Heute in den Feuilletons

Ganz funktionell und auch ein wenig obszön

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.10.2009. Laut FR rät Jeff Jarvis deutschen Medien zu einer chinesischen Selbstkritik. In der Welt macht Alaa al-Aswany das "Regime von Kriechern und Claqueuren" in Ägypten für den katastrophalen Braindrain im Lande verantwortlich. Außerdem lässt sich die Welt von der Tuba fönen. Im Standard konstatiert Daniel Goldhagen: "Die UNO ist mehr ein Ermöglicher von Völkermord als ein Verhinderer." Und in der FAZ schildert Viktor Jerofejew die russische Intelligenzija in der Krise: verwirrt und verloren.

FR, 30.10.2009

Arno Widmann besichtigt euphorisch einen lange ignorierten "Schatz" von Sammlungsobjekten aus der ganzen Welt im Frankfurter Museum der Weltkulturen. In der Ausstellung "Being Object. Being Art" sieht er auch Geschlechterverhältnisse diskutiert, so bei einer Mastgabel aus Melanesien: "Man erkennt einen Frauenunterkörper mit Scham und Klitoris. Die Taue wurden über diese Klitoris geführt. Der Teil der Gabel, der in den Segelbaum eingelassen wurde, hat die Form eines Penis. Sodass das ganze Objekt, wie es jetzt - gewissermaßen auf den Kopf gestellt - in der Ausstellung zu sehen ist, ein Doppelgeschlechtswesen ist, eine Figur, in der Männliches und Weibliches ganz funktionell und auch ein wenig obszön zusammengebracht wurden."

Weiteres: Daland Segler berichtet von Jeff Jarvis' Auftritt bei den Münchner Medientagen, zu der er per Skype zugeschaltet wurde. Neben dem Rat, sich ein Beispiel an Google zu nehmen und mehr in Richtung "Link-Wirtschaft" zu denken, gab er noch weitere Tipps für die deutschen Medienschaffenden: "Auf Thomsens Frage, was die Podiumsteilnehmer denn nun diskutieren sollten, riet Jarvis zu einer 'sehr ehrlichen chinesischen Selbstkritik'." In Times Mager gönnt Harry Nutt Herta Müller ein Privatleben. Peter Michalzik besucht die "schiefe, sehr unregelmäßige" Alte Synagoge in Erfurt, das ansonsten vor allem "ratskellert" und "coffeeshopt". Judith von Sternburg war bei einer schwungvollen Lesung von Mircea Cartarescu im Literaturhaus Frankfurt. Ninette Krüger stellt den neuen ZDF-Kanal für die unter Fünfzigjährigen "Neo" vor. Ulrike Simon meldet den Wechsel von Wolfram Weimer, Chefredakteur und Herausgeber des Cicero, zu Focus.

Besprochen werden ein Konzert des Jazzsaxophonisten Jan Garbarek in der Alten Oper in Frankfurt, das neue Album "Origin:Orphan" der Band Hidden Cameras sowie Max Goldts neues Werk "Buch namens Zimbo" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 30.10.2009

Ulrike Simone trifft Handelsblatt-Chefredakteur Bernd Ziesemer, dessen Zeitung auf Tabloid-Format schrumpft und jetzt 2,10 Euro kostet: "In zwei, drei Jahren, kann ich mir vorstellen, dass wir drei Euro kosten".
Stichwörter: Handelsblatt

Welt, 30.10.2009

Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall wirft Michael Pilz einen Rückblick auf die Popularisierung des Balkan-Pops, die von Berlin und Wien ausging: "Balkan statt Ballermann, das Leben ist eine Bauernhochzeit. Da fühlt sich der durchschnittliche Hedonist wieder als Mensch. Ein fröhlicher Schlawiner, der sich die Frisur gern von der Tuba fönen lässt, der weiß, wo seine Urgroßmutter her kam und wo er zu Hause sein will. Abwirtschaften kann der Westen sich auch ohne ihn."

Hanns-Georg Rodek hat Birgit Schulz' Dokumentarfilm über "Die Anwälte" Schily, Ströbele und Mahler gesehen, die einst Sozii eines Anwaltskollektivs waren, das Terroristen raushaute, bis Mahler selber einer wurde, aber der Film scheint nicht an die drei heranzukommen: "Die meiste Zeit wird man .. den Eindruck nicht los, als habe der Anwalt in Ströbele, Schily und Mahler seinem Mandanten den dringenden Ratschlag gegeben, bloß nicht mehr zu erzählen als das, was sowieso schon bekannt und belegt ist."

Weitere Artikel: Manuel Brug spekuliert über die Zukunft der Salzburger Osterfestspiele und die Rolle der Berliner Philharmoniker darin. Von Brug wird auch ein Interview mit dem frankosizilianischen Tenor Roberto Alagna veröffentlicht, das in einer Biografie des Sängers erscheint. Gernot Facius fragt, was aus der vor zehn Jahren formulierten "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" der katholischen und evangelischen Kirchen wurde. Von der Reporterin Jennifer Wilton wird eine etwas pathetische Hommage auf "den" Journalisten abgedruckt, die einen Journalistenpreis erhielt. Gemeldet wird, dass Cicero-Gründer Wolfram Weimer Chefredakteur des Focus wird.

Auf der Forumsseite geißelt der ägyptische Autor Alaa al-Aswany ("Der Jakubijan-Bau") die allgegenwärtige Korruption in seinem Land, die zu einem katastrophalen Braindrain führt: "Die Maschinerie des ägyptischen Regimes schließt Menschen mit Kompetenz und Talent gewohnheitsmäßig aus und öffnet Kriechern und Claqueuren Tür und Tor."

TAZ, 30.10.2009

In der tazzwei versucht Hermannus Pfeiffer vor dem sechzigsten Geburtstag der FAZ noch einmal, die Kapitalgeber ihrer finanzkräftigen Stiftung zu ergründen. Joachim Lottmann begrüßt den Verteigungsbaron.

Besprochen werden im Kulturteil das neue Album "Embryonic" der Flaming Lips (das laut Ulrich Rüdenauer jede Menge "luxuriös verschleuderte Geistesblitze" aufzuweisen hat), die CD "The Angst and the Money" der Wiener Diskursrockband Ja, Panik und ein Sammelband "Krise der SPD".

Und Tom.

NZZ, 30.10.2009

Brigite Kramer berichtet aus Spanien über die heftig diskutierte Hebung des Grabs von Federico Garcia Lorca. Thomas Maissen schreibt zum Tod des Schweizer Wirtschaftshistorikers und Präsidenten der Unabhängigen Expertenkommission zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Jean-Francois Bergier.

Besprochen werden eine Gehry-Schau in Mailand, eine Ausstellung der Schweizer Künstlerin Silvie Defraoui im Centre culturel suisse de Paris und auf der Plattenseite das Album "Este Mundo" von Rupa & the April Fishes (vor deren Sängerin Rupa Marya Knut Henkel auf die Knie geht) sowie der Michael-Jackson-Film "This Is It".

Standard, 30.10.2009

Im Interview mit Eric Frey im Standard erklärt Daniel Goldhagen, warum er eine Intervention demokratischer Staaten gegen genozidale Regimes immer noch für gerechtfertigt hält: "Was wir ändern können, ist, die Kosten-Nutzen-Rechnung von potenziellen Völkermördern zu verändern. Diese Leute sind nicht verrückt, sonst wären sie nicht dort, wo sie sind, sondern sie kalkulieren kühl. Sie müssen wissen, dass sich eine eliminatorische Politik nicht auszahlt, dass sie einen hohen Preis bezahlen werden." Kritik äußert Goldhagen an der UNO: "Die Uno ist mehr ein Ermöglicher von Völkermord als ein Verhinderer."
Stichwörter: Goldhagen, Daniel, Standard, UNO

Aus den Blogs, 30.10.2009

Netzpolitik bringt Neues über das klaffende Datenleck bei libri.de: "Das Datenleck bei Libri.de war größer als gestern berichtet. Wir hatten gestern Zugang zu vielen der über 1000 Shops, die im Libri.de-Marktplatz existieren. Darin fanden sich sämtliche digitalen Daten der jeweiligen Online-Vertriebs-Geschichte!"
Stichwörter: Netzpolitik

SZ, 30.10.2009

Andreas Zielcke stellt den Fall Polanski in eine historische Perspektive und erinnert daran, dass es in früheren Zeiten sehr wohl etwas wie Rechtsprivilegien für große Künstler gegeben hat. (Im Fall Polanski selbst hat er massive Zweifel an den Maßstäben des US-Rechts.) Johannes Willms berichtet aus Frankreich, wo gerade über den Sinn oder Unsinn einer nationalen Identitätsdebatte diskutiert wird. Jörg Häntzschel war dabei, als in New York die großen Geister Judith Butler, Charles Taylor und Jürgen Habermas über "Säkularkonzepte" sprachen. Vom Leipziger Dokumentarfilmfestival berichtet Martina Knoben. Sehr freut sich Johan Schloemann über den Ankauf zweier "prächtiger Dokumente aus der Familiengeschichte der Fugger" durch die Bayerische Staatsbibliothek. Thomas Speckmann liest einen Aufsatz über europäische Schwierigkeiten beim Staatenbauen. Auf der Medienseite kommentiert Hans-Jürgen Jacobs die Übergabe der Focus-Chefredaktion an den bisherigen Cicero-Chef Wolfram Weimer.

Besprochen werden die Nan-Goldin-Ausstellung "Poste restante" bei c/o Berlin, Maurizio Pollinis CD-Einspielung des 1. Bandes des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach ("eine der beeindruckendsten Klavierplatten überhaupt", schwärmt Reinhard J. Brembeck), Sung-Hyung Chos Dokumentarfilm "Endstation der Sehnsüchte" (mehr) und Bücher, darunter die nunmehr auf Deutsch erschienene Korrespondenz zwischen Michel Houellebecq und Bernard-Henri Levy und Gerhard Roths Wien-Studien "Die Stadt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 30.10.2009

Der Schriftsteller Viktor Jerofejew erklärt, warum der Kapitalismus in Russland nie wirklich ankommen wird. Und warum deshalb auch die Reaktionen auf die Finanzkrise nicht wirklich angemessen sind. Und wer schon gar nicht hilft, das ist die russische Intelligenzija: "Kehren wir zurück zur russischen Intelligenzija. Zwischen Sozialismus und Kapitalismus bewahrt sie eine distanzierte Neutralität, aber ihre Meinung interessiert ohnehin kaum jemanden; sie ist verloren und verwirrt, sie spürt ihre historische Rolle nicht. Außerdem hat die gesamte aufgeklärte russische Gesellschaft - besagte Intelligenzija, die Mittelschicht, Studenten, ein Teil der reichen Unternehmer - mit Einsetzen der Krise begonnen, über die ewigen Fragen des Seins nachzudenken."

Weitere Artikel: Marcus Jauer berichtet, dass im ehemaligen Stasi-Knast in Hohenschönhausen nun unterm Deckmantel der Kunst Stasi-Knast nachgespielt wird: "Das Projekt besteht darin, dass sich ein ehemaliger Häftling eine Woche lang in eine Zelle einsperren lassen und dabei rund um die Uhr von einer Kamera beobachten lassen will. Das Ganze wird ins Internet übertragen." Angela Merkel wird am 11. November in Paris zu den Feiern des "Waffenstillstandstags" - somit Feiern zum Ende des Ersten Weltkriegs - anreisen: Gar nichts hält Lorenz Jäger von dieser "erinnerungspolitischen Gymnastik", bei der Deutschland sich "als der Besiegte den Siegern" zugesellt. In der Glosse geht es themenverwandt auch um Angela Merkel in Paris - nämlich die Art, wie ihr beim Blitzbesuch dort die Geschenke in aller Öffentlichkeit übergeben wurden. Joseph Croitoru erinnert daran, dass die Meteorologie mitten im Kalten Krieg schon global und blockübergreifend forschte. Enrico Santifaller erfreut sich am Neubau des Frankfurter Ordnungsamts. Auf der Medienseite erläutert Werner Hahn, Justitiar des NDR, warum seiner privaten Auffassung nach der Staatsvertrag des ZDF mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist.

Besprochen werden die Pariser Ausstellung "Asterix au Musee de Cluny" (in der Andreas Platthaus einen Beweis findet, dass die Römer eigentliche die Deutschen sind), die Ausstellung "Dichter am Apparat" im Zürcher Museum Strauhof, der Michael-Jackson-Film "This Is It" und Bücher, darunter Imke Elliesen-Kliefoths Band mit Künstler-Gesprächen "Bergauf beschleunigen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).