochen Schmidt schreibt übers Westradiohören. Abgedruckt wird die Erzählung "Hier spielt das wirkliche Leben" des Autors Lutz Seiler. Holger Liebs unterhält sich mit dem Künstler Olaf Nicolai über "Grenzen".

Besprochen werden Bettina Bruiniers Inszenierung von Juli Zehs Polit-Komödie "Kaktus" am Münchner Volkstheater, die Münchner Ausstellung "Die Kunst der Holzkonstruktion" über chinesische Architektur, Thomas Riedelsheimers Krebskinder-Doku "Seelenvögel", der Omnibus-Film "New York, I Love You" und Bücher, darunter Uljana Wolfs Gedichtband "falsche freunde" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 07.11.2009

Martin Walser hat auf einer Zugfahrt nach Dresden lyrisch-patriotische Anwandlungen bekommen, die er für die FAZ aufzeichnet: "Deutschland hat Glück gehabt. Sonst gäb's die Frauenkirche nicht. Ein Haufen Steine war's, schon voller Busch und Baum. Und ist jetzt wieder die Kirchenschönheit schlechthin. Dagegen ist die Semperoper Boulevard." Die FAZ hat den kurzen Text extra groß gedruckt.

Weitere Artikel: Paul Kirchhof nimmt Stellung zum Steuerstreit zwischen Peter Sloterdijk und Axel Honneth: "Ein Staat, der Freiheit im Wirtschaftlichen garantiert, muss sich durch Steuern finanzieren. Dabei kann er nicht auf die freiwillige Zahlung setzen, solange er nicht nur das Scherflein der Witwe empfangen, sondern auch den Geldsack des Geizkragens belasten will." Etwas skeptisch kommentiert Mark Siemons das chinesischen Ansinnen, nun auch noch zu einem Zentrum des modernen Designs zu werden. Jürgen Dollase darf auf FAZ-Kosten bei dem Pariser Dreisternekoch Alain Passard essen, der seinen ambitionierten Gaumen aber nicht befriedigen kann. Jordan Mejias schreibt ein kleines Porträt des Richters Denny Chin, der den weiteren Verfahren um das Google Book Settlement vorsitzen wird (vielleicht bekommt Google ja eine 150-jährige Gefängnisstrafe so wie Bernie Madoff, den Chin verurteilte). Auf der Medienseite empfiehlt Hubert Spiegel ein von Irene Dische verantwortetes Fernsehportät Hans Magnus Enzensbergers auf Arte und ein glatt dreistündiges Gesrpäch, das Peter Voss mit Enzensberger geführt hat, auf 3sat. Besprochen wird ein Konzert der Band Kettcar in Köln.

In Bilder und Zeiten lässt Gerhard Stadelmaier aus Anlass von Schillers 250. Geburtstag die frühen Frauenfiguren des Dichters vor seinem inneren Auge defilieren: "Sie werden erhoben, ohne erhaben, sie leiden, ohne pathetisch zu sein." Hubert Wolf erklärt, was es mit den Martinsumzügen am 11. November auf sich hat. Mark Siemons besucht die chinesische Malerin Zhao YinOu in ihrem Atelier. Auf der Literaturseite werden Nabokovs nachgelassenes Romanfragment "Das Modell für Laura" und Adam Hasletts Roman "Union Atlantic" besprochen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). Für die letzte Seite unterhält sich Thomas David mit der Krimiautorin P.D. James.

Für die Schallplatten-und-Phono-Seite hört sich Christiane Tewinkel ein vom französischen Pianisten Alain Planes rekonstruiertes Chopin-Konzert von 1842 an. Außerdem geht's um Frühwerke Messiaens, Robbie Williams' neue Platte und eine CD der Band Lusine.

Für die Frankfurter Anthologie liest Uwe Wittstock Enzensbergers ganz im Ton charmanter Unverantwortlichkeit gehaltenes spätes Gedicht "Unterlassungssünden"

"Ja, ich habe unentschuldigt gefehlt.
Als die Not am größten war,
bin ich nicht herbeigeeilt.
Verpaßte Liebesnächte,
beim Völkerball eine Katastrophe,
nie richtig schwimmen gelernt. (...)"